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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Einmal zwischen denjenigen weiblichen Naturen, die der Dichterin als Ideale
vorschweben: bildlich ausgedrückt, der rochen und der weißen Rose, wie es der
Titel andeutet; Schauspielerin und Nonne, das freie, autonome Weib und die
leidende Sensitive" Rosa ist die Tochter einer unsittlichen Person, welche sie noch
als halbes Kind verkauft. Die Scene, in welcher sie über den Charakter ihrer
Mutter ins Klare kommt, grenzt zwar ans scheußliche, ist aber doch von einer
tiefen psychologischen Wahrheit. Sie macht sich frei, und wird in die sogenannte
tugendhafte Welt aufgenommen, deren innere Hohlheit und Heuchelei sie bald
durchschaut und verlacht. Man giebt sie zur Erziehung in ein Kloster; in der
dumpfen Eintönigkeit dieses Lebens würde sie bei ihrer regen Natur untergehen;
sie entflieht, und erkennt in der Anschauung einer großen Künstlerin ihren wahren
Beruf. Sie ist bald die gefeierte Sängerin, und bleibt mitten im Rausch eines
freien Lebens, was sie auch im Kloster war: die klare, verständige und dabei
doch leidenschaftlich-entschlossene Natur, die sich ihr Schicksal selbst bereitet. In
ihrer ersten Liebe, die einen Unwürdigen getroffen hat, getäuscht, geht sie aus
freier Wahl ins Kloster zurück, nicht um sich in mystischen Grübeleien zu verzehren,
sondern um auch dort verständig zu wirken. -- Die Aufeinanderfolge dieser Ent¬
wickelung geschieht in Sprüngen und ist skizzenhaft gehalten; doch verliert man
nie den leitenden Gedanken aus dem Ange, wie bei der Faustine, in welcher die
Gräfin Hahn ein ganz ähnliches Problem zu lösen versucht hat. Es ist hier
Alles Willkür und Caprice. - Als Contrast ist in Manche das unfreie, überall
den Ereignissen unterliegende Weib in allen möglichen Formen variirt. In ihrer
ersten Jugend ist sie blödsinnig; ihre Schönheit verlockt eiuen jungen Mann zu
einem Verbrechen, das ihr später, als durch ein gewaltiges Ereigniß in ihr Leben
der Lichtstrahl des Geistes gefallen ist, mit gespenstischen Schrecken entgegentritt.
Die Schilderung dieses Verbrechens gehört in den verwilderten Geschmack der
damaligen Zeit, die sich an Hoffmann'sehen Teufelsspuk und an Victor Hugo'schen
Ungeheuern erbaute. Durch diesen düstern Schatten ihrer Vergangenheit breitet
sich über die Gestalt Blanche's überhaupt etwas Unheimliches. -- Mit Rose im
Kloster, empfindet sie nicht die Langeweile, sondern nur die Angst der Einsamkeit;
religiöse Scrupel und unausgesetzte gegeustandlose Selbstanklagen quälen ihre
Seele; als sich später gar die Convenienz an ihrem Leben, welches gar nicht
darauf eingerichtet ist, geltend machen will, weiß sie sich so wenig darein zu fin¬
den, daß sie stirbt. -- Der Contrast ist gut erfunden und künstlerisch genug in
einzelne Gruppen vertheilt. Die "tugendhafte und gebildete" Welt kommt nicht
besonders gut weg; die vorzüglichste Repräsentantin derselben, Fräulein von Ca-
zales, steht trotz ihrer mit Weltklugheit zersetzten Heiligkeit tief unter der laster¬
haften Primerose, Roseus Mutter, die in der wilden Anhänglichkeit an ihre
Tochter wenigstens eine Spur von jenem natürlichen Gefühl bewahrt hat, welches
in den Berechnungen der gebildeten Welt, auch der heiligen, vollkommen untergeht.


Einmal zwischen denjenigen weiblichen Naturen, die der Dichterin als Ideale
vorschweben: bildlich ausgedrückt, der rochen und der weißen Rose, wie es der
Titel andeutet; Schauspielerin und Nonne, das freie, autonome Weib und die
leidende Sensitive» Rosa ist die Tochter einer unsittlichen Person, welche sie noch
als halbes Kind verkauft. Die Scene, in welcher sie über den Charakter ihrer
Mutter ins Klare kommt, grenzt zwar ans scheußliche, ist aber doch von einer
tiefen psychologischen Wahrheit. Sie macht sich frei, und wird in die sogenannte
tugendhafte Welt aufgenommen, deren innere Hohlheit und Heuchelei sie bald
durchschaut und verlacht. Man giebt sie zur Erziehung in ein Kloster; in der
dumpfen Eintönigkeit dieses Lebens würde sie bei ihrer regen Natur untergehen;
sie entflieht, und erkennt in der Anschauung einer großen Künstlerin ihren wahren
Beruf. Sie ist bald die gefeierte Sängerin, und bleibt mitten im Rausch eines
freien Lebens, was sie auch im Kloster war: die klare, verständige und dabei
doch leidenschaftlich-entschlossene Natur, die sich ihr Schicksal selbst bereitet. In
ihrer ersten Liebe, die einen Unwürdigen getroffen hat, getäuscht, geht sie aus
freier Wahl ins Kloster zurück, nicht um sich in mystischen Grübeleien zu verzehren,
sondern um auch dort verständig zu wirken. — Die Aufeinanderfolge dieser Ent¬
wickelung geschieht in Sprüngen und ist skizzenhaft gehalten; doch verliert man
nie den leitenden Gedanken aus dem Ange, wie bei der Faustine, in welcher die
Gräfin Hahn ein ganz ähnliches Problem zu lösen versucht hat. Es ist hier
Alles Willkür und Caprice. - Als Contrast ist in Manche das unfreie, überall
den Ereignissen unterliegende Weib in allen möglichen Formen variirt. In ihrer
ersten Jugend ist sie blödsinnig; ihre Schönheit verlockt eiuen jungen Mann zu
einem Verbrechen, das ihr später, als durch ein gewaltiges Ereigniß in ihr Leben
der Lichtstrahl des Geistes gefallen ist, mit gespenstischen Schrecken entgegentritt.
