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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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wenn die Natur sich neben dem geistigen Beruf und gegen denselben geltend
macht; wenn das Gebot nicht ausreicht, die Stimme des Herzens zum Schweigen
zu bringen; wenn also in unseren: Fall trotz der vermeintlichen Pflicht der Keusch¬
heit die erste Liebe sich regt. Die Täuschung liegt dann nahe, die Reaction der
öffentlichen Meinung, die ans innerer Nothwendigkeit hervorgeht, als eine Folge
dieser vermeintlichen Schuld, als Strafe Gottes zu betrachten. Die Strafe trifft
aber eigentlich nicht das verletzte spiritualistische Gebot, sondern die verletzte
Natur.

Man sieht, daß alle diese Momente eines tragischen Geschicks in Schiller's
Tragödie angedeutet sind. Angedeutet, aber uicht ausgeführt. -- Die idyllische
Natur, die sie durch ihr Heraustreten verletzt, ist zu wenig im Gegensatz gegen
die politische Welt, in die sie eintritt, detaillirt, und die innere Anwendung ihrer
Stimmung ist zu melodramatisch gehalten, verschwimmt zu sehr in dem Klingklang
schöner Verse, um uus mit der Gewalt eiuer unmittelbaren Wahrheit zu erschüt¬
tern. Für uns bleibt Alles, was vor unserem Ange vorgeht, ein Räthsel und ein
Wunder; unsere Phautaste wird hingerissen, unser Herz bleibt stumm. --

Wenn wir aber diesen Mattgel an innerlicher Wahrheit bei Seite lassen und
uns in die Welt der Romantik, die wir einmal nicht vermeiden können, ergeben,
so müssen wir die hohe Kraft der Poesie bewundern, die ans dieser Romantik ein
Ganzes gemacht hat. -- Ich will nur flüchtig ans den epischen Theil hindeuten.
Schlachten und diplomatische Verhandlungen widerstreben vielleicht am meisten der
dramatischen Behandlung, weil es schwer wird, in ihnen das menschliche Interesse
an den Persönlichkeiten vorwalten zu lassen. Schiller ist darin Meister. Man
merkt in den Schlachtscenen, die sich der Natur der Sache gemäß in diesem Stück
häufen, zwar Shakespeare heraus, aber das Vorbild darf sich der Nachahmung
nicht schämen; und in einem Punkt ist der deutsche Dichter vorzuziehen: die Bühne
zwingt ihn, anch diese zerstreuten Scenen zu concentriren. -- Die Einleitung, die
Schilderung der Noth, in welcher sich Frankreich befindet, und die uur durch ein
Wunder gelöst werdeu kaun, ist unübertrefflich; die Oekonomie in der Steigerung
des Affects, bis er mit dem höchsten Ausbruch schließt, ebenso vollendet als die
Färbung des Ganzen, welche den Geist des mittelalterlich-romantischen Kriegslebens
wiedergibt. In dieser Färbung seiner Stücke, die er jedesmal der individuellen
Handlung anzupassen versteht, übertrifft Schiller alle übrigen deutschen Dichter.
Das Lagerleben im Wallenstein, die freien Bauern im Tell, der Hos Philipp's II.
n. s. w. sind alle gleichen Preises werth.

Ich mache diese Bemerkungen nur nebenbei, mir kommt es hier vorzugsweise
darauf an, in der Darstellung ans denjenigen Punkt aufmerksam zu machen, der
entscheidend ist für die höhere, ideale Einheit des Kunstwerks.

Da der Duft des Romantischen einmal absichtlich vom Dichter über seine
Scenen verbreitet ist, so darf er nicht verwischt werden; im Gegentheil. Die


wenn die Natur sich neben dem geistigen Beruf und gegen denselben geltend
macht; wenn das Gebot nicht ausreicht, die Stimme des Herzens zum Schweigen
zu bringen; wenn also in unseren: Fall trotz der vermeintlichen Pflicht der Keusch¬
heit die erste Liebe sich regt. Die Täuschung liegt dann nahe, die Reaction der
öffentlichen Meinung, die ans innerer Nothwendigkeit hervorgeht, als eine Folge
dieser vermeintlichen Schuld, als Strafe Gottes zu betrachten. Die Strafe trifft
aber eigentlich nicht das verletzte spiritualistische Gebot, sondern die verletzte
Natur.

Man sieht, daß alle diese Momente eines tragischen Geschicks in Schiller's
Tragödie angedeutet sind. Angedeutet, aber uicht ausgeführt. — Die idyllische
Natur, die sie durch ihr Heraustreten verletzt, ist zu wenig im Gegensatz gegen
die politische Welt, in die sie eintritt, detaillirt, und die innere Anwendung ihrer
Stimmung ist zu melodramatisch gehalten, verschwimmt zu sehr in dem Klingklang
schöner Verse, um uus mit der Gewalt eiuer unmittelbaren Wahrheit zu erschüt¬
tern. Für uns bleibt Alles, was vor unserem Ange vorgeht, ein Räthsel und ein
Wunder; unsere Phautaste wird hingerissen, unser Herz bleibt stumm. —

