Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

die durch nichts' motivirt ist. -- Das neueste Werk, David Copperfield*),
steht zu den übrigen ungefähr in dem Verhältniß, wie Maltravers zu Bulwer's
sonstigen Schriften. Es ist in der Form einer Biographie, enthält unzweifelhaft
viel Reminiscenzen aus dem eigenen Leben des Dichters, und hat weder Anfang
noch Ende; der erste Theil steht in fast gar keinem Zusammenhang mit dem
zweiten. Die englischen Kritiker sind geneigt, diesen Roman über die frühern
zu stellen, weil weniger grelle Farben darin ausgetragen sind, aber ich weiß nicht,
ob das nicht zum Wesen des Boz'schen Humors gehört. Im Wesentlichen ist es
wieder die alte Richtung; Betsy Trotwood ist specifisch Dickens und die gekniffenen
Charaktere, über deren innere Nothwendigkeit man nicht recht in's Klare kommt,
sehlen auch nicht (so namentlich Rosa Dartle, deren Unterhaltung mit dem
gefallenen Mädchen geradezu ekelhaft ist, obgleich auch hier ein moralischer Ein¬
druck bezweckt wird: es soll die unfreiwillige Buße der Sünderin darstellen).
Auch die vortrefflichsten Genrebilder finden sich wieder vor. -- Der Schluß ist von
Interesse wegen seiner satirischen Pointe; früher hat Dickens sehr heftig gegen
die Barbarei der alten Strafanstalten geeifert, jetzt schüttelt er mit Carlyle über
die zu weit getriebene coqnettirende Humanität in denselben den Kopf. -- Ueber
die House-Hold Worts ein andermal.

Nur uoch eine Bemerkung zum Schluß. Unsere Belletristen sind ungehalten
über das deutsche Publicum, daß es nach fremder Waare greift; sie möchten
gern durch Schutzzölle gegen die Einführung fremder Poesie gesichert sein, um ihre
eigene Armuth aus den Markt zu bringen. -- Wenn ein deutscher Novellist etwas
geschaffen haben wird, das sich auch nur mit den schwächsten Producten von
Dickens oder Walter Scott in Vergleich stellen läