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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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auch nicht in der Corinna (1807), aber das Herz spricht doch schon in vollerem
Ton, die Einbildungskraft hat einen freieren Spielraum. Noch lebhafter regt
sich das Gefühl in der Valvrie (1804) der Fran von Krüdener. Georges
Sand beginnt, wie sie, mit der Casuisrik des Gefühls; die Menschen, die sie
zuerst schildert, sind nnr der Empfindung wegen da, wie die Producte unserer
romantischen Schule, und die Empfindung wird beständig dnrch eine kalte, zu¬
weilen geradezu verschrobene Reflexion verwirrt. Man erinnert sich an Monstro¬
sitäten, wie die I,.in,i8()ii8 clang'öl-euseL (1789), und der Unterschied von den
gleichzeitigen sentimentalen Schriftstellern (Sonliv, Balzac ze.) besteht nur in der
größeren Intensivität des Gefühls und einem reineren poetischen Instinct. Nun
wirft sich der SkeptismnS von der Betrachtung des menschlichen Herzens ans den
Glauben und die Sitten; es kommt die Zeit Heine's und des Socialismus, die
Idee der Reform leitet sich von der öffentlichen Frage in die individuellen Probleme
der Gesellschaft. In der krankhaften Ueberschätzung der Stimmungen des Herzens
glaubt man sich in einer, verkehrten Welt; man löst die Räthsel des Lebens
mit träumerischer Mystik, mit Visionen. Alle diese Verirrungen hat Georges
Sand' durchgemacht, aber ihre große poetische Kraft hat sich Bahn gebrochen;
immer mehr individuelles, natürliches, bestimmtes Leben hat sich in das Gerüst
ihrer Tendenzen eingeführt; zuletzt gehen diese nur nebenher. Die ideale Welt
giebt sich nicht mehr in titanischen Ringen, sondern in der Stille eines ans realen
Verhältnissen beruhenden Idylls zu erkennen. Es ist vielleicht kein Unglück, daß
diese Resignation dnrch den Sturm der Febrnartage unterbrochen wurde; eine
große Seele überwindet die Krankheit nur, indem sie dieselbe in ihrer vollen
Gewalt in sich aufnimmt. Georges Sand wird in dieser Zeit viele Illusionen
durchschaut haben.

Die Romane, welche die erste Periode charakterisiren (1832--34), sind:
Jndiane, Valentine, Lelia, der Geheimsecretär, Jacques, Leone
Leoni. Die Erzählung, welche denselben voranging: Rose und Blanche,
ist noch uicht bezeichnend für G. Saud's dichterische Eigenthümlichkeit, weil wir
uicht unterscheiden können, was davon ihr, und was ihrem Freunde Jules Sau-
deciu angehört. -- Ich habe überhaupt keine rechte Vorstellung davon, wie es die
Franzosen mit ihrer gemeinschaftlichen Verfertigung dichterischer Producte eigentlich
halten. Doch finden sich schon hier so viel Analogieen zu den später entwickelten
Ansichten G. Sand's, daß ich dieses Erstlingswerk nicht umgeben darf. Es ist
in diesem Buche eine große Willkür, aber doch in den einzelnen Schilderungen
eine Frische und Lebendigkeit, wie wir sie wenigstens in ihren nächsten Romanen
nicht in dem Grade vorfinden. Die Nebenfiguren, die in den eigentlichen'Ten¬
denzromanen zurücktreten, sind mit der genialen Sicherheit hingeworfen, welche
schon die Dichterin der Consnelo ahnen läßt. Der Hauptvorwurf des Gemäldes
ist ein doppelter Gegensatz, der auch später häufig wiederkehrt.


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auch nicht in der Corinna (1807), aber das Herz spricht doch schon in vollerem
Ton, die Einbildungskraft hat einen freieren Spielraum. Noch lebhafter regt
sich das Gefühl in der Valvrie (1804) der Fran von Krüdener. Georges
Sand beginnt, wie sie, mit der Casuisrik des Gefühls; die Menschen, die sie
zuerst schildert, sind nnr der Empfindung wegen da, wie die Producte unserer
romantischen Schule, und die Empfindung wird beständig dnrch eine kalte, zu¬
weilen geradezu verschrobene Reflexion verwirrt. Man erinnert sich an Monstro¬
sitäten, wie die I,.in,i8()ii8 clang'öl-euseL (1789), und der Unterschied von den
gleichzeitigen sentimentalen Schriftstellern (Sonliv, Balzac ze.) besteht nur in der
größeren Intensivität des Gefühls und einem reineren poetischen Instinct. Nun
wirft sich der SkeptismnS von der Betrachtung des menschlichen Herzens ans den
Glauben und die Sitten; es kommt die Zeit Heine's und des Socialismus, die
Idee der Reform leitet sich von der öffentlichen Frage in die individuellen Probleme
der Gesellschaft. In der krankhaften Ueberschätzung der Stimmungen des Herzens
glaubt man sich in einer, verkehrten Welt; man löst die Räthsel des Lebens
mit träumerischer Mystik, mit Visionen. Alle diese Verirrungen hat Georges
Sand' durchgemacht, aber ihre große poetische Kraft hat sich Bahn gebrochen;
immer mehr individuelles, natürliches, bestimmtes Leben hat sich in das Gerüst
ihrer Tendenzen eingeführt; zuletzt gehen diese nur nebenher. Die ideale Welt
giebt sich nicht mehr in titanischen Ringen, sondern in der Stille eines ans realen
Verhältnissen beruhenden Idylls zu erkennen. Es ist vielleicht kein Unglück, daß
diese Resignation dnrch den Sturm der Febrnartage unterbrochen wurde; eine
große Seele überwindet die Krankheit nur, indem sie dieselbe in ihrer vollen
Gewalt in sich aufnimmt. Georges Sand wird in dieser Zeit viele Illusionen
durchschaut haben.

Die Romane, welche die erste Periode charakterisiren (1832—34), sind:
Jndiane, Valentine, Lelia, der Geheimsecretär, Jacques, Leone
Leoni. Die Erzählung, welche denselben voranging: Rose und Blanche,
ist noch uicht bezeichnend für G. Saud's dichterische Eigenthümlichkeit, weil wir
uicht unterscheiden können, was davon ihr, und was ihrem Freunde Jules Sau-
deciu angehört. — Ich habe überhaupt keine rechte Vorstellung davon, wie es die
Franzosen mit ihrer gemeinschaftlichen Verfertigung dichterischer Producte eigentlich
halten. Doch finden sich schon hier so viel Analogieen zu den später entwickelten
Ansichten G. Sand's, daß ich dieses Erstlingswerk nicht umgeben darf. Es ist
in diesem Buche eine große Willkür, aber doch in den einzelnen Schilderungen
eine Frische und Lebendigkeit, wie wir sie wenigstens in ihren nächsten Romanen
nicht in dem Grade vorfinden. Die Nebenfiguren, die in den eigentlichen'Ten¬
denzromanen zurücktreten, sind mit der genialen Sicherheit hingeworfen, welche
schon die Dichterin der Consnelo ahnen läßt. Der Hauptvorwurf des Gemäldes
ist ein doppelter Gegensatz, der auch später häufig wiederkehrt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/335>, abgerufen am 04.07.2024.