Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

damaligen Dichtern, sondern auch von den Philosophen aufgestellt. Die Philoso¬
phie fragte nicht: was ist der Mensch, was seine Natur, seine Anlage, seine
Kraft? sondern: was ist seine Bestimmung? und suchte diese Bestimmung in
irgend einem verletzten oder nicht befriedigten Gefühl. Rousseau fragt zuerst: was
soll der Staat sein? ehe er begriffen hat: was ist der Staat? Kant und Fichte
erklären als Bestimmung des Menschen, recht zu thun und recht zu leiden; da sich nun
aus eiuer unbefangenen Betrachtung der Wirklichkeit ergibt, daß das hie-
nieden nicht stattfindet, so schließt Kant auf die Existenz einer überirdischen Welt,
wo diesem tiefgefühlten Bedürfniß abgeholfen werden müsse, Fichte auf ein zu¬
künftiges Zeitalter aus Erden, wo alle Menschen tugendhaft und weise sein würden.
Diese sonderbare Art zu schließen ist das Wesen der geistigen Richtung, die ich
als subjectiven Idealismus bezeichnet habe. Diese Umkehr der Begriffe
war übrigens damals anch in naturwissenschaftlichen Compendien populär, wo die
Weisheit Gottes in jedem Strohhalm gesucht wird.. Man deducirte: "Gott hat
gewollt, daß der Krebs schneiden könne, darum hat er ihm Scheeren gegeben;
wie weise!" währeud es natürlicher gewesen wäre, aus der Existenz der Scheeren
das Schneiden des Krebses herzuleiten. -- Aber anstatt auf die vorhandene
Kraft seine Aufmerksamkeit zu richten, und daraus das Wesen, und bildlich ge.'
nommer, die Bestimmung des Menschen herzuleiten, suchte man sie in der Schwäche,
in dem, was der Mensch nicht hatte; in dem Ideal, das als der leere Ausdruck
eines endlichen Mangels, dem Gesetz und dem Walten der Weltbewegung ent¬
zogen, form- und gestaltlos im Aether schwebte.

Weil das Ideal uur in der Sehnsucht, uicht in der Kraft vorhanden war,
so wurde das Verhalten des Gemüths zu demselben nothwendigerweise ein senti¬
mentales. Sentimentalität ist der Charakter der ganzen Periode, im Denken
wie im Dichten. Schiller theilt die ganze Geschichte der Poesie in die naive und
in die sentimentale Periode.; aber schon die Wahl dieser Ausdrücke verräth den
sentimentale!! Standpunkt. Naivität (d. h. das Natürliche, welches als solches
Verwunderung erregt) ist nur sür die sentimentale Empfindung. Homer und
Thucydides find nicht an sich na'lo, sondern nur sür uus; und was man sich gar
bei der Naivität eines Aeschylus, Sophokles, Plato, Aristophanes, Tacitus u. s. w.
denken soll, ist gar schwer zu sagen. Andrerseits thäte man auch den großen
Männern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts schreiendes Unrecht, sie
in die Kategorie der Sentimentalität zu werfen, weil sie reflectiren. Weder Luther
noch Loyola, weder Shakespeare uoch Calderon waren sentimentale Charaktere.
Sehr bezeichnend ist das Citat aus dem Ariost, das diesen höchst frivolen Dichter
zu einem sentimentalen stempeln soll, weil er einmal über das Nitterwesen reflectirt,
dessen gute Seite verloren gegangen sei. Ariost ist vielmehr das ebenbürtige
Pendant zu Macchiavell, dem naivsten aller Denker. -- Die echte Sentimenta¬
lität ist erst ein Product des achtzehnten Jahrhunderts; und ihr Wesen ist das


damaligen Dichtern, sondern auch von den Philosophen aufgestellt. Die Philoso¬
phie fragte nicht: was ist der Mensch, was seine Natur, seine Anlage, seine
Kraft? sondern: was ist seine Bestimmung? und suchte diese Bestimmung in
irgend einem verletzten oder nicht befriedigten Gefühl. Rousseau fragt zuerst: was
soll der Staat sein? ehe er begriffen hat: was ist der Staat? Kant und Fichte
erklären als Bestimmung des Menschen, recht zu thun und recht zu leiden; da sich nun
aus eiuer unbefangenen Betrachtung der Wirklichkeit ergibt, daß das hie-
nieden nicht stattfindet, so schließt Kant auf die Existenz einer überirdischen Welt,
wo diesem tiefgefühlten Bedürfniß abgeholfen werden müsse, Fichte auf ein zu¬
künftiges Zeitalter aus Erden, wo alle Menschen tugendhaft und weise sein würden.
