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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Die Jungfrau von Orleans

Die ästhetische Kritik hat in unsern Tagen eine ebenso schwere als undankbare
Aufgabe; ihre Stellung ist noch mißlicher, als im Gebiet der Politik, wo sie
doch wenigstens in Mitten einer Partei steht, und wo man es der Opposition,
der es versagt ist, unmittelbar in den Gang der Ereignisse einzugreifen, als
altes, wohlerworbenes Recht zuerkennt, die herrschende Gewalt durch schicklich
angebrachte Malicen zu ärgern. Es ist doch immer ein Gegenstand vorhanden,
an dem sie ihren Zorn auslassen kann.

In der Kunst sind wir aber in Deutschland bald so weit, daß uns der Ge¬
genstand fehlt. In den Romantikern, im jungen Deutschland u. s. w. konnte
man falsche Principien bekämpfen. Es waren Tendenzen und Talente vorhanden,
die mau, je nach seiner Neigung, ermuthigen oder warnen, antreiben oder in
die Schranken zurückweisen mochte. Heut zu Tage wird es aber bald dahin
kommen, daß jede Provinzialstadt ihre zwei oder drei Dutzend Localdichter hat,
die ihren persönlichen Freunden durch ein neues Stück eine vorübergehende Freude
macheu, und deren Namen ein Paar Meilen davon nicht mehr bekannt sind, Dichter,
die an dem unvermeidlichen Referat der Tageblätter ihr vollständiges Genüge
haben können, bei denen jeder ernsthafte Tadel eine verlorene Mühe wäre. Mau
kann wohl Gutzkow, Mosenthal wegen der Inconsequenz, Hebbel wegen der Ver¬
zerrung ihrer Charakterzeichnung angreifen, denn es ist doch der Anlauf zu Cha¬
rakteren da; seitdem man sich aber wieder aus das historische Genre geworfen hat,
und sich damit begnügt, ein Paar Seiten ans Becker's Weltgeschichte in leidliche
Jamben zu übersetzen, hat die Kritik nichts mehr zu sagen. Gutzkow hat das
große Verdienst, die dramatische Poesie wieder auf das Feld geleitet zu haben,
auf dem eine werdende Poesie allem eine lebendige Nahrung findet: auf die
Beobachtung des gewöhnlichen Lebens, der Familie u. f. w.; auch wenn der Dichter
diese Verhältnisse mißversteht, ist es doch immer eine Art vou Verständniß,
auf das sich weiter bauen läßt; historische Compendien aber kann man in alle
Ewigkeit fort versisicireu, ohne sich auch uur bis zum Mißverständniß zu erheben.


Grenzboten. I. 18S1. 31
Die Jungfrau von Orleans

Die ästhetische Kritik hat in unsern Tagen eine ebenso schwere als undankbare
Aufgabe; ihre Stellung ist noch mißlicher, als im Gebiet der Politik, wo sie
doch wenigstens in Mitten einer Partei steht, und wo man es der Opposition,
der es versagt ist, unmittelbar in den Gang der Ereignisse einzugreifen, als
altes, wohlerworbenes Recht zuerkennt, die herrschende Gewalt durch schicklich
angebrachte Malicen zu ärgern. Es ist doch immer ein Gegenstand vorhanden,
an dem sie ihren Zorn auslassen kann.

