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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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eine allgemein menschliche Wahrheit darin. George Sand hat es in einem ihrer
neueren Romane (Jeanne) versucht, einen ähnlichen Charakter unter ähnlichen
Voransschuugeu entstehen zu lassen. Die Hirtin, aufgewachsen in den religiösen,
naiv exaltirten Vorstellungen ihres Volks, zugleich in dem dunkeln, aber energischen
Haß gegen den Nationalfeind, in ihrer Einsamkeit zu sinnig-schwärmerischen Ge¬
danken, d. h. zum Umgang mit Geistern geneigt, kann sehr wohl zu einer Er¬
scheinung der Heiligen kommen, die ihr aufgibt, die Feinde ihres Gottes zu
vernichten. Da sich nun zugleich das Gefühl damit verbindet, daß sie ein sol¬
cher Beruf aus ihrer eigentlichen Natur heraustreiben muß, so wird die Idee
einer exceptionellen Verpflichtung, einer gesteigerten Sittlichkeit, die allein die¬
sen Bruch mit der Natur sühnen kann, sich sehr bald daran knüpfen, und es ist
natürlich, daß der katholischen Jungfrau diese gesteigerte, spiritualistische Sitt¬
lichkeit in der Form der Keuschheit aufgeht. Nur die Himmelsbraut kann ein
würdiges Werkzeug der Mutter Gottes sein. -- Nun ist die That vollbracht, der
latente Enthusiasmus der Nation, der nur eiues zündenden Funkens bedürfte,
um in's Leben zu treten, hat diesen Funken in der Erscheinung der Jungfrau
gesunden und nachher mit selbstständiger Kraft seine Befreiung vollendet. Was
soll nun weiter mit der Jungfrau werden, die nur'als ein vorübergehendes Mo¬
ment einzutreten berufen war? Wenn ein günstiges Geschick ihr den Tod in der
Schlacht verleiht, so ist ihr Schicksal nicht mehr dramatisch, es gehört dem Epos
an. Ueberlebt sie aber den Tag des Sieges, so wird jenes anomale Verhält¬
niß eintreten, daß eine Prophetin, eine Heilige vorhanden ist, die keine Wunder
mehr thut; der Rausch der Begeisterung hat sich verloren, und zieht eine Reaction
nach sich, das Volk wird mißtrauisch gegen seinen eigenem Glauben, gegen seinen Abgott,
der keine unmittelbare Gewalt mehr entfaltet, es begreift nicht mehr, denn es ist
nicht mehr im Rausch, wie jene wunderbaren Wirkungen eiues schwachen Geschöpfs
mit rechten Dingen zugehen konnten. In einem Zeitalter, das allein eine ähn¬
liche Geschichte möglich macht, wird das Mißtrauen sich bald in Entsetzen ver¬
wandeln, man wird die früher angebetete Jungfrau als Hexe verbrennen. Aesthe-
tisch betrachtet, ist das uoch der beste Ausgang, denn in den Kreisen, denen sie
durch ihre Erhebung sich angeschlossen, fände sie keine entsprechende Stellung;
mit ihrer Heimath hat sie gebrochen. -- Ferner: Es ist natürlich, in der Natur
der Seele begründet, und eine höhere tragische Ironie, daß sich diese äußerliche
Reaction anch innerlich in dem Geist der Heldin nachbildet. In ihrer Erhebung
liegt ein Bruch mit ihrer ursprünglichen Natur, eine wenn auch unfreiwillige
Schuld; es sprechen zwei Geister in ihrer Brust, von deuen der eine den andern
nicht versteht. Sobald die Exaltation, die nicht über eine gewisse Zeit dauern
.kann, vorüber ist, wird diese Selbstentzweiung als Schmerz empfunden. Der
Schmerz gestaltet sich in einem religiösen Gemüth als Gefühl der Schuld, und es
