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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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sich in den drei letzten Jahren der Dogmatismus und die Declamation unserer
Politischen Ideale so vollständig ausgegeben, daß auch hier eine Rückkehr zum
Endlichen, Bestimmter, Positiven nothwendig wird; was nicht nur von der.liberalen
und demokratischen, sondern noch mehr von der theologisch-historischen Schule gilt.

Bei diesen Vorzeichen eines neuen Princips scheint es nicht unangemessen,
mit dem alten einmal klare Rechnung zu machen. -- Vollständig wird das Wesen
der modernen Kunst nnr in einer zusammenhängenden Geschichte darzustellen sein,
und daß eine solche noch nicht geschrieben ist, liegt wohl einfach darin, daß
erst ein siegreiches Princip das überwundene zum Gegenstand einer objectiven
Darstellung machen kann. Bis dahin bleiben alle derartigen Versuche polemischer
Natur. Das Folgende kann natürlich nur als Andeutung gelten.

Das Zeitalter war reich an Tendenzen, arm an realer Durchführung der¬
selben, im Leben wie in der Kunst. Der Grund ist nicht in dem Mangel an
Talenten zu suchen, sondern in den falschen Aufgaben, die sie sich stellten. Sie
quälte" sich mit Fragen und Problemen ab, die keine Berechtigung hatten, die,
einem individuellen Gemüthszustand, einem individuellen Krankheitsmoment ent¬
nommen, durch den Schein der Allgemeinheit und Idealität in ein verkehrtes Licht
gestellt wurden. Heute wird wohl Niemand mehr daran zweifeln, daß die beiden
Lieblingsgestalten unserer dichterischen Phantasie, Faust und Don Juan, mit ihrem
Verlangen, Alles zu wissen und Alles zu genießen, kein größeres Recht hatten,
als etwa jeuer römische Kaiser, der dem gesammten Menschengeschlecht einen Hals
wünschte, um ihn abschlagen zu können, oder wenn mau artiger sein will, als der
vou Plato verspottete Alcibiades, dessen Herrschsucht darum keine Grenze fand,
weil sie ohne eigentlichen Inhalt war. Aber Nero und Alcibiades waren Indi¬
viduen, und darum ihr falsches Streben menschlicher Theilnahme und einer künst-
lerischen Behandlung fähig; Faust dagegen und Don Juan geben sich für Reprä-
sentanten der Menschheit ans, und darum hat ihre Krankheit etwas Unheimliches
und Dämonisches. Sie sind vielmehr die Repräsentanten des Zeitalters, das sich
an ihnen erbaute. In einem seiner rhapsodischen Nordseegcdichte läßt Heine
einen "Doctor" vom Bord des Schiffs an den Gott des Meeres verschiedene
wunderliche Fragen richten, die sich ans die Widersprüche des Herzens und die
daraus herzuleiteudeu Ansprüche des Menschen beziehen, und fährt daun fort:
"Die Wellen rauschen eintönig weiter, ein Narr nnr wartet ans Antwort." Er
hätte vielmehr sagen sollen: nur ein Narr kann dergleichen fragen. -- Das Ge¬
fühl eines individuellen Mangels als ein Recht gegen Gott oder gegen die
Natur geltend zu machen, verräth ein knabenhaft ungeduldiges Gemüth, und es
ist eine leicht zu durchschauerte falsche Bescheidenheit, wenn dann zuletzt das
Herz großmüthig restgnirt und dem lieben Gott Gnade für Recht widerfahren läßt.
^- Diese falsche Anforderung an Gott, Dissonanzen in der Individualität uach
einer allgemein giltigen Norm in Harmonie aufzulösen, wird nicht allein von den


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sich in den drei letzten Jahren der Dogmatismus und die Declamation unserer
Politischen Ideale so vollständig ausgegeben, daß auch hier eine Rückkehr zum
Endlichen, Bestimmter, Positiven nothwendig wird; was nicht nur von der.liberalen
und demokratischen, sondern noch mehr von der theologisch-historischen Schule gilt.

Bei diesen Vorzeichen eines neuen Princips scheint es nicht unangemessen,
mit dem alten einmal klare Rechnung zu machen. — Vollständig wird das Wesen
der modernen Kunst nnr in einer zusammenhängenden Geschichte darzustellen sein,
und daß eine solche noch nicht geschrieben ist, liegt wohl einfach darin, daß
erst ein siegreiches Princip das überwundene zum Gegenstand einer objectiven
Darstellung machen kann. Bis dahin bleiben alle derartigen Versuche polemischer
Natur. Das Folgende kann natürlich nur als Andeutung gelten.