Diese sonderbare Art zu schließen ist das Wesen der geistigen Richtung, die ich
als subjectiven Idealismus bezeichnet habe. Diese Umkehr der Begriffe
war übrigens damals anch in naturwissenschaftlichen Compendien populär, wo die
Weisheit Gottes in jedem Strohhalm gesucht wird.. Man deducirte: „Gott hat
gewollt, daß der Krebs schneiden könne, darum hat er ihm Scheeren gegeben;
wie weise!" währeud es natürlicher gewesen wäre, aus der Existenz der Scheeren
das Schneiden des Krebses herzuleiten. — Aber anstatt auf die vorhandene
Kraft seine Aufmerksamkeit zu richten, und daraus das Wesen, und bildlich ge.'
nommer, die Bestimmung des Menschen herzuleiten, suchte man sie in der Schwäche,
in dem, was der Mensch nicht hatte; in dem Ideal, das als der leere Ausdruck
eines endlichen Mangels, dem Gesetz und dem Walten der Weltbewegung ent¬
zogen, form- und gestaltlos im Aether schwebte.

Weil das Ideal uur in der Sehnsucht, uicht in der Kraft vorhanden war,
so wurde das Verhalten des Gemüths zu demselben nothwendigerweise ein senti¬
mentales. Sentimentalität ist der Charakter der ganzen Periode, im Denken
wie im Dichten. Schiller theilt die ganze Geschichte der Poesie in die naive und
in die sentimentale Periode.; aber schon die Wahl dieser Ausdrücke verräth den
sentimentale!! Standpunkt. Naivität (d. h. das Natürliche, welches als solches
Verwunderung erregt) ist nur sür die sentimentale Empfindung. Homer und
Thucydides find nicht an sich na'lo, sondern nur sür uus; und was man sich gar
bei der Naivität eines Aeschylus, Sophokles, Plato, Aristophanes, Tacitus u. s. w.
denken soll, ist gar schwer zu sagen. Andrerseits thäte man auch den großen
Männern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts schreiendes Unrecht, sie
in die Kategorie der Sentimentalität zu werfen, weil sie reflectiren. Weder Luther
noch Loyola, weder Shakespeare uoch Calderon waren sentimentale Charaktere.
Sehr bezeichnend ist das Citat aus dem Ariost, das diesen höchst frivolen Dichter
zu einem sentimentalen stempeln soll, weil er einmal über das Nitterwesen reflectirt,
dessen gute Seite verloren gegangen sei. Ariost ist vielmehr das ebenbürtige
Pendant zu Macchiavell, dem naivsten aller Denker. — Die echte Sentimenta¬
lität ist erst ein Product des achtzehnten Jahrhunderts; und ihr Wesen ist das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91769"/>
          <p xml:id="ID_56" prev="#ID_55"> damaligen Dichtern, sondern auch von den Philosophen aufgestellt. Die Philoso¬<lb/>
phie fragte nicht: was ist der Mensch, was seine Natur, seine Anlage, seine<lb/>
Kraft? sondern: was ist seine Bestimmung? und suchte diese Bestimmung in<lb/>
irgend einem verletzten oder nicht befriedigten Gefühl. Rousseau fragt zuerst: was<lb/>
soll der Staat sein? ehe er begriffen hat: was ist der Staat? Kant und Fichte<lb/>
erklären als Bestimmung des Menschen, recht zu thun und recht zu leiden; da sich nun<lb/>
aus eiuer unbefangenen Betrachtung der Wirklichkeit ergibt, daß das hie-<lb/>
nieden nicht stattfindet, so schließt Kant auf die Existenz einer überirdischen Welt,<lb/>
wo diesem tiefgefühlten Bedürfniß abgeholfen werden müsse, Fichte auf ein zu¬<lb/>
künftiges Zeitalter aus Erden, wo alle Menschen tugendhaft und weise sein würden.<lb/>
Diese sonderbare Art zu schließen ist das Wesen der geistigen Richtung, die ich<lb/>
als subjectiven Idealismus bezeichnet habe. Diese Umkehr der Begriffe<lb/>
war übrigens damals anch in naturwissenschaftlichen Compendien populär, wo die<lb/>
Weisheit Gottes in jedem Strohhalm gesucht wird.. Man deducirte: &#x201E;Gott hat<lb/>
gewollt, daß der Krebs schneiden könne, darum hat er ihm Scheeren gegeben;<lb/>
wie weise!" währeud es natürlicher gewesen wäre, aus der Existenz der Scheeren<lb/>
das Schneiden des Krebses herzuleiten. &#x2014; Aber anstatt auf die vorhandene<lb/>
Kraft seine Aufmerksamkeit zu richten, und daraus das Wesen, und bildlich ge.'<lb/>
nommer, die Bestimmung des Menschen herzuleiten, suchte man sie in der Schwäche,<lb/>
in dem, was der Mensch nicht hatte; in dem Ideal, das als der leere Ausdruck<lb/>
eines endlichen Mangels, dem Gesetz und dem Walten der Weltbewegung ent¬<lb/>
zogen, form- und gestaltlos im Aether schwebte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_57" next="#ID_58"> Weil das Ideal uur in der Sehnsucht, uicht in der Kraft vorhanden war,<lb/>
so wurde das Verhalten des Gemüths zu demselben nothwendigerweise ein senti¬<lb/>
mentales. Sentimentalität ist der Charakter der ganzen Periode, im Denken<lb/>
