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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Wenn also die Kritik, deren Aufgabe es lediglich ist, Principien zu entwickeln,
nicht leeres Stroh dreschen will, so muß sie sich von Zeit zu Zeit zu der älteren
Literatur znrückwenden. Die Bühne selbst geht ihr darin mit gutem Beispiel
voran, und die Aufgabe ist keine unfruchtbare, weil der Gesichtspunkt, von dem
aus wir ein Kunstwerk der alten Zeit betrachten, ein anderer ist, und darum
auch die Perspective eine neue. --

Wir haben es hier mit Schiller's Jungfran von Orleans zu'thun.") Sie
ist noch immer ein Zngstück unserer Bühnen. Jede hübsche Schauspielerin, die
gut declamirt, und sich bewußt ist, daß ihr der Harnisch gut steht, wählt sie zu
ihrem Debüt. Auch in Leipzig ist sie neulich wieder hervorgesucht worden. --

Wenn man den höchsten Maßstab der Poesie an dieses Drama legt, den
Maßstab, der die allen Zeiten und allen Völker"! gleichmäßig angehörigen, ewigen
(classischen) Kunstwerke von den nnr historisch bedeutenden Kunstwerken scheidet,
so kaun sie freilich vor demselben nicht bestehen.

Diese Grundbedingung der Elasticität möchte ich so ausdrücken. Ein classi¬
sches Werk muß auf jedes Gemüth neu und überraschend einwirken, und doch nur
darum überraschend, weil wir erstaunen, uicht selber das schou erkannt und em¬
pfunden zu haben, was der Dichter mit überwältigender Wahrheit und Natur vor
unsere Seele führt. Die reine Kunst fordert unbedingte Wahrheit; eine
Wahrheit, die überall erkannt, begriffen und nachempfunden werden muß, wo es
frei denkende und frei empfindende Menschen gibt. Ein Kunstwerk, welches nur
gebrochene, bedingte Wahrheit enthält, ist uicht ewig.

Schiller ist sich sehr wohl bewußt gewesen, daß die sittliche Basis, auf welcher
er seiue Tragödie aufbaut, nicht so fest war, daß sie der Zeit Widerstand leisten
könnte. Er hat sie darum ganz mit Recht eine romantische Tragödie genannt.

Der Gemütszustand der Jungfran, welche durch eine innere Vision aus
dem gewöhnlichen Kreise ihres Lebeus herausgedrängt, und in eine der mensch¬
lichen Natur und der Natur ihres Geschlechts entgegengesetzte sittliche Idee ver¬
strickt wird, in die Idee, daß sie in sich jedes Mitleid und namentlich jede zartere
Regung verbannen müsse, um ein reines Gefäß der Gottheit zu bleiben; und
die von dieser Idee so tief durchdrungen ist, daß sie die erste menschliche Re-
gung in ihrem Busen, die natürlich unfreiwillig kommt, als eine Sünde und
Verdammuiß empfindet -- ein solcher Gemüthszustand ist ein exceptioneller, und
kaun von uns nicht unmittelbar mitempfunden werden; wir können ihn uns nur
durch psychologische Motivirung erklären. Diese Motivirung hat der Dichter unter¬
lassen; er setzt die sittlichen Principien als gegeben voraus, und weiß uns



Diejenigen Leser, welche die litemnsche Kritik der Grenzboten im Zusammenhang
verfolgen, erinnere ich an die Gesammtansicht von Schiller, welche diese Blätter im 47. Heft
deö vorigen Jahres gegeben haben.

Wenn also die Kritik, deren Aufgabe es lediglich ist, Principien zu entwickeln,
nicht leeres Stroh dreschen will, so muß sie sich von Zeit zu Zeit zu der älteren
Literatur znrückwenden. Die Bühne selbst geht ihr darin mit gutem Beispiel
voran, und die Aufgabe ist keine unfruchtbare, weil der Gesichtspunkt, von dem
aus wir ein Kunstwerk der alten Zeit betrachten, ein anderer ist, und darum
auch die Perspective eine neue. —

Wir haben es hier mit Schiller's Jungfran von Orleans zu'thun.") Sie
ist noch immer ein Zngstück unserer Bühnen. Jede hübsche Schauspielerin, die
gut declamirt, und sich bewußt ist, daß ihr der Harnisch gut steht, wählt sie zu
ihrem Debüt. Auch in Leipzig ist sie neulich wieder hervorgesucht worden. —

Wenn man den höchsten Maßstab der Poesie an dieses Drama legt, den
Maßstab, der die allen Zeiten und allen Völker»! gleichmäßig angehörigen, ewigen
(classischen) Kunstwerke von den nnr historisch bedeutenden Kunstwerken scheidet,
so kaun sie freilich vor demselben nicht bestehen.

Diese Grundbedingung der Elasticität möchte ich so ausdrücken. Ein classi¬
sches Werk muß auf jedes Gemüth neu und überraschend einwirken, und doch nur
darum überraschend, weil wir erstaunen, uicht selber das schou erkannt und em¬
pfunden zu haben, was der Dichter mit überwältigender Wahrheit und Natur vor
unsere Seele führt. Die reine Kunst fordert unbedingte Wahrheit; eine
Wahrheit, die überall erkannt, begriffen und nachempfunden werden muß, wo es
frei denkende und frei empfindende Menschen gibt. Ein Kunstwerk, welches nur
gebrochene, bedingte Wahrheit enthält, ist uicht ewig.

