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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Sumpf, Schilf und unzugängliche Wälder zu besitze", oder deutsch gesagt, Un¬
wissenheit und Faulheit.

Ju den Sumpfgegenden bestehen die Waldungen fast nur aus Laubholz.
Nur auf sandigen Erhöhungen ragt das Nadelholz empor. In den Tiefen breitet
sich der wahre Urwald, und es gibt gewisse Theile, welche seit Jahrhunderten
wohl nie eines Menschen Fuß betreten hat. Wie in den amerikanischen Urwäldern
ist auch hier die Natur selbst die Consnmentin dessen, was sie producirt hat, und
Niemand zieht sonst einen Nutzen aus ihrer Schöpfung, außer etwa der Wolf und
der Räuber, die beide der Finsterniß unter dem dichten Laube Dank wissen.

Für die Wölfe ist das Waldland dieses Theils von Polen die eigentliche
Heimath, und obschon sich dieselben seit dem Jahre Ü832, in welchem das fa¬
mose Gewehrverbot eintrat, über ganz Polen ausgebreitet haben, so Hausen sie
doch nirgend so massenweise als hier. Mau begegnet Heerden von fünfzig und
mehr Stücken. Ihr Benehmen ist hier selbst für Wölfe höchst trotzig und unver¬
schämt, sie fühlen sich behaglich und zu Hause. Freilich während der milden
Jahreszeit zeigen sie keinen leidenschaftlichen Hang zur Menschenfresserei. Es
dürfte im Sommer wohl nie vorgekommen sein, daß ein Wols einen erwachsenen
Menschen angefallen hätte, dagegen werden nur zu häufig Kiuder zerrissen, und
man hat beobachtet, daß die Art der Bekleidung großen Einfluß auf die Stim¬
mung der Wölfe hat. Während meines vierjährigen Aufenthalts auf dem offenen
Lande in Polen kam es in meiner Gegend fünfmal vor, daß ein Kind dem
Rachen der Wölfe zu Theil wurde, aber jedesmal war das Kind nackt oder bei¬
nahe nackt gewesen. Viele Bauern kleiden ihre Kinder nnr in ein kurzes Hemd¬
chen, welches kaum Brust und Leib bedeckt, oder lassen sie ganz unbedeckt gehen;
die Wölfe siud gransame Richter dieses Mangels an Sitte.

Unter den polnischen Landbewohnern herrscht der feste Glaube, man dürfe
vor den Wölfen, wo man sie auch treffe, nie zurückweichen, sollte man ihre
Schaar auch gewaltsam durchbrechen müssen. Zu diesem Aeußersten würde es
nur bei strenger Winterkälte kommen, wo der Hunger ihnen die Achtung vor der
Majestät des Menschen und seinem Knittel nimmt. Im Sommer weichen sie,
wenn anch mit einer gewissen verachtungsvollen Lässigkeit, ans. Immer aber ist
es gefährlich, ihnen zu kühn Trotz zu bieten. Mit einzelnen dürfte man wohl
fertig werden, wenn man nicht ganz unbewaffnet ist; allein man findet sie fast
immer in hellen Haufen beisammen, so daß man auf einen Angriff von verschie¬
denen Seiten gefaßt sein muß. Zudem ist die Erscheinung dieser Bestien zur
Winterzeit der Art, daß sie wohl einen beherzter Mann entmuthigen kann. Ge¬
wöhnlich begegnet man ihnen auf finsteren, engen Waldwegen. Einen steht man
in der Mitte des Weges steheu, wie einen Wächter, von den anderen sieht man
zu beiden Seiten nur die Köpfe, welche sich aus dem Gebüsch hervorrecken. So
sperren sie dem Ankommenden förmlich den Weg ab. Und in dem Blicke liegt


Sumpf, Schilf und unzugängliche Wälder zu besitze«, oder deutsch gesagt, Un¬
wissenheit und Faulheit.

Ju den Sumpfgegenden bestehen die Waldungen fast nur aus Laubholz.
Nur auf sandigen Erhöhungen ragt das Nadelholz empor. In den Tiefen breitet
sich der wahre Urwald, und es gibt gewisse Theile, welche seit Jahrhunderten
wohl nie eines Menschen Fuß betreten hat. Wie in den amerikanischen Urwäldern
ist auch hier die Natur selbst die Consnmentin dessen, was sie producirt hat, und
Niemand zieht sonst einen Nutzen aus ihrer Schöpfung, außer etwa der Wolf und
der Räuber, die beide der Finsterniß unter dem dichten Laube Dank wissen.

Für die Wölfe ist das Waldland dieses Theils von Polen die eigentliche
Heimath, und obschon sich dieselben seit dem Jahre Ü832, in welchem das fa¬
mose Gewehrverbot eintrat, über ganz Polen ausgebreitet haben, so Hausen sie
doch nirgend so massenweise als hier. Mau begegnet Heerden von fünfzig und
mehr Stücken. Ihr Benehmen ist hier selbst für Wölfe höchst trotzig und unver¬
schämt, sie fühlen sich behaglich und zu Hause. Freilich während der milden
Jahreszeit zeigen sie keinen leidenschaftlichen Hang zur Menschenfresserei. Es
dürfte im Sommer wohl nie vorgekommen sein, daß ein Wols einen erwachsenen
Menschen angefallen hätte, dagegen werden nur zu häufig Kiuder zerrissen, und
man hat beobachtet, daß die Art der Bekleidung großen Einfluß auf die Stim¬
mung der Wölfe hat. Während meines vierjährigen Aufenthalts auf dem offenen
Lande in Polen kam es in meiner Gegend fünfmal vor, daß ein Kind dem
Rachen der Wölfe zu Theil wurde, aber jedesmal war das Kind nackt oder bei¬
nahe nackt gewesen. Viele Bauern kleiden ihre Kinder nnr in ein kurzes Hemd¬
chen, welches kaum Brust und Leib bedeckt, oder lassen sie ganz unbedeckt gehen;
die Wölfe siud gransame Richter dieses Mangels an Sitte.