wie im Dichten. Schiller theilt die ganze Geschichte der Poesie in die naive und<lb/>
in die sentimentale Periode.; aber schon die Wahl dieser Ausdrücke verräth den<lb/>
sentimentale!! Standpunkt. Naivität (d. h. das Natürliche, welches als solches<lb/>
Verwunderung erregt) ist nur sür die sentimentale Empfindung. Homer und<lb/>
Thucydides find nicht an sich na'lo, sondern nur sür uus; und was man sich gar<lb/>
bei der Naivität eines Aeschylus, Sophokles, Plato, Aristophanes, Tacitus u. s. w.<lb/>
denken soll, ist gar schwer zu sagen. Andrerseits thäte man auch den großen<lb/>
Männern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts schreiendes Unrecht, sie<lb/>
in die Kategorie der Sentimentalität zu werfen, weil sie reflectiren. Weder Luther<lb/>
noch Loyola, weder Shakespeare uoch Calderon waren sentimentale Charaktere.<lb/>
Sehr bezeichnend ist das Citat aus dem Ariost, das diesen höchst frivolen Dichter<lb/>
zu einem sentimentalen stempeln soll, weil er einmal über das Nitterwesen reflectirt,<lb/>
dessen gute Seite verloren gegangen sei. Ariost ist vielmehr das ebenbürtige<lb/>
Pendant zu Macchiavell, dem naivsten aller Denker. &#x2014; Die echte Sentimenta¬<lb/>
lität ist erst ein Product des achtzehnten Jahrhunderts; und ihr Wesen ist das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] damaligen Dichtern, sondern auch von den Philosophen aufgestellt. Die Philoso¬ phie fragte nicht: was ist der Mensch, was seine Natur, seine Anlage, seine Kraft? sondern: was ist seine Bestimmung? und suchte diese Bestimmung in irgend einem verletzten oder nicht befriedigten Gefühl. Rousseau fragt zuerst: was soll der Staat sein? ehe er begriffen hat: was ist der Staat? Kant und Fichte erklären als Bestimmung des Menschen, recht zu thun und recht zu leiden; da sich nun aus eiuer unbefangenen Betrachtung der Wirklichkeit ergibt, daß das hie- nieden nicht stattfindet, so schließt Kant auf die Existenz einer überirdischen Welt, wo diesem tiefgefühlten Bedürfniß abgeholfen werden müsse, Fichte auf ein zu¬ künftiges Zeitalter aus Erden, wo alle Menschen tugendhaft und weise sein würden. Diese sonderbare Art zu schließen ist das Wesen der geistigen Richtung, die ich als subjectiven Idealismus bezeichnet habe. Diese Umkehr der Begriffe war übrigens damals anch in naturwissenschaftlichen Compendien populär, wo die Weisheit Gottes in jedem Strohhalm gesucht wird.. Man deducirte: „Gott hat gewollt, daß der Krebs schneiden könne, darum hat er ihm Scheeren gegeben; wie weise!" währeud es natürlicher gewesen wäre, aus der Existenz der Scheeren das Schneiden des Krebses herzuleiten. — Aber anstatt auf die vorhandene Kraft seine Aufmerksamkeit zu richten, und daraus das Wesen, und bildlich ge.' nommer, die Bestimmung des Menschen herzuleiten, suchte man sie in der Schwäche, in dem, was der Mensch nicht hatte; in dem Ideal, das als der leere Ausdruck eines endlichen Mangels, dem Gesetz und dem Walten der Weltbewegung ent¬ zogen, form- und gestaltlos im Aether schwebte. Weil das Ideal uur in der Sehnsucht, uicht in der Kraft vorhanden war, so wurde das Verhalten des Gemüths zu demselben nothwendigerweise ein senti¬ mentales. Sentimentalität ist der Charakter der ganzen Periode, im Denken wie im Dichten. Schiller theilt die ganze Geschichte der Poesie in die naive und in die sentimentale Periode.; aber schon die Wahl dieser Ausdrücke verräth den sentimentale!! Standpunkt. Naivität (d. h. das Natürliche, welches als solches Verwunderung erregt) ist nur sür die sentimentale Empfindung. Homer und Thucydides find nicht an sich na'lo, sondern nur sür uus; und was man sich gar bei der Naivität eines Aeschylus, Sophokles, Plato, Aristophanes, Tacitus u. s. w. denken soll, ist gar schwer zu sagen. Andrerseits thäte man auch den großen Männern des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts schreiendes Unrecht, sie in die Kategorie der Sentimentalität zu werfen, weil sie reflectiren. Weder Luther noch Loyola, weder Shakespeare uoch Calderon waren sentimentale Charaktere. Sehr bezeichnend ist das Citat aus dem Ariost, das diesen höchst frivolen Dichter zu einem sentimentalen stempeln soll, weil er einmal über das Nitterwesen reflectirt, dessen gute Seite verloren gegangen sei. Ariost ist vielmehr das ebenbürtige Pendant zu Macchiavell, dem naivsten aller Denker. — Die echte Sentimenta¬ lität ist erst ein Product des achtzehnten Jahrhunderts; und ihr Wesen ist das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/32>, abgerufen am 20.06.2024.