Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sich erkenntlich zu machen. Aber die Heiligen waren von Holz und Stein und
hörten nicht die Stimme der Flehenden. Die Sonne ging wieder unter, ohne
daß die Qual gelindert wurde, denu Qual war es in der That.

Man fühlte während des Tages mehrere Erdstöße und hörte häufig das don¬
nerähnliche Geräusch. Der Boden war bereits ziemlich hoch mit Asche bedeckt,
der Aschenregen hatte sich noch nicht im Geringsten vermindert, war vielleicht nur
noch heftiger geworden; die Finsterniß war noch dieselbe; es war kein Ende des
schaudervollen Zustandes zu ersehen; um Menschen und Thiere schien allmälig
ein Grab empor zu wachsen; Flucht war vergebens; in den Wäldern und Savan¬
nen waren bereits Tausende von Rindern umgekommen, -- obgleich diese Thatsache
in der Stadt selber damals uoch uicht bekannt war -- und die Einwohner schienen
entschlossen zu sein, lieber in der Stadt jedes ihnen bestimmte Schicksal zu erwar¬
ten, als in der Einsamkeit eine ungewisse Rettung zu suchen. Und so verging
die zweite Nacht. Am Morgen des 23. war die Aschendecke bedeutend tiefer
geworden und die Asche fiel in dichteren Massen herab: das natürliche Grab des
Menschen schien aus der Muttererde sich hervorzuheben, statt daß es hineinge¬
graben wurde. Die Frauen eilten wieder mit nassen Tüchern bedeckt, schreiend
und wehklagend in die Kirchen und bemühten sich, ihren Lieblingsheiligen fromme
Lieder zu fingen. Als letztes Rettungsmittel wurden endlich sämmtliche Heilige
-- ohne eine einzige Ansnahme, damit sich nicht der eine oder andere beleidigt
fühlte -- aus ihren Nischen herausgenommen und heraus in's Freie getragen,
vermuthlich um ihnen Gelegenheit zu geben, sich persönlich von dem Stand der
Dinge zu überzeugen. Aber der Aschenregen danerte fort.

Auf der Höhe von zwei bis drei Meilen schien ohne Zweifel die Sonne
hell und warm an dem blauen Himmel; aber all' ihr Lichtglanz und all' ihre
Kraft waren nicht hinreichend, den dichten Aschennebel zu durchdringen und ihre
Stellung am Himmel auch nur ahnen zu lassen. Als sie aber dem westlichen
Horizonte sich näherte, erhob sich plötzlich ein heftiger Nordwind, der es den
Einwohnern von Leon in einer halben Stunde möglich machte, ihre eben von
den letzten Strahlen vergoldeten Vulcane zu sehen.

Natürlicher Weise wurde das plötzliche Aufhören des Aschenregens der Ver¬
mittelung dieser Heiligen zugeschrieben, die ohne Zweifel wieder unter ihr Obdach
zu kommeu wünschten, und die Priester, die bei den reichlichen Opfergaben jeden¬
falls nicht zu kurz kamen, ließen es sich sehr angelegen sein, diese Meinung zu
billigen und zu bestätiget!. Als jedoch am nächsten Tage eine allgemeine Dank¬
procession gehalten wurde, machte man die Entdeckung, daß die Farbe, womit das
Antlitz der Jungfran Maria reichlich, aber etwas grob bedeckt war, sich abgeblät¬
tert hatte, und die halbe Einwohnerschaft erklärte, dieses Bild habe währeud seines
Aufenthalts in der Stadt die Blattern bekommen und aus Zorn darüber jene
Strafe auferlegt, die man eben überstanden hatte. Es wurden vor den Altären


sich erkenntlich zu machen. Aber die Heiligen waren von Holz und Stein und
hörten nicht die Stimme der Flehenden. Die Sonne ging wieder unter, ohne
daß die Qual gelindert wurde, denu Qual war es in der That.

Man fühlte während des Tages mehrere Erdstöße und hörte häufig das don¬
nerähnliche Geräusch. Der Boden war bereits ziemlich hoch mit Asche bedeckt,
der Aschenregen hatte sich noch nicht im Geringsten vermindert, war vielleicht nur
noch heftiger geworden; die Finsterniß war noch dieselbe; es war kein Ende des
schaudervollen Zustandes zu ersehen; um Menschen und Thiere schien allmälig
ein Grab empor zu wachsen; Flucht war vergebens; in den Wäldern und Savan¬
nen waren bereits Tausende von Rindern umgekommen, — obgleich diese Thatsache
in der Stadt selber damals uoch uicht bekannt war — und die Einwohner schienen
entschlossen zu sein, lieber in der Stadt jedes ihnen bestimmte Schicksal zu erwar¬
ten, als in der Einsamkeit eine ungewisse Rettung zu suchen. Und so verging
die zweite Nacht. Am Morgen des 23. war die Aschendecke bedeutend tiefer
geworden und die Asche fiel in dichteren Massen herab: das natürliche Grab des
Menschen schien aus der Muttererde sich hervorzuheben, statt daß es hineinge¬
graben wurde. Die Frauen eilten wieder mit nassen Tüchern bedeckt, schreiend
und wehklagend in die Kirchen und bemühten sich, ihren Lieblingsheiligen fromme
Lieder zu fingen. Als letztes Rettungsmittel wurden endlich sämmtliche Heilige
— ohne eine einzige Ansnahme, damit sich nicht der eine oder andere beleidigt
fühlte — aus ihren Nischen herausgenommen und heraus in's Freie getragen,
vermuthlich um ihnen Gelegenheit zu geben, sich persönlich von dem Stand der
Dinge zu überzeugen. Aber der Aschenregen danerte fort.