ist ein sehr begreiflicher Proceß, daß dieses Gefühl zum erstenmale lebhaft hervortritt,


eine allgemein menschliche Wahrheit darin. George Sand hat es in einem ihrer
neueren Romane (Jeanne) versucht, einen ähnlichen Charakter unter ähnlichen
Voransschuugeu entstehen zu lassen. Die Hirtin, aufgewachsen in den religiösen,
naiv exaltirten Vorstellungen ihres Volks, zugleich in dem dunkeln, aber energischen
Haß gegen den Nationalfeind, in ihrer Einsamkeit zu sinnig-schwärmerischen Ge¬
danken, d. h. zum Umgang mit Geistern geneigt, kann sehr wohl zu einer Er¬
scheinung der Heiligen kommen, die ihr aufgibt, die Feinde ihres Gottes zu
vernichten. Da sich nun zugleich das Gefühl damit verbindet, daß sie ein sol¬
cher Beruf aus ihrer eigentlichen Natur heraustreiben muß, so wird die Idee
einer exceptionellen Verpflichtung, einer gesteigerten Sittlichkeit, die allein die¬
sen Bruch mit der Natur sühnen kann, sich sehr bald daran knüpfen, und es ist
natürlich, daß der katholischen Jungfrau diese gesteigerte, spiritualistische Sitt¬
lichkeit in der Form der Keuschheit aufgeht. Nur die Himmelsbraut kann ein
würdiges Werkzeug der Mutter Gottes sein. — Nun ist die That vollbracht, der
latente Enthusiasmus der Nation, der nur eiues zündenden Funkens bedürfte,
um in's Leben zu treten, hat diesen Funken in der Erscheinung der Jungfrau
gesunden und nachher mit selbstständiger Kraft seine Befreiung vollendet. Was
soll nun weiter mit der Jungfrau werden, die nur'als ein vorübergehendes Mo¬
ment einzutreten berufen war? Wenn ein günstiges Geschick ihr den Tod in der
Schlacht verleiht, so ist ihr Schicksal nicht mehr dramatisch, es gehört dem Epos
an. Ueberlebt sie aber den Tag des Sieges, so wird jenes anomale Verhält¬
niß eintreten, daß eine Prophetin, eine Heilige vorhanden ist, die keine Wunder
mehr thut; der Rausch der Begeisterung hat sich verloren, und zieht eine Reaction
nach sich, das Volk wird mißtrauisch gegen seinen eigenem Glauben, gegen seinen Abgott,
der keine unmittelbare Gewalt mehr entfaltet, es begreift nicht mehr, denn es ist
nicht mehr im Rausch, wie jene wunderbaren Wirkungen eiues schwachen Geschöpfs
mit rechten Dingen zugehen konnten. In einem Zeitalter, das allein eine ähn¬
liche Geschichte möglich macht, wird das Mißtrauen sich bald in Entsetzen ver¬
wandeln, man wird die früher angebetete Jungfrau als Hexe verbrennen. Aesthe-
tisch betrachtet, ist das uoch der beste Ausgang, denn in den Kreisen, denen sie
durch ihre Erhebung sich angeschlossen, fände sie keine entsprechende Stellung;
mit ihrer Heimath hat sie gebrochen. — Ferner: Es ist natürlich, in der Natur
der Seele begründet, und eine höhere tragische Ironie, daß sich diese äußerliche
Reaction anch innerlich in dem Geist der Heldin nachbildet. In ihrer Erhebung
liegt ein Bruch mit ihrer ursprünglichen Natur, eine wenn auch unfreiwillige
Schuld; es sprechen zwei Geister in ihrer Brust, von deuen der eine den andern
nicht versteht. Sobald die Exaltation, die nicht über eine gewisse Zeit dauern
.kann, vorüber ist, wird diese Selbstentzweiung als Schmerz empfunden. Der
Schmerz gestaltet sich in einem religiösen Gemüth als Gefühl der Schuld, und es
ist ein sehr begreiflicher Proceß, daß dieses Gefühl zum erstenmale lebhaft hervortritt,


