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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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schwarzwälder und schweizer Dorfgeschichten Manschen,") ist nicht nur verschie¬
den, sondern der gerade Gegensatz zu der idealen Natur, welche Rousseau in sei¬
nem Emile sucht; sie ist, wenigstens der Empfindung nach, auch der Gegensatz
zu der "Natur" Werther's und des Hainbundes, ebenso wie zudem moderuisirten
griechischen Ideal, in welches die Schiller'sche Lyrik sich flüchtet: sie verhält sich
zu allen diesen Versuchen, um eiuen etwas kühnen Vergleich anzuwenden, unge¬
fähr wie Justus Möser's patriotische Phantasien zu Rousseau's Gesellschaftsver¬
trag. -- Obgleich ich nur glaube, daß anch in dieser "Natur" der Volkskalender
noch viel Coquetterie steckt, und daß die Poesie auf die Dauer sich nicht im Dia¬
lekt wird aussprechen dürfen, so ist doch die große Popularität dieser Dichter --
deuen man noch die in Norddeutschland (z. B. in Oldenburg) immer weiter
ausgedehnten Sammlungen von Volkösprichwörtern, Volksgewohnheiten und tgi.
beigesellen muß, und die in der neuen Richtung des Germanismus eine mächtige
Stütze findet -- sowie die gleichzeitige Reaction in der Literatur anderer Völker,
z. B. der Franzosen, wo die talentvollste Schülerin Rousseau'S in ihren neuesten
Schöpfungen mit großer Liebe und Andacht die empirische Natur belauscht, eine hin¬
reichende Bürgschaft dafür, daß man es nicht mit dem willkürlichen Einfall ein¬
zelner Dichter zu thun hat.

Die dramatische Poesie, noch vor Kurzem so spröde gegen die Bühne, strebt nach
der nothwendigen Wiedervereinigung mit derselben, und fügt sich darum aufs Neue
der Form und dem Gesetz, deren die souveräne Laune der frühern Dichter spottete;
die Lyrik enthebt sich der undankbaren Mühe, Gedanken und Vorstellungen zu einer
Mosaikarbeit zu combiniren, und kehrt mit einer gewissen Gereiztheit zu der früher
so verachteten einfachen Empfindung zurück. . Man läßt dem Herzen wieder freien
Lauf, ohne ihm dnrch das Gewürz der Ironie einen dam-gout geben zu wollen;
mau wagt es wieder, gutmüthig und bon erkant zu sein, man glaubt nicht mehr
an die Verpflichtung, als sentimentaler Vampyr nächtlich in den Häusern umher-
znschleichen. Man sehnt sich nach der Religion, aber nicht, wie im Zeitalter der
Romantik, um in raffinirten Empfindungen oder in der trüben Mystik verworrener
Bilder zu schwelgen, souderu um ein solides Universalmittel zu haben, ein soigner
missris, durch welches mau sich der unnützen Fragen und Zweifel entledigt, die
doch zu nichts führen. Zugleich ist eine Gleichgiltigkeit gegen die bisherige Philo¬
sophie eingetreten, die zwar zunächst weder productio uoch erfreulich genannt wer¬
den kann, die aber dahin führen muß, wie zu deu Zeiten des Sokrates, die Philo¬
sophie vom Himmel auf die Erde zu leiten; von der dreisten Metaphysik boden¬
loser Probleme zur gründlichen Erörterung ethischer und physischer Fragen; oder,
wenn man diesen Ausdruck vorzieht, aus der Breite in die Tiefe. -- Endlich hat



In England, wo die Romantik niemals vollständig gesiegt hat, ist diese Natur¬
poesie nie ausgestorben; ich erinnere mir an Washington Irving'S Skizzenbuch.

schwarzwälder und schweizer Dorfgeschichten Manschen,") ist nicht nur verschie¬
den, sondern der gerade Gegensatz zu der idealen Natur, welche Rousseau in sei¬
nem Emile sucht; sie ist, wenigstens der Empfindung nach, auch der Gegensatz
zu der „Natur" Werther's und des Hainbundes, ebenso wie zudem moderuisirten
griechischen Ideal, in welches die Schiller'sche Lyrik sich flüchtet: sie verhält sich
zu allen diesen Versuchen, um eiuen etwas kühnen Vergleich anzuwenden, unge¬
fähr wie Justus Möser's patriotische Phantasien zu Rousseau's Gesellschaftsver¬
trag. — Obgleich ich nur glaube, daß anch in dieser „Natur" der Volkskalender
noch viel Coquetterie steckt, und daß die Poesie auf die Dauer sich nicht im Dia¬
lekt wird aussprechen dürfen, so ist doch die große Popularität dieser Dichter —
deuen man noch die in Norddeutschland (z. B. in Oldenburg) immer weiter
ausgedehnten Sammlungen von Volkösprichwörtern, Volksgewohnheiten und tgi.
beigesellen muß, und die in der neuen Richtung des Germanismus eine mächtige
Stütze findet — sowie die gleichzeitige Reaction in der Literatur anderer Völker,
z. B. der Franzosen, wo die talentvollste Schülerin Rousseau'S in ihren neuesten
Schöpfungen mit großer Liebe und Andacht die empirische Natur belauscht, eine hin¬
reichende Bürgschaft dafür, daß man es nicht mit dem willkürlichen Einfall ein¬
zelner Dichter zu thun hat.