Das Zeitalter war reich an Tendenzen, arm an realer Durchführung der¬
selben, im Leben wie in der Kunst. Der Grund ist nicht in dem Mangel an
Talenten zu suchen, sondern in den falschen Aufgaben, die sie sich stellten. Sie
quälte» sich mit Fragen und Problemen ab, die keine Berechtigung hatten, die,
einem individuellen Gemüthszustand, einem individuellen Krankheitsmoment ent¬
nommen, durch den Schein der Allgemeinheit und Idealität in ein verkehrtes Licht
gestellt wurden. Heute wird wohl Niemand mehr daran zweifeln, daß die beiden
Lieblingsgestalten unserer dichterischen Phantasie, Faust und Don Juan, mit ihrem
Verlangen, Alles zu wissen und Alles zu genießen, kein größeres Recht hatten,
als etwa jeuer römische Kaiser, der dem gesammten Menschengeschlecht einen Hals
wünschte, um ihn abschlagen zu können, oder wenn mau artiger sein will, als der
vou Plato verspottete Alcibiades, dessen Herrschsucht darum keine Grenze fand,
weil sie ohne eigentlichen Inhalt war. Aber Nero und Alcibiades waren Indi¬
viduen, und darum ihr falsches Streben menschlicher Theilnahme und einer künst-
lerischen Behandlung fähig; Faust dagegen und Don Juan geben sich für Reprä-
sentanten der Menschheit ans, und darum hat ihre Krankheit etwas Unheimliches
und Dämonisches. Sie sind vielmehr die Repräsentanten des Zeitalters, das sich
an ihnen erbaute. In einem seiner rhapsodischen Nordseegcdichte läßt Heine
einen „Doctor" vom Bord des Schiffs an den Gott des Meeres verschiedene
wunderliche Fragen richten, die sich ans die Widersprüche des Herzens und die
daraus herzuleiteudeu Ansprüche des Menschen beziehen, und fährt daun fort:
„Die Wellen rauschen eintönig weiter, ein Narr nnr wartet ans Antwort." Er
hätte vielmehr sagen sollen: nur ein Narr kann dergleichen fragen. — Das Ge¬
fühl eines individuellen Mangels als ein Recht gegen Gott oder gegen die
Natur geltend zu machen, verräth ein knabenhaft ungeduldiges Gemüth, und es
ist eine leicht zu durchschauerte falsche Bescheidenheit, wenn dann zuletzt das
Herz großmüthig restgnirt und dem lieben Gott Gnade für Recht widerfahren läßt.
^- Diese falsche Anforderung an Gott, Dissonanzen in der Individualität uach
einer allgemein giltigen Norm in Harmonie aufzulösen, wird nicht allein von den


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[0031] sich in den drei letzten Jahren der Dogmatismus und die Declamation unserer Politischen Ideale so vollständig ausgegeben, daß auch hier eine Rückkehr zum Endlichen, Bestimmter, Positiven nothwendig wird; was nicht nur von der.liberalen und demokratischen, sondern noch mehr von der theologisch-historischen Schule gilt. Bei diesen Vorzeichen eines neuen Princips scheint es nicht unangemessen, mit dem alten einmal klare Rechnung zu machen. — Vollständig wird das Wesen der modernen Kunst nnr in einer zusammenhängenden Geschichte darzustellen sein, und daß eine solche noch nicht geschrieben ist, liegt wohl einfach darin, daß erst ein siegreiches Princip das überwundene zum Gegenstand einer objectiven Darstellung machen kann. Bis dahin bleiben alle derartigen Versuche polemischer Natur. Das Folgende kann natürlich nur als Andeutung gelten. Das Zeitalter war reich an Tendenzen, arm an realer Durchführung der¬ selben, im Leben wie in der Kunst. Der Grund ist nicht in dem Mangel an Talenten zu suchen, sondern in den falschen Aufgaben, die sie sich stellten. Sie quälte» sich mit Fragen und Problemen ab, die keine Berechtigung hatten, die, einem individuellen Gemüthszustand, einem individuellen Krankheitsmoment ent¬ nommen, durch den Schein der Allgemeinheit und Idealität in ein verkehrtes Licht gestellt wurden. Heute wird wohl Niemand mehr daran zweifeln, daß die beiden Lieblingsgestalten unserer dichterischen Phantasie, Faust und Don Juan, mit ihrem Verlangen, Alles zu wissen und Alles zu genießen, kein größeres Recht hatten, als etwa jeuer römische Kaiser, der dem gesammten Menschengeschlecht einen Hals wünschte, um ihn abschlagen zu können, oder wenn mau artiger sein will, als der vou Plato verspottete Alcibiades, dessen Herrschsucht darum keine Grenze fand, weil sie ohne eigentlichen Inhalt war. Aber Nero und Alcibiades waren Indi¬ viduen, und darum ihr falsches Streben menschlicher Theilnahme und einer künst- lerischen Behandlung fähig; Faust dagegen und Don Juan geben sich für Reprä- sentanten der Menschheit ans, und darum hat ihre Krankheit etwas Unheimliches und Dämonisches. Sie sind vielmehr die Repräsentanten des Zeitalters, das sich an ihnen erbaute. In einem seiner rhapsodischen Nordseegcdichte läßt Heine einen „Doctor" vom Bord des Schiffs an den Gott des Meeres verschiedene wunderliche Fragen richten, die sich ans die Widersprüche des Herzens und die daraus herzuleiteudeu Ansprüche des Menschen beziehen, und fährt daun fort: „Die Wellen rauschen eintönig weiter, ein Narr nnr wartet ans Antwort." Er hätte vielmehr sagen sollen: nur ein Narr kann dergleichen fragen. — Das Ge¬ fühl eines individuellen Mangels als ein Recht gegen Gott oder gegen die Natur geltend zu machen, verräth ein knabenhaft ungeduldiges Gemüth, und es ist eine leicht zu durchschauerte falsche Bescheidenheit, wenn dann zuletzt das Herz großmüthig restgnirt und dem lieben Gott Gnade für Recht widerfahren läßt. ^- Diese falsche Anforderung an Gott, Dissonanzen in der Individualität uach einer allgemein giltigen Norm in Harmonie aufzulösen, wird nicht allein von den 3 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/31>, abgerufen am 04.07.2024.