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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Wohlgefallen an dein nnansfüllbaren Contrast zwischen einem rafftnirten, über alle
Grenzen der Natur hinausschweifenden Empfinden und Denken, und einer ver¬
meintlichen Natur, wo von Empfinden und Denken noch keine Rede sein soll.
Die naive Poesie (Idyll u. s. w.) ist als Reaction ein Product der Sentimentali-
tät; der Dichter, welcher in der Neuen Heloise und den Bekenntnissen mit der
Virtuosität eiues Anatomen und mit der Aengstlichkeit eines Pedanten die Empfin¬
dung bis in das kleinste Nervengcflecht zerlegt; der den Contrast zwischen Tugend
und Natur bis in die alltäglichste Handlung des Lebens verfolgt, wird als sein
eignes Gegenbild den zu schaffenden Urmenschen, den Emile erdenken, und ihm als
Hauptlectüre den Robinson empfehlen; Werther, der phantastische Idealist, wird
am liebsten mit Kindern verkehren und dnrch die sehr naive Beschäftigung des
Bntterbrodstreichenö gerührt werden; Faust, der Uebermensch, wird mit dem guten
Gretchen tändeln.

Ich sagte: die naive Poesie ist ein Product der Sentimentalität. Aber sie
ist auch ein Fortschritt dagegen. Die Empfindung der Sentimentalität ist eben so
krankhaft, als das Denken des subjectiven Idealismus verschroben. In der
Empfindung des unauflöslichen Widerspruchs zu schwelgen, taugt ebensowenig, als
das angebliche Recht des Bedürfnisses dnrch erträumte Vorstellungen zu befriedigen.
Für die Kunst ist sie vollends verderblich. Jene ekelhafte Coquetterie der Poeten,
die leider noch immer stark genng ist, nach den seltsamsten Empfindungen und
Bildern zu jagen, in Tagebüchern und Correspondenzen intime Einfälle aufzuspei¬
chern, die dem Uneingeweihten darum vollkommen unverständlich sein müssen, weil
er die specielle Beziehung nicht kennt, sührt zu einer Form- und Maßlosig¬
keit, zu einem fragmentarischen Empfinden, Denken und Gestalten, die alle Kunst
aufhebt, weil vou Kunst nur da die Rede ist, wo allgemeine, jedem Menschen,
dem Griechen wie dem Gothen, zugängliche und verständliche Ideen die ihnen
angemessene harmonische Form finden. Ein Kreis schöner Seelen, die einander
anschwärmen, ohne sich zu verstehen, ist keine gute Gesellschaft; und eine Poesie,
die Himmel und Erde umspannen will, und darum Keinem von Beiden gerecht
wird, von sehr fraglichen Werth.

Diese falsche Unendlichkeit, dieses voreilige Streben, mit seinen Ge¬
danken Alles zugleich zu umfassen, ist eine wesentliche Folge der Sentimentalität;
die "harmonische Weltanschauung" eine Ergänzung des Weltschmerzes. Das Eine
ist so eitel wie das Andere. Was hat den Deutschen das Pantheon genutzt,
das ihm seine Künstler aus aller Herren Ländern erobert haben! Ans dem
Tempel ist ein Naritätenladen geworden, das Uebermaß an griechischen, christ¬
lichen, nordischen, indischen Heiligenbildern hat den wahren Gott erdrückt. Wir
sind in den Edda, im Homer, in den Veda's, in der Bibel zu Hause, aber nicht
bei uus; wir haben von Gutzkow gelernt, uns in die Empfindung eines Dalai-
lama zu versetzen, wir wissen, wie es der Judith zu Muthe gewesen ist, als sie


Wohlgefallen an dein nnansfüllbaren Contrast zwischen einem rafftnirten, über alle
Grenzen der Natur hinausschweifenden Empfinden und Denken, und einer ver¬
meintlichen Natur, wo von Empfinden und Denken noch keine Rede sein soll.
Die naive Poesie (Idyll u. s. w.) ist als Reaction ein Product der Sentimentali-
tät; der Dichter, welcher in der Neuen Heloise und den Bekenntnissen mit der
Virtuosität eiues Anatomen und mit der Aengstlichkeit eines Pedanten die Empfin¬
dung bis in das kleinste Nervengcflecht zerlegt; der den Contrast zwischen Tugend
und Natur bis in die alltäglichste Handlung des Lebens verfolgt, wird als sein
eignes Gegenbild den zu schaffenden Urmenschen, den Emile erdenken, und ihm als
Hauptlectüre den Robinson empfehlen; Werther, der phantastische Idealist, wird
am liebsten mit Kindern verkehren und dnrch die sehr naive Beschäftigung des
Bntterbrodstreichenö gerührt werden; Faust, der Uebermensch, wird mit dem guten
Gretchen tändeln.