Wenn wir aber diesen Mattgel an innerlicher Wahrheit bei Seite lassen und
uns in die Welt der Romantik, die wir einmal nicht vermeiden können, ergeben,
so müssen wir die hohe Kraft der Poesie bewundern, die ans dieser Romantik ein
Ganzes gemacht hat. — Ich will nur flüchtig ans den epischen Theil hindeuten.
Schlachten und diplomatische Verhandlungen widerstreben vielleicht am meisten der
dramatischen Behandlung, weil es schwer wird, in ihnen das menschliche Interesse
an den Persönlichkeiten vorwalten zu lassen. Schiller ist darin Meister. Man
merkt in den Schlachtscenen, die sich der Natur der Sache gemäß in diesem Stück
häufen, zwar Shakespeare heraus, aber das Vorbild darf sich der Nachahmung
nicht schämen; und in einem Punkt ist der deutsche Dichter vorzuziehen: die Bühne
zwingt ihn, anch diese zerstreuten Scenen zu concentriren. — Die Einleitung, die
Schilderung der Noth, in welcher sich Frankreich befindet, und die uur durch ein
Wunder gelöst werdeu kaun, ist unübertrefflich; die Oekonomie in der Steigerung
des Affects, bis er mit dem höchsten Ausbruch schließt, ebenso vollendet als die
Färbung des Ganzen, welche den Geist des mittelalterlich-romantischen Kriegslebens
wiedergibt. In dieser Färbung seiner Stücke, die er jedesmal der individuellen
Handlung anzupassen versteht, übertrifft Schiller alle übrigen deutschen Dichter.
Das Lagerleben im Wallenstein, die freien Bauern im Tell, der Hos Philipp's II.
n. s. w. sind alle gleichen Preises werth.

Ich mache diese Bemerkungen nur nebenbei, mir kommt es hier vorzugsweise
darauf an, in der Darstellung ans denjenigen Punkt aufmerksam zu machen, der
entscheidend ist für die höhere, ideale Einheit des Kunstwerks.

Da der Duft des Romantischen einmal absichtlich vom Dichter über seine
Scenen verbreitet ist, so darf er nicht verwischt werden; im Gegentheil. Die


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[0257] wenn die Natur sich neben dem geistigen Beruf und gegen denselben geltend macht; wenn das Gebot nicht ausreicht, die Stimme des Herzens zum Schweigen zu bringen; wenn also in unseren: Fall trotz der vermeintlichen Pflicht der Keusch¬ heit die erste Liebe sich regt. Die Täuschung liegt dann nahe, die Reaction der öffentlichen Meinung, die ans innerer Nothwendigkeit hervorgeht, als eine Folge dieser vermeintlichen Schuld, als Strafe Gottes zu betrachten. Die Strafe trifft aber eigentlich nicht das verletzte spiritualistische Gebot, sondern die verletzte Natur. Man sieht, daß alle diese Momente eines tragischen Geschicks in Schiller's Tragödie angedeutet sind. Angedeutet, aber uicht ausgeführt. — Die idyllische Natur, die sie durch ihr Heraustreten verletzt, ist zu wenig im Gegensatz gegen die politische Welt, in die sie eintritt, detaillirt, und die innere Anwendung ihrer Stimmung ist zu melodramatisch gehalten, verschwimmt zu sehr in dem Klingklang schöner Verse, um uus mit der Gewalt eiuer unmittelbaren Wahrheit zu erschüt¬ tern. Für uns bleibt Alles, was vor unserem Ange vorgeht, ein Räthsel und ein Wunder; unsere Phautaste wird hingerissen, unser Herz bleibt stumm. — Wenn wir aber diesen Mattgel an innerlicher Wahrheit bei Seite lassen und uns in die Welt der Romantik, die wir einmal nicht vermeiden können, ergeben, so müssen wir die hohe Kraft der Poesie bewundern, die ans dieser Romantik ein Ganzes gemacht hat. — Ich will nur flüchtig ans den epischen Theil hindeuten. Schlachten und diplomatische Verhandlungen widerstreben vielleicht am meisten der dramatischen Behandlung, weil es schwer wird, in ihnen das menschliche Interesse an den Persönlichkeiten vorwalten zu lassen. Schiller ist darin Meister. Man merkt in den Schlachtscenen, die sich der Natur der Sache gemäß in diesem Stück häufen, zwar Shakespeare heraus, aber das Vorbild darf sich der Nachahmung nicht schämen; und in einem Punkt ist der deutsche Dichter vorzuziehen: die Bühne zwingt ihn, anch diese zerstreuten Scenen zu concentriren. — Die Einleitung, die Schilderung der Noth, in welcher sich Frankreich befindet, und die uur durch ein Wunder gelöst werdeu kaun, ist unübertrefflich; die Oekonomie in der Steigerung des Affects, bis er mit dem höchsten Ausbruch schließt, ebenso vollendet als die Färbung des Ganzen, welche den Geist des mittelalterlich-romantischen Kriegslebens wiedergibt. In dieser Färbung seiner Stücke, die er jedesmal der individuellen Handlung anzupassen versteht, übertrifft Schiller alle übrigen deutschen Dichter. Das Lagerleben im Wallenstein, die freien Bauern im Tell, der Hos Philipp's II. n. s. w. sind alle gleichen Preises werth. Ich mache diese Bemerkungen nur nebenbei, mir kommt es hier vorzugsweise darauf an, in der Darstellung ans denjenigen Punkt aufmerksam zu machen, der entscheidend ist für die höhere, ideale Einheit des Kunstwerks. Da der Duft des Romantischen einmal absichtlich vom Dichter über seine Scenen verbreitet ist, so darf er nicht verwischt werden; im Gegentheil. Die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/257>, abgerufen am 23.06.2024.