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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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durch die Gewalt seiner Darstellung so hinzureißen, daß die Mehrzahl der Zu¬
hörer vergessen, wie fremd ihnen eigentlich die ganze Weltanschauung sei, die ihnen
auf deu Bretern vorgeführt wird. Freilich kommt uoch ein anderer Umstand
hinzu: wir lernen Schiller in einer Zeit kennen, wo wir noch kein selbständiges
Urtheil haben; wir lassen uus durch das, was das Schlechteste in ihm ist, durch
seiue Declamation (z. B. in der Jungfrau durch die beiden berühmten Monologe)
bezaubern, und denken so iveilig darau, ihn aus der Ferne zu betrachten, das; wir
später erstaunen, wenn uus gesagt wird, es sei etwas Fremdes darin.

Jene transcendente sittliche Idee ist aber der Mittelpunkt der Tragödie.
Nicht der Mittelpuut't des episch eil Theils, der Schlachten le. s. w., aber des-
jenigen, was das Drama macht, der Entwickelung des Verhältnisses von Schuld
lind Schicksal. Die andern uubeautworteteu Fragen hängen sich daran. Wir
erfahren z. B. nicht, warum sich die heilige Jungfrau so leidenschaftlich für die
Franzosen gegen die Engländer, für Karl VII. gegen Heinrich VI. interessirt, lind
es ist ein Symptom jener eigenthümlichen Weimarer Treibhaus-Bildung, die unter
der Glasglocke gedieh, daß dieser Unterschied in einer Zeit gemacht wird (1801),
wo die Franzosen Deutschland räuberisch bekriegten, und die ruhmgekröute Fahne
Englands für Deutschland allfgepflauzt wurde.

Weil jene räthselhaften l"it uur individuell begreiflichen sittlichen Voralts-
setznngen uns nicht bewiesen, d. h. kunst individuell erläiltert, nicht psychologisch
motivirt, und ebensowenig dnrch den Verlauf des Stücks in eine höhere, d. h.
deutlichere sittliche Idee aufgelöst werdeu, soudern sich ohne Weiteres als giltig
und zu Recht bestehend darstellen, so können wir die "Jungfrau vou Orleans"
Nllr ni die Reihe jener katholischen Tragödien stellen, die auf dem Autoritätsglauben
fußen.. Die protestantische Tragödie läßt nicht ab, nach dem ,,Warum?" zu fragen,
auch wo sie Gottes Finger sieht, und dieses schmerzliche Rechten mit Gott ist der
springende Punkt der modernen Tragödie überhaupt. Aber Schiller's Dichtung
unterscheidet sich von Calderon dadurch, daß der Letztere mit seinen wlmdersamen,
zuletzt auf einer krassen Bigotterie beruhenden Voraussetzungen nur uus, die Pro-
testanten des 19. Jahrhunderts, in Erstannen setzt; nicht seine Zeitgenossen, nicht
sein Volk, und daß darum bei ihm sich eine, wenn auch sehr beschränkte Harmonie
herstellt, während in Schiller'S Sprache zu viel von der Bildung und Humanität
der neuen Zeit durchblickt, als daß von einer Einheit der Idee die Rede sein
könnte. Aber das ist eben der Grund, warum wir uns täuschen lassen, während
uns Calderon's Andacht zum Kreuz u. s. w. entsetzt, glauben wir in Schiller
illis stets im Kreise unserer gewohnten Bildung zu finden, obgleich der Eine uns
nicht mehr dem Boden, dem Tummelplatz unserer Leiden und Freuden, entrückt,
als der Andere.

Diese Fremdartigkeit liegt nicht eigentlich im Stoff. Das Schicksal der
Jungfrau an sich ist tragisch, d. h. es ist eine innere, höhere Nothwendigkeit nud


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durch die Gewalt seiner Darstellung so hinzureißen, daß die Mehrzahl der Zu¬
hörer vergessen, wie fremd ihnen eigentlich die ganze Weltanschauung sei, die ihnen
auf deu Bretern vorgeführt wird. Freilich kommt uoch ein anderer Umstand
hinzu: wir lernen Schiller in einer Zeit kennen, wo wir noch kein selbständiges
Urtheil haben; wir lassen uus durch das, was das Schlechteste in ihm ist, durch
seiue Declamation (z. B. in der Jungfrau durch die beiden berühmten Monologe)
bezaubern, und denken so iveilig darau, ihn aus der Ferne zu betrachten, das; wir
später erstaunen, wenn uus gesagt wird, es sei etwas Fremdes darin.

Jene transcendente sittliche Idee ist aber der Mittelpunkt der Tragödie.
Nicht der Mittelpuut't des episch eil Theils, der Schlachten le. s. w., aber des-
jenigen, was das Drama macht, der Entwickelung des Verhältnisses von Schuld
lind Schicksal. Die andern uubeautworteteu Fragen hängen sich daran. Wir
erfahren z. B. nicht, warum sich die heilige Jungfrau so leidenschaftlich für die
Franzosen gegen die Engländer, für Karl VII. gegen Heinrich VI. interessirt, lind
es ist ein Symptom jener eigenthümlichen Weimarer Treibhaus-Bildung, die unter
der Glasglocke gedieh, daß dieser Unterschied in einer Zeit gemacht wird (1801),
wo die Franzosen Deutschland räuberisch bekriegten, und die ruhmgekröute Fahne
Englands für Deutschland allfgepflauzt wurde.