Unter den polnischen Landbewohnern herrscht der feste Glaube, man dürfe
vor den Wölfen, wo man sie auch treffe, nie zurückweichen, sollte man ihre
Schaar auch gewaltsam durchbrechen müssen. Zu diesem Aeußersten würde es
nur bei strenger Winterkälte kommen, wo der Hunger ihnen die Achtung vor der
Majestät des Menschen und seinem Knittel nimmt. Im Sommer weichen sie,
wenn anch mit einer gewissen verachtungsvollen Lässigkeit, ans. Immer aber ist
es gefährlich, ihnen zu kühn Trotz zu bieten. Mit einzelnen dürfte man wohl
fertig werden, wenn man nicht ganz unbewaffnet ist; allein man findet sie fast
immer in hellen Haufen beisammen, so daß man auf einen Angriff von verschie¬
denen Seiten gefaßt sein muß. Zudem ist die Erscheinung dieser Bestien zur
Winterzeit der Art, daß sie wohl einen beherzter Mann entmuthigen kann. Ge¬
wöhnlich begegnet man ihnen auf finsteren, engen Waldwegen. Einen steht man
in der Mitte des Weges steheu, wie einen Wächter, von den anderen sieht man
zu beiden Seiten nur die Köpfe, welche sich aus dem Gebüsch hervorrecken. So
sperren sie dem Ankommenden förmlich den Weg ab. Und in dem Blicke liegt


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[0216] Sumpf, Schilf und unzugängliche Wälder zu besitze«, oder deutsch gesagt, Un¬ wissenheit und Faulheit. Ju den Sumpfgegenden bestehen die Waldungen fast nur aus Laubholz. Nur auf sandigen Erhöhungen ragt das Nadelholz empor. In den Tiefen breitet sich der wahre Urwald, und es gibt gewisse Theile, welche seit Jahrhunderten wohl nie eines Menschen Fuß betreten hat. Wie in den amerikanischen Urwäldern ist auch hier die Natur selbst die Consnmentin dessen, was sie producirt hat, und Niemand zieht sonst einen Nutzen aus ihrer Schöpfung, außer etwa der Wolf und der Räuber, die beide der Finsterniß unter dem dichten Laube Dank wissen. Für die Wölfe ist das Waldland dieses Theils von Polen die eigentliche Heimath, und obschon sich dieselben seit dem Jahre Ü832, in welchem das fa¬ mose Gewehrverbot eintrat, über ganz Polen ausgebreitet haben, so Hausen sie doch nirgend so massenweise als hier. Mau begegnet Heerden von fünfzig und mehr Stücken. Ihr Benehmen ist hier selbst für Wölfe höchst trotzig und unver¬ schämt, sie fühlen sich behaglich und zu Hause. Freilich während der milden Jahreszeit zeigen sie keinen leidenschaftlichen Hang zur Menschenfresserei. Es dürfte im Sommer wohl nie vorgekommen sein, daß ein Wols einen erwachsenen Menschen angefallen hätte, dagegen werden nur zu häufig Kiuder zerrissen, und man hat beobachtet, daß die Art der Bekleidung großen Einfluß auf die Stim¬ mung der Wölfe hat. Während meines vierjährigen Aufenthalts auf dem offenen Lande in Polen kam es in meiner Gegend fünfmal vor, daß ein Kind dem Rachen der Wölfe zu Theil wurde, aber jedesmal war das Kind nackt oder bei¬ nahe nackt gewesen. Viele Bauern kleiden ihre Kinder nnr in ein kurzes Hemd¬ chen, welches kaum Brust und Leib bedeckt, oder lassen sie ganz unbedeckt gehen; die Wölfe siud gransame Richter dieses Mangels an Sitte. Unter den polnischen Landbewohnern herrscht der feste Glaube, man dürfe vor den Wölfen, wo man sie auch treffe, nie zurückweichen, sollte man ihre Schaar auch gewaltsam durchbrechen müssen. Zu diesem Aeußersten würde es nur bei strenger Winterkälte kommen, wo der Hunger ihnen die Achtung vor der Majestät des Menschen und seinem Knittel nimmt. Im Sommer weichen sie, wenn anch mit einer gewissen verachtungsvollen Lässigkeit, ans. Immer aber ist es gefährlich, ihnen zu kühn Trotz zu bieten. Mit einzelnen dürfte man wohl fertig werden, wenn man nicht ganz unbewaffnet ist; allein man findet sie fast immer in hellen Haufen beisammen, so daß man auf einen Angriff von verschie¬ denen Seiten gefaßt sein muß. Zudem ist die Erscheinung dieser Bestien zur Winterzeit der Art, daß sie wohl einen beherzter Mann entmuthigen kann. Ge¬ wöhnlich begegnet man ihnen auf finsteren, engen Waldwegen. Einen steht man in der Mitte des Weges steheu, wie einen Wächter, von den anderen sieht man zu beiden Seiten nur die Köpfe, welche sich aus dem Gebüsch hervorrecken. So sperren sie dem Ankommenden förmlich den Weg ab. Und in dem Blicke liegt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/216>, abgerufen am 03.07.2024.