Die Schilderung dieses Verbrechens gehört in den verwilderten Geschmack der
damaligen Zeit, die sich an Hoffmann'sehen Teufelsspuk und an Victor Hugo'schen
Ungeheuern erbaute. Durch diesen düstern Schatten ihrer Vergangenheit breitet
sich über die Gestalt Blanche's überhaupt etwas Unheimliches. — Mit Rose im
Kloster, empfindet sie nicht die Langeweile, sondern nur die Angst der Einsamkeit;
religiöse Scrupel und unausgesetzte gegeustandlose Selbstanklagen quälen ihre
Seele; als sich später gar die Convenienz an ihrem Leben, welches gar nicht
darauf eingerichtet ist, geltend machen will, weiß sie sich so wenig darein zu fin¬
den, daß sie stirbt. — Der Contrast ist gut erfunden und künstlerisch genug in
einzelne Gruppen vertheilt. Die „tugendhafte und gebildete" Welt kommt nicht
besonders gut weg; die vorzüglichste Repräsentantin derselben, Fräulein von Ca-
zales, steht trotz ihrer mit Weltklugheit zersetzten Heiligkeit tief unter der laster¬
haften Primerose, Roseus Mutter, die in der wilden Anhänglichkeit an ihre
Tochter wenigstens eine Spur von jenem natürlichen Gefühl bewahrt hat, welches
in den Berechnungen der gebildeten Welt, auch der heiligen, vollkommen untergeht.


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[0336] Einmal zwischen denjenigen weiblichen Naturen, die der Dichterin als Ideale vorschweben: bildlich ausgedrückt, der rochen und der weißen Rose, wie es der Titel andeutet; Schauspielerin und Nonne, das freie, autonome Weib und die leidende Sensitive» Rosa ist die Tochter einer unsittlichen Person, welche sie noch als halbes Kind verkauft. Die Scene, in welcher sie über den Charakter ihrer Mutter ins Klare kommt, grenzt zwar ans scheußliche, ist aber doch von einer tiefen psychologischen Wahrheit. Sie macht sich frei, und wird in die sogenannte tugendhafte Welt aufgenommen, deren innere Hohlheit und Heuchelei sie bald durchschaut und verlacht. Man giebt sie zur Erziehung in ein Kloster; in der dumpfen Eintönigkeit dieses Lebens würde sie bei ihrer regen Natur untergehen; sie entflieht, und erkennt in der Anschauung einer großen Künstlerin ihren wahren Beruf. Sie ist bald die gefeierte Sängerin, und bleibt mitten im Rausch eines freien Lebens, was sie auch im Kloster war: die klare, verständige und dabei doch leidenschaftlich-entschlossene Natur, die sich ihr Schicksal selbst bereitet. In ihrer ersten Liebe, die einen Unwürdigen getroffen hat, getäuscht, geht sie aus freier Wahl ins Kloster zurück, nicht um sich in mystischen Grübeleien zu verzehren, sondern um auch dort verständig zu wirken. — Die Aufeinanderfolge dieser Ent¬ wickelung geschieht in Sprüngen und ist skizzenhaft gehalten; doch verliert man nie den leitenden Gedanken aus dem Ange, wie bei der Faustine, in welcher die Gräfin Hahn ein ganz ähnliches Problem zu lösen versucht hat. Es ist hier Alles Willkür und Caprice. - Als Contrast ist in Manche das unfreie, überall den Ereignissen unterliegende Weib in allen möglichen Formen variirt. In ihrer ersten Jugend ist sie blödsinnig; ihre Schönheit verlockt eiuen jungen Mann zu einem Verbrechen, das ihr später, als durch ein gewaltiges Ereigniß in ihr Leben der Lichtstrahl des Geistes gefallen ist, mit gespenstischen Schrecken entgegentritt. Die Schilderung dieses Verbrechens gehört in den verwilderten Geschmack der damaligen Zeit, die sich an Hoffmann'sehen Teufelsspuk und an Victor Hugo'schen Ungeheuern erbaute. Durch diesen düstern Schatten ihrer Vergangenheit breitet sich über die Gestalt Blanche's überhaupt etwas Unheimliches. — Mit Rose im Kloster, empfindet sie nicht die Langeweile, sondern nur die Angst der Einsamkeit; religiöse Scrupel und unausgesetzte gegeustandlose Selbstanklagen quälen ihre Seele; als sich später gar die Convenienz an ihrem Leben, welches gar nicht darauf eingerichtet ist, geltend machen will, weiß sie sich so wenig darein zu fin¬ den, daß sie stirbt. — Der Contrast ist gut erfunden und künstlerisch genug in einzelne Gruppen vertheilt. Die „tugendhafte und gebildete" Welt kommt nicht besonders gut weg; die vorzüglichste Repräsentantin derselben, Fräulein von Ca- zales, steht trotz ihrer mit Weltklugheit zersetzten Heiligkeit tief unter der laster¬ haften Primerose, Roseus Mutter, die in der wilden Anhänglichkeit an ihre Tochter wenigstens eine Spur von jenem natürlichen Gefühl bewahrt hat, welches in den Berechnungen der gebildeten Welt, auch der heiligen, vollkommen untergeht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/336>, abgerufen am 28.06.2024.