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[0256] eine allgemein menschliche Wahrheit darin. George Sand hat es in einem ihrer neueren Romane (Jeanne) versucht, einen ähnlichen Charakter unter ähnlichen Voransschuugeu entstehen zu lassen. Die Hirtin, aufgewachsen in den religiösen, naiv exaltirten Vorstellungen ihres Volks, zugleich in dem dunkeln, aber energischen Haß gegen den Nationalfeind, in ihrer Einsamkeit zu sinnig-schwärmerischen Ge¬ danken, d. h. zum Umgang mit Geistern geneigt, kann sehr wohl zu einer Er¬ scheinung der Heiligen kommen, die ihr aufgibt, die Feinde ihres Gottes zu vernichten. Da sich nun zugleich das Gefühl damit verbindet, daß sie ein sol¬ cher Beruf aus ihrer eigentlichen Natur heraustreiben muß, so wird die Idee einer exceptionellen Verpflichtung, einer gesteigerten Sittlichkeit, die allein die¬ sen Bruch mit der Natur sühnen kann, sich sehr bald daran knüpfen, und es ist natürlich, daß der katholischen Jungfrau diese gesteigerte, spiritualistische Sitt¬ lichkeit in der Form der Keuschheit aufgeht. Nur die Himmelsbraut kann ein würdiges Werkzeug der Mutter Gottes sein. — Nun ist die That vollbracht, der latente Enthusiasmus der Nation, der nur eiues zündenden Funkens bedürfte, um in's Leben zu treten, hat diesen Funken in der Erscheinung der Jungfrau gesunden und nachher mit selbstständiger Kraft seine Befreiung vollendet. Was soll nun weiter mit der Jungfrau werden, die nur'als ein vorübergehendes Mo¬ ment einzutreten berufen war? Wenn ein günstiges Geschick ihr den Tod in der Schlacht verleiht, so ist ihr Schicksal nicht mehr dramatisch, es gehört dem Epos an. Ueberlebt sie aber den Tag des Sieges, so wird jenes anomale Verhält¬ niß eintreten, daß eine Prophetin, eine Heilige vorhanden ist, die keine Wunder mehr thut; der Rausch der Begeisterung hat sich verloren, und zieht eine Reaction nach sich, das Volk wird mißtrauisch gegen seinen eigenem Glauben, gegen seinen Abgott, der keine unmittelbare Gewalt mehr entfaltet, es begreift nicht mehr, denn es ist nicht mehr im Rausch, wie jene wunderbaren Wirkungen eiues schwachen Geschöpfs mit rechten Dingen zugehen konnten. In einem Zeitalter, das allein eine ähn¬ liche Geschichte möglich macht, wird das Mißtrauen sich bald in Entsetzen ver¬ wandeln, man wird die früher angebetete Jungfrau als Hexe verbrennen. Aesthe- tisch betrachtet, ist das uoch der beste Ausgang, denn in den Kreisen, denen sie durch ihre Erhebung sich angeschlossen, fände sie keine entsprechende Stellung; mit ihrer Heimath hat sie gebrochen. — Ferner: Es ist natürlich, in der Natur der Seele begründet, und eine höhere tragische Ironie, daß sich diese äußerliche Reaction anch innerlich in dem Geist der Heldin nachbildet. In ihrer Erhebung liegt ein Bruch mit ihrer ursprünglichen Natur, eine wenn auch unfreiwillige Schuld; es sprechen zwei Geister in ihrer Brust, von deuen der eine den andern nicht versteht. Sobald die Exaltation, die nicht über eine gewisse Zeit dauern .kann, vorüber ist, wird diese Selbstentzweiung als Schmerz empfunden. Der Schmerz gestaltet sich in einem religiösen Gemüth als Gefühl der Schuld, und es ist ein sehr begreiflicher Proceß, daß dieses Gefühl zum erstenmale lebhaft hervortritt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/256>, abgerufen am 23.06.2024.