In der Kunst sind wir aber in Deutschland bald so weit, daß uns der Ge¬
genstand fehlt. In den Romantikern, im jungen Deutschland u. s. w. konnte
man falsche Principien bekämpfen. Es waren Tendenzen und Talente vorhanden,
die mau, je nach seiner Neigung, ermuthigen oder warnen, antreiben oder in
die Schranken zurückweisen mochte. Heut zu Tage wird es aber bald dahin
kommen, daß jede Provinzialstadt ihre zwei oder drei Dutzend Localdichter hat,
die ihren persönlichen Freunden durch ein neues Stück eine vorübergehende Freude
macheu, und deren Namen ein Paar Meilen davon nicht mehr bekannt sind, Dichter,
die an dem unvermeidlichen Referat der Tageblätter ihr vollständiges Genüge
haben können, bei denen jeder ernsthafte Tadel eine verlorene Mühe wäre. Mau
kann wohl Gutzkow, Mosenthal wegen der Inconsequenz, Hebbel wegen der Ver¬
zerrung ihrer Charakterzeichnung angreifen, denn es ist doch der Anlauf zu Cha¬
rakteren da; seitdem man sich aber wieder aus das historische Genre geworfen hat,
und sich damit begnügt, ein Paar Seiten ans Becker's Weltgeschichte in leidliche
Jamben zu übersetzen, hat die Kritik nichts mehr zu sagen. Gutzkow hat das
große Verdienst, die dramatische Poesie wieder auf das Feld geleitet zu haben,
auf dem eine werdende Poesie allem eine lebendige Nahrung findet: auf die
Beobachtung des gewöhnlichen Lebens, der Familie u. f. w.; auch wenn der Dichter
diese Verhältnisse mißversteht, ist es doch immer eine Art vou Verständniß,
auf das sich weiter bauen läßt; historische Compendien aber kann man in alle
Ewigkeit fort versisicireu, ohne sich auch uur bis zum Mißverständniß zu erheben.


Grenzboten. I. 18S1. 31
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[0253] Die Jungfrau von Orleans Die ästhetische Kritik hat in unsern Tagen eine ebenso schwere als undankbare Aufgabe; ihre Stellung ist noch mißlicher, als im Gebiet der Politik, wo sie doch wenigstens in Mitten einer Partei steht, und wo man es der Opposition, der es versagt ist, unmittelbar in den Gang der Ereignisse einzugreifen, als altes, wohlerworbenes Recht zuerkennt, die herrschende Gewalt durch schicklich angebrachte Malicen zu ärgern. Es ist doch immer ein Gegenstand vorhanden, an dem sie ihren Zorn auslassen kann. In der Kunst sind wir aber in Deutschland bald so weit, daß uns der Ge¬ genstand fehlt. In den Romantikern, im jungen Deutschland u. s. w. konnte man falsche Principien bekämpfen. Es waren Tendenzen und Talente vorhanden, die mau, je nach seiner Neigung, ermuthigen oder warnen, antreiben oder in die Schranken zurückweisen mochte. Heut zu Tage wird es aber bald dahin kommen, daß jede Provinzialstadt ihre zwei oder drei Dutzend Localdichter hat, die ihren persönlichen Freunden durch ein neues Stück eine vorübergehende Freude macheu, und deren Namen ein Paar Meilen davon nicht mehr bekannt sind, Dichter, die an dem unvermeidlichen Referat der Tageblätter ihr vollständiges Genüge haben können, bei denen jeder ernsthafte Tadel eine verlorene Mühe wäre. Mau kann wohl Gutzkow, Mosenthal wegen der Inconsequenz, Hebbel wegen der Ver¬ zerrung ihrer Charakterzeichnung angreifen, denn es ist doch der Anlauf zu Cha¬ rakteren da; seitdem man sich aber wieder aus das historische Genre geworfen hat, und sich damit begnügt, ein Paar Seiten ans Becker's Weltgeschichte in leidliche Jamben zu übersetzen, hat die Kritik nichts mehr zu sagen. Gutzkow hat das große Verdienst, die dramatische Poesie wieder auf das Feld geleitet zu haben, auf dem eine werdende Poesie allem eine lebendige Nahrung findet: auf die Beobachtung des gewöhnlichen Lebens, der Familie u. f. w.; auch wenn der Dichter diese Verhältnisse mißversteht, ist es doch immer eine Art vou Verständniß, auf das sich weiter bauen läßt; historische Compendien aber kann man in alle Ewigkeit fort versisicireu, ohne sich auch uur bis zum Mißverständniß zu erheben. Grenzboten. I. 18S1. 31

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/253>, abgerufen am 23.06.2024.