Auf der Höhe von zwei bis drei Meilen schien ohne Zweifel die Sonne
hell und warm an dem blauen Himmel; aber all' ihr Lichtglanz und all' ihre
Kraft waren nicht hinreichend, den dichten Aschennebel zu durchdringen und ihre
Stellung am Himmel auch nur ahnen zu lassen. Als sie aber dem westlichen
Horizonte sich näherte, erhob sich plötzlich ein heftiger Nordwind, der es den
Einwohnern von Leon in einer halben Stunde möglich machte, ihre eben von
den letzten Strahlen vergoldeten Vulcane zu sehen.

Natürlicher Weise wurde das plötzliche Aufhören des Aschenregens der Ver¬
mittelung dieser Heiligen zugeschrieben, die ohne Zweifel wieder unter ihr Obdach
zu kommeu wünschten, und die Priester, die bei den reichlichen Opfergaben jeden¬
falls nicht zu kurz kamen, ließen es sich sehr angelegen sein, diese Meinung zu
billigen und zu bestätiget!. Als jedoch am nächsten Tage eine allgemeine Dank¬
procession gehalten wurde, machte man die Entdeckung, daß die Farbe, womit das
Antlitz der Jungfran Maria reichlich, aber etwas grob bedeckt war, sich abgeblät¬
tert hatte, und die halbe Einwohnerschaft erklärte, dieses Bild habe währeud seines
Aufenthalts in der Stadt die Blattern bekommen und aus Zorn darüber jene
Strafe auferlegt, die man eben überstanden hatte. Es wurden vor den Altären