Ich sagte: die naive Poesie ist ein Product der Sentimentalität. Aber sie
ist auch ein Fortschritt dagegen. Die Empfindung der Sentimentalität ist eben so
krankhaft, als das Denken des subjectiven Idealismus verschroben. In der
Empfindung des unauflöslichen Widerspruchs zu schwelgen, taugt ebensowenig, als
das angebliche Recht des Bedürfnisses dnrch erträumte Vorstellungen zu befriedigen.
Für die Kunst ist sie vollends verderblich. Jene ekelhafte Coquetterie der Poeten,
die leider noch immer stark genng ist, nach den seltsamsten Empfindungen und
Bildern zu jagen, in Tagebüchern und Correspondenzen intime Einfälle aufzuspei¬
chern, die dem Uneingeweihten darum vollkommen unverständlich sein müssen, weil
er die specielle Beziehung nicht kennt, sührt zu einer Form- und Maßlosig¬
keit, zu einem fragmentarischen Empfinden, Denken und Gestalten, die alle Kunst
aufhebt, weil vou Kunst nur da die Rede ist, wo allgemeine, jedem Menschen,
dem Griechen wie dem Gothen, zugängliche und verständliche Ideen die ihnen
angemessene harmonische Form finden. Ein Kreis schöner Seelen, die einander
anschwärmen, ohne sich zu verstehen, ist keine gute Gesellschaft; und eine Poesie,
die Himmel und Erde umspannen will, und darum Keinem von Beiden gerecht
wird, von sehr fraglichen Werth.

Diese falsche Unendlichkeit, dieses voreilige Streben, mit seinen Ge¬
danken Alles zugleich zu umfassen, ist eine wesentliche Folge der Sentimentalität;
die „harmonische Weltanschauung" eine Ergänzung des Weltschmerzes. Das Eine
ist so eitel wie das Andere. Was hat den Deutschen das Pantheon genutzt,
das ihm seine Künstler aus aller Herren Ländern erobert haben! Ans dem
Tempel ist ein Naritätenladen geworden, das Uebermaß an griechischen, christ¬
lichen, nordischen, indischen Heiligenbildern hat den wahren Gott erdrückt. Wir
sind in den Edda, im Homer, in den Veda's, in der Bibel zu Hause, aber nicht
bei uus; wir haben von Gutzkow gelernt, uns in die Empfindung eines Dalai-
lama zu versetzen, wir wissen, wie es der Judith zu Muthe gewesen ist, als sie


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[0033] Wohlgefallen an dein nnansfüllbaren Contrast zwischen einem rafftnirten, über alle Grenzen der Natur hinausschweifenden Empfinden und Denken, und einer ver¬ meintlichen Natur, wo von Empfinden und Denken noch keine Rede sein soll. Die naive Poesie (Idyll u. s. w.) ist als Reaction ein Product der Sentimentali- tät; der Dichter, welcher in der Neuen Heloise und den Bekenntnissen mit der Virtuosität eiues Anatomen und mit der Aengstlichkeit eines Pedanten die Empfin¬ dung bis in das kleinste Nervengcflecht zerlegt; der den Contrast zwischen Tugend und Natur bis in die alltäglichste Handlung des Lebens verfolgt, wird als sein eignes Gegenbild den zu schaffenden Urmenschen, den Emile erdenken, und ihm als Hauptlectüre den Robinson empfehlen; Werther, der phantastische Idealist, wird am liebsten mit Kindern verkehren und dnrch die sehr naive Beschäftigung des Bntterbrodstreichenö gerührt werden; Faust, der Uebermensch, wird mit dem guten Gretchen tändeln. Ich sagte: die naive Poesie ist ein Product der Sentimentalität. Aber sie ist auch ein Fortschritt dagegen. Die Empfindung der Sentimentalität ist eben so krankhaft, als das Denken des subjectiven Idealismus verschroben. In der Empfindung des unauflöslichen Widerspruchs zu schwelgen, taugt ebensowenig, als das angebliche Recht des Bedürfnisses dnrch erträumte Vorstellungen zu befriedigen. Für die Kunst ist sie vollends verderblich. Jene ekelhafte Coquetterie der Poeten, die leider noch immer stark genng ist, nach den seltsamsten Empfindungen und Bildern zu jagen, in Tagebüchern und Correspondenzen intime Einfälle aufzuspei¬ chern, die dem Uneingeweihten darum vollkommen unverständlich sein müssen, weil er die specielle Beziehung nicht kennt, sührt zu einer Form- und Maßlosig¬ keit, zu einem fragmentarischen Empfinden, Denken und Gestalten, die alle Kunst aufhebt, weil vou Kunst nur da die Rede ist, wo allgemeine, jedem Menschen, dem Griechen wie dem Gothen, zugängliche und verständliche Ideen die ihnen angemessene harmonische Form finden. Ein Kreis schöner Seelen, die einander anschwärmen, ohne sich zu verstehen, ist keine gute Gesellschaft; und eine Poesie, die Himmel und Erde umspannen will, und darum Keinem von Beiden gerecht wird, von sehr fraglichen Werth. Diese falsche Unendlichkeit, dieses voreilige Streben, mit seinen Ge¬ danken Alles zugleich zu umfassen, ist eine wesentliche Folge der Sentimentalität; die „harmonische Weltanschauung" eine Ergänzung des Weltschmerzes. Das Eine ist so eitel wie das Andere. Was hat den Deutschen das Pantheon genutzt, das ihm seine Künstler aus aller Herren Ländern erobert haben! Ans dem Tempel ist ein Naritätenladen geworden, das Uebermaß an griechischen, christ¬ lichen, nordischen, indischen Heiligenbildern hat den wahren Gott erdrückt. Wir sind in den Edda, im Homer, in den Veda's, in der Bibel zu Hause, aber nicht bei uus; wir haben von Gutzkow gelernt, uns in die Empfindung eines Dalai- lama zu versetzen, wir wissen, wie es der Judith zu Muthe gewesen ist, als sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/33>, abgerufen am 20.06.2024.