Weil jene räthselhaften l»it uur individuell begreiflichen sittlichen Voralts-
setznngen uns nicht bewiesen, d. h. kunst individuell erläiltert, nicht psychologisch
motivirt, und ebensowenig dnrch den Verlauf des Stücks in eine höhere, d. h.
deutlichere sittliche Idee aufgelöst werdeu, soudern sich ohne Weiteres als giltig
und zu Recht bestehend darstellen, so können wir die „Jungfrau vou Orleans"
Nllr ni die Reihe jener katholischen Tragödien stellen, die auf dem Autoritätsglauben
fußen.. Die protestantische Tragödie läßt nicht ab, nach dem ,,Warum?" zu fragen,
auch wo sie Gottes Finger sieht, und dieses schmerzliche Rechten mit Gott ist der
springende Punkt der modernen Tragödie überhaupt. Aber Schiller's Dichtung
unterscheidet sich von Calderon dadurch, daß der Letztere mit seinen wlmdersamen,
zuletzt auf einer krassen Bigotterie beruhenden Voraussetzungen nur uus, die Pro-
testanten des 19. Jahrhunderts, in Erstannen setzt; nicht seine Zeitgenossen, nicht
sein Volk, und daß darum bei ihm sich eine, wenn auch sehr beschränkte Harmonie
herstellt, während in Schiller'S Sprache zu viel von der Bildung und Humanität
der neuen Zeit durchblickt, als daß von einer Einheit der Idee die Rede sein
könnte. Aber das ist eben der Grund, warum wir uns täuschen lassen, während
uns Calderon's Andacht zum Kreuz u. s. w. entsetzt, glauben wir in Schiller
illis stets im Kreise unserer gewohnten Bildung zu finden, obgleich der Eine uns
nicht mehr dem Boden, dem Tummelplatz unserer Leiden und Freuden, entrückt,
als der Andere.

Diese Fremdartigkeit liegt nicht eigentlich im Stoff. Das Schicksal der
Jungfrau an sich ist tragisch, d. h. es ist eine innere, höhere Nothwendigkeit nud


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[0255] durch die Gewalt seiner Darstellung so hinzureißen, daß die Mehrzahl der Zu¬ hörer vergessen, wie fremd ihnen eigentlich die ganze Weltanschauung sei, die ihnen auf deu Bretern vorgeführt wird. Freilich kommt uoch ein anderer Umstand hinzu: wir lernen Schiller in einer Zeit kennen, wo wir noch kein selbständiges Urtheil haben; wir lassen uus durch das, was das Schlechteste in ihm ist, durch seiue Declamation (z. B. in der Jungfrau durch die beiden berühmten Monologe) bezaubern, und denken so iveilig darau, ihn aus der Ferne zu betrachten, das; wir später erstaunen, wenn uus gesagt wird, es sei etwas Fremdes darin. Jene transcendente sittliche Idee ist aber der Mittelpunkt der Tragödie. Nicht der Mittelpuut't des episch eil Theils, der Schlachten le. s. w., aber des- jenigen, was das Drama macht, der Entwickelung des Verhältnisses von Schuld lind Schicksal. Die andern uubeautworteteu Fragen hängen sich daran. Wir erfahren z. B. nicht, warum sich die heilige Jungfrau so leidenschaftlich für die Franzosen gegen die Engländer, für Karl VII. gegen Heinrich VI. interessirt, lind es ist ein Symptom jener eigenthümlichen Weimarer Treibhaus-Bildung, die unter der Glasglocke gedieh, daß dieser Unterschied in einer Zeit gemacht wird (1801), wo die Franzosen Deutschland räuberisch bekriegten, und die ruhmgekröute Fahne Englands für Deutschland allfgepflauzt wurde. Weil jene räthselhaften l»it uur individuell begreiflichen sittlichen Voralts- setznngen uns nicht bewiesen, d. h. kunst individuell erläiltert, nicht psychologisch motivirt, und ebensowenig dnrch den Verlauf des Stücks in eine höhere, d. h. deutlichere sittliche Idee aufgelöst werdeu, soudern sich ohne Weiteres als giltig und zu Recht bestehend darstellen, so können wir die „Jungfrau vou Orleans" Nllr ni die Reihe jener katholischen Tragödien stellen, die auf dem Autoritätsglauben fußen.. Die protestantische Tragödie läßt nicht ab, nach dem ,,Warum?" zu fragen, auch wo sie Gottes Finger sieht, und dieses schmerzliche Rechten mit Gott ist der springende Punkt der modernen Tragödie überhaupt. Aber Schiller's Dichtung unterscheidet sich von Calderon dadurch, daß der Letztere mit seinen wlmdersamen, zuletzt auf einer krassen Bigotterie beruhenden Voraussetzungen nur uus, die Pro- testanten des 19. Jahrhunderts, in Erstannen setzt; nicht seine Zeitgenossen, nicht sein Volk, und daß darum bei ihm sich eine, wenn auch sehr beschränkte Harmonie herstellt, während in Schiller'S Sprache zu viel von der Bildung und Humanität der neuen Zeit durchblickt, als daß von einer Einheit der Idee die Rede sein könnte. Aber das ist eben der Grund, warum wir uns täuschen lassen, während uns Calderon's Andacht zum Kreuz u. s. w. entsetzt, glauben wir in Schiller illis stets im Kreise unserer gewohnten Bildung zu finden, obgleich der Eine uns nicht mehr dem Boden, dem Tummelplatz unserer Leiden und Freuden, entrückt, als der Andere. Diese Fremdartigkeit liegt nicht eigentlich im Stoff. Das Schicksal der Jungfrau an sich ist tragisch, d. h. es ist eine innere, höhere Nothwendigkeit nud 31*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/255>, abgerufen am 23.06.2024.