Schiller ist sich sehr wohl bewußt gewesen, daß die sittliche Basis, auf welcher
er seiue Tragödie aufbaut, nicht so fest war, daß sie der Zeit Widerstand leisten
könnte. Er hat sie darum ganz mit Recht eine romantische Tragödie genannt.

Der Gemütszustand der Jungfran, welche durch eine innere Vision aus
dem gewöhnlichen Kreise ihres Lebeus herausgedrängt, und in eine der mensch¬
lichen Natur und der Natur ihres Geschlechts entgegengesetzte sittliche Idee ver¬
strickt wird, in die Idee, daß sie in sich jedes Mitleid und namentlich jede zartere
Regung verbannen müsse, um ein reines Gefäß der Gottheit zu bleiben; und
die von dieser Idee so tief durchdrungen ist, daß sie die erste menschliche Re-
gung in ihrem Busen, die natürlich unfreiwillig kommt, als eine Sünde und
Verdammuiß empfindet — ein solcher Gemüthszustand ist ein exceptioneller, und
kaun von uns nicht unmittelbar mitempfunden werden; wir können ihn uns nur
durch psychologische Motivirung erklären. Diese Motivirung hat der Dichter unter¬
lassen; er setzt die sittlichen Principien als gegeben voraus, und weiß uns



Diejenigen Leser, welche die litemnsche Kritik der Grenzboten im Zusammenhang
verfolgen, erinnere ich an die Gesammtansicht von Schiller, welche diese Blätter im 47. Heft
deö vorigen Jahres gegeben haben.
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[0254] Wenn also die Kritik, deren Aufgabe es lediglich ist, Principien zu entwickeln, nicht leeres Stroh dreschen will, so muß sie sich von Zeit zu Zeit zu der älteren Literatur znrückwenden. Die Bühne selbst geht ihr darin mit gutem Beispiel voran, und die Aufgabe ist keine unfruchtbare, weil der Gesichtspunkt, von dem aus wir ein Kunstwerk der alten Zeit betrachten, ein anderer ist, und darum auch die Perspective eine neue. — Wir haben es hier mit Schiller's Jungfran von Orleans zu'thun.") Sie ist noch immer ein Zngstück unserer Bühnen. Jede hübsche Schauspielerin, die gut declamirt, und sich bewußt ist, daß ihr der Harnisch gut steht, wählt sie zu ihrem Debüt. Auch in Leipzig ist sie neulich wieder hervorgesucht worden. — Wenn man den höchsten Maßstab der Poesie an dieses Drama legt, den Maßstab, der die allen Zeiten und allen Völker»! gleichmäßig angehörigen, ewigen (classischen) Kunstwerke von den nnr historisch bedeutenden Kunstwerken scheidet, so kaun sie freilich vor demselben nicht bestehen. Diese Grundbedingung der Elasticität möchte ich so ausdrücken. Ein classi¬ sches Werk muß auf jedes Gemüth neu und überraschend einwirken, und doch nur darum überraschend, weil wir erstaunen, uicht selber das schou erkannt und em¬ pfunden zu haben, was der Dichter mit überwältigender Wahrheit und Natur vor unsere Seele führt. Die reine Kunst fordert unbedingte Wahrheit; eine Wahrheit, die überall erkannt, begriffen und nachempfunden werden muß, wo es frei denkende und frei empfindende Menschen gibt. Ein Kunstwerk, welches nur gebrochene, bedingte Wahrheit enthält, ist uicht ewig. Schiller ist sich sehr wohl bewußt gewesen, daß die sittliche Basis, auf welcher er seiue Tragödie aufbaut, nicht so fest war, daß sie der Zeit Widerstand leisten könnte. Er hat sie darum ganz mit Recht eine romantische Tragödie genannt. Der Gemütszustand der Jungfran, welche durch eine innere Vision aus dem gewöhnlichen Kreise ihres Lebeus herausgedrängt, und in eine der mensch¬ lichen Natur und der Natur ihres Geschlechts entgegengesetzte sittliche Idee ver¬ strickt wird, in die Idee, daß sie in sich jedes Mitleid und namentlich jede zartere Regung verbannen müsse, um ein reines Gefäß der Gottheit zu bleiben; und die von dieser Idee so tief durchdrungen ist, daß sie die erste menschliche Re- gung in ihrem Busen, die natürlich unfreiwillig kommt, als eine Sünde und Verdammuiß empfindet — ein solcher Gemüthszustand ist ein exceptioneller, und kaun von uns nicht unmittelbar mitempfunden werden; wir können ihn uns nur durch psychologische Motivirung erklären. Diese Motivirung hat der Dichter unter¬ lassen; er setzt die sittlichen Principien als gegeben voraus, und weiß uns Diejenigen Leser, welche die litemnsche Kritik der Grenzboten im Zusammenhang verfolgen, erinnere ich an die Gesammtansicht von Schiller, welche diese Blätter im 47. Heft deö vorigen Jahres gegeben haben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/254>, abgerufen am 23.06.2024.