Die dramatische Poesie, noch vor Kurzem so spröde gegen die Bühne, strebt nach
der nothwendigen Wiedervereinigung mit derselben, und fügt sich darum aufs Neue
der Form und dem Gesetz, deren die souveräne Laune der frühern Dichter spottete;
die Lyrik enthebt sich der undankbaren Mühe, Gedanken und Vorstellungen zu einer
Mosaikarbeit zu combiniren, und kehrt mit einer gewissen Gereiztheit zu der früher
so verachteten einfachen Empfindung zurück. . Man läßt dem Herzen wieder freien
Lauf, ohne ihm dnrch das Gewürz der Ironie einen dam-gout geben zu wollen;
mau wagt es wieder, gutmüthig und bon erkant zu sein, man glaubt nicht mehr
an die Verpflichtung, als sentimentaler Vampyr nächtlich in den Häusern umher-
znschleichen. Man sehnt sich nach der Religion, aber nicht, wie im Zeitalter der
Romantik, um in raffinirten Empfindungen oder in der trüben Mystik verworrener
Bilder zu schwelgen, souderu um ein solides Universalmittel zu haben, ein soigner
missris, durch welches mau sich der unnützen Fragen und Zweifel entledigt, die
doch zu nichts führen. Zugleich ist eine Gleichgiltigkeit gegen die bisherige Philo¬
sophie eingetreten, die zwar zunächst weder productio uoch erfreulich genannt wer¬
den kann, die aber dahin führen muß, wie zu deu Zeiten des Sokrates, die Philo¬
sophie vom Himmel auf die Erde zu leiten; von der dreisten Metaphysik boden¬
loser Probleme zur gründlichen Erörterung ethischer und physischer Fragen; oder,
wenn man diesen Ausdruck vorzieht, aus der Breite in die Tiefe. — Endlich hat



In England, wo die Romantik niemals vollständig gesiegt hat, ist diese Natur¬
poesie nie ausgestorben; ich erinnere mir an Washington Irving'S Skizzenbuch.
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[0030] schwarzwälder und schweizer Dorfgeschichten Manschen,") ist nicht nur verschie¬ den, sondern der gerade Gegensatz zu der idealen Natur, welche Rousseau in sei¬ nem Emile sucht; sie ist, wenigstens der Empfindung nach, auch der Gegensatz zu der „Natur" Werther's und des Hainbundes, ebenso wie zudem moderuisirten griechischen Ideal, in welches die Schiller'sche Lyrik sich flüchtet: sie verhält sich zu allen diesen Versuchen, um eiuen etwas kühnen Vergleich anzuwenden, unge¬ fähr wie Justus Möser's patriotische Phantasien zu Rousseau's Gesellschaftsver¬ trag. — Obgleich ich nur glaube, daß anch in dieser „Natur" der Volkskalender noch viel Coquetterie steckt, und daß die Poesie auf die Dauer sich nicht im Dia¬ lekt wird aussprechen dürfen, so ist doch die große Popularität dieser Dichter — deuen man noch die in Norddeutschland (z. B. in Oldenburg) immer weiter ausgedehnten Sammlungen von Volkösprichwörtern, Volksgewohnheiten und tgi. beigesellen muß, und die in der neuen Richtung des Germanismus eine mächtige Stütze findet — sowie die gleichzeitige Reaction in der Literatur anderer Völker, z. B. der Franzosen, wo die talentvollste Schülerin Rousseau'S in ihren neuesten Schöpfungen mit großer Liebe und Andacht die empirische Natur belauscht, eine hin¬ reichende Bürgschaft dafür, daß man es nicht mit dem willkürlichen Einfall ein¬ zelner Dichter zu thun hat. Die dramatische Poesie, noch vor Kurzem so spröde gegen die Bühne, strebt nach der nothwendigen Wiedervereinigung mit derselben, und fügt sich darum aufs Neue der Form und dem Gesetz, deren die souveräne Laune der frühern Dichter spottete; die Lyrik enthebt sich der undankbaren Mühe, Gedanken und Vorstellungen zu einer Mosaikarbeit zu combiniren, und kehrt mit einer gewissen Gereiztheit zu der früher so verachteten einfachen Empfindung zurück. . Man läßt dem Herzen wieder freien Lauf, ohne ihm dnrch das Gewürz der Ironie einen dam-gout geben zu wollen; mau wagt es wieder, gutmüthig und bon erkant zu sein, man glaubt nicht mehr an die Verpflichtung, als sentimentaler Vampyr nächtlich in den Häusern umher- znschleichen. Man sehnt sich nach der Religion, aber nicht, wie im Zeitalter der Romantik, um in raffinirten Empfindungen oder in der trüben Mystik verworrener Bilder zu schwelgen, souderu um ein solides Universalmittel zu haben, ein soigner missris, durch welches mau sich der unnützen Fragen und Zweifel entledigt, die doch zu nichts führen. Zugleich ist eine Gleichgiltigkeit gegen die bisherige Philo¬ sophie eingetreten, die zwar zunächst weder productio uoch erfreulich genannt wer¬ den kann, die aber dahin führen muß, wie zu deu Zeiten des Sokrates, die Philo¬ sophie vom Himmel auf die Erde zu leiten; von der dreisten Metaphysik boden¬ loser Probleme zur gründlichen Erörterung ethischer und physischer Fragen; oder, wenn man diesen Ausdruck vorzieht, aus der Breite in die Tiefe. — Endlich hat In England, wo die Romantik niemals vollständig gesiegt hat, ist diese Natur¬ poesie nie ausgestorben; ich erinnere mir an Washington Irving'S Skizzenbuch.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/30>, abgerufen am 20.06.2024.