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/92002"/>
          <p xml:id="ID_825" prev="#ID_824"> sich erkenntlich zu machen. Aber die Heiligen waren von Holz und Stein und<lb/>
hörten nicht die Stimme der Flehenden. Die Sonne ging wieder unter, ohne<lb/>
daß die Qual gelindert wurde, denu Qual war es in der That.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_826"> Man fühlte während des Tages mehrere Erdstöße und hörte häufig das don¬<lb/>
nerähnliche Geräusch. Der Boden war bereits ziemlich hoch mit Asche bedeckt,<lb/>
der Aschenregen hatte sich noch nicht im Geringsten vermindert, war vielleicht nur<lb/>
noch heftiger geworden; die Finsterniß war noch dieselbe; es war kein Ende des<lb/>
schaudervollen Zustandes zu ersehen; um Menschen und Thiere schien allmälig<lb/>
ein Grab empor zu wachsen; Flucht war vergebens; in den Wäldern und Savan¬<lb/>
nen waren bereits Tausende von Rindern umgekommen, &#x2014; obgleich diese Thatsache<lb/>
in der Stadt selber damals uoch uicht bekannt war &#x2014; und die Einwohner schienen<lb/>
entschlossen zu sein, lieber in der Stadt jedes ihnen bestimmte Schicksal zu erwar¬<lb/>
ten, als in der Einsamkeit eine ungewisse Rettung zu suchen. Und so verging<lb/>
die zweite Nacht. Am Morgen des 23. war die Aschendecke bedeutend tiefer<lb/>
geworden und die Asche fiel in dichteren Massen herab: das natürliche Grab des<lb/>
Menschen schien aus der Muttererde sich hervorzuheben, statt daß es hineinge¬<lb/>
graben wurde. Die Frauen eilten wieder mit nassen Tüchern bedeckt, schreiend<lb/>
und wehklagend in die Kirchen und bemühten sich, ihren Lieblingsheiligen fromme<lb/>
Lieder zu fingen. Als letztes Rettungsmittel wurden endlich sämmtliche Heilige<lb/>
&#x2014; ohne eine einzige Ansnahme, damit sich nicht der eine oder andere beleidigt<lb/>
fühlte &#x2014; aus ihren Nischen herausgenommen und heraus in's Freie getragen,<lb/>
vermuthlich um ihnen Gelegenheit zu geben, sich persönlich von dem Stand der<lb/>
Dinge zu überzeugen. Aber der Aschenregen danerte fort.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_827"> Auf der Höhe von zwei bis drei Meilen schien ohne Zweifel die Sonne<lb/>
hell und warm an dem blauen Himmel; aber all' ihr Lichtglanz und all' ihre<lb/>
Kraft waren nicht hinreichend, den dichten Aschennebel zu durchdringen und ihre<lb/>
Stellung am Himmel auch nur ahnen zu lassen. Als sie aber dem westlichen<lb/>
Horizonte sich näherte, erhob sich plötzlich ein heftiger Nordwind, der es den<lb/>
Einwohnern von Leon in einer halben Stunde möglich machte, ihre eben von<lb/>
den letzten Strahlen vergoldeten Vulcane zu sehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_828" next="#ID_829"> Natürlicher Weise wurde das plötzliche Aufhören des Aschenregens der Ver¬<lb/>
mittelung dieser Heiligen zugeschrieben, die ohne Zweifel wieder unter ihr Obdach<lb/>
zu kommeu wünschten, und die Priester, die bei den reichlichen Opfergaben jeden¬<lb/>
falls nicht zu kurz kamen, ließen es sich sehr angelegen sein, diese Meinung zu<lb/>
billigen und zu bestätiget!. Als jedoch am nächsten Tage eine allgemeine Dank¬<lb/>
procession gehalten wurde, machte man die Entdeckung, daß die Farbe, womit das<lb/>
Antlitz der Jungfran Maria reichlich, aber etwas grob bedeckt war, sich abgeblät¬<lb/>
tert hatte, und die halbe Einwohnerschaft erklärte, dieses Bild habe währeud seines<lb/>
Aufenthalts in der Stadt die Blattern bekommen und aus Zorn darüber jene<lb/>
Strafe auferlegt, die man eben überstanden hatte.  Es wurden vor den Altären</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] sich erkenntlich zu machen. Aber die Heiligen waren von Holz und Stein und hörten nicht die Stimme der Flehenden. Die Sonne ging wieder unter, ohne daß die Qual gelindert wurde, denu Qual war es in der That. Man fühlte während des Tages mehrere Erdstöße und hörte häufig das don¬ nerähnliche Geräusch. Der Boden war bereits ziemlich hoch mit Asche bedeckt, der Aschenregen hatte sich noch nicht im Geringsten vermindert, war vielleicht nur noch heftiger geworden; die Finsterniß war noch dieselbe; es war kein Ende des schaudervollen Zustandes zu ersehen; um Menschen und Thiere schien allmälig ein Grab empor zu wachsen; Flucht war vergebens; in den Wäldern und Savan¬ nen waren bereits Tausende von Rindern umgekommen, — obgleich diese Thatsache in der Stadt selber damals uoch uicht bekannt war — und die Einwohner schienen entschlossen zu sein, lieber in der Stadt jedes ihnen bestimmte Schicksal zu erwar¬ ten, als in der Einsamkeit eine ungewisse Rettung zu suchen. Und so verging die zweite Nacht. Am Morgen des 23. war die Aschendecke bedeutend tiefer geworden und die Asche fiel in dichteren Massen herab: das natürliche Grab des Menschen schien aus der Muttererde sich hervorzuheben, statt daß es hineinge¬ graben wurde. Die Frauen eilten wieder mit nassen Tüchern bedeckt, schreiend und wehklagend in die Kirchen und bemühten sich, ihren Lieblingsheiligen fromme Lieder zu fingen. Als letztes Rettungsmittel wurden endlich sämmtliche Heilige — ohne eine einzige Ansnahme, damit sich nicht der eine oder andere beleidigt fühlte — aus ihren Nischen herausgenommen und heraus in's Freie getragen, vermuthlich um ihnen Gelegenheit zu geben, sich persönlich von dem Stand der Dinge zu überzeugen. Aber der Aschenregen danerte fort. Auf der Höhe von zwei bis drei Meilen schien ohne Zweifel die Sonne hell und warm an dem blauen Himmel; aber all' ihr Lichtglanz und all' ihre Kraft waren nicht hinreichend, den dichten Aschennebel zu durchdringen und ihre Stellung am Himmel auch nur ahnen zu lassen. Als sie aber dem westlichen Horizonte sich näherte, erhob sich plötzlich ein heftiger Nordwind, der es den Einwohnern von Leon in einer halben Stunde möglich machte, ihre eben von den letzten Strahlen vergoldeten Vulcane zu sehen. Natürlicher Weise wurde das plötzliche Aufhören des Aschenregens der Ver¬ mittelung dieser Heiligen zugeschrieben, die ohne Zweifel wieder unter ihr Obdach zu kommeu wünschten, und die Priester, die bei den reichlichen Opfergaben jeden¬ falls nicht zu kurz kamen, ließen es sich sehr angelegen sein, diese Meinung zu billigen und zu bestätiget!. Als jedoch am nächsten Tage eine allgemeine Dank¬ procession gehalten wurde, machte man die Entdeckung, daß die Farbe, womit das Antlitz der Jungfran Maria reichlich, aber etwas grob bedeckt war, sich abgeblät¬ tert hatte, und die halbe Einwohnerschaft erklärte, dieses Bild habe währeud seines Aufenthalts in der Stadt die Blattern bekommen und aus Zorn darüber jene Strafe auferlegt, die man eben überstanden hatte. Es wurden vor den Altären

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/264>, abgerufen am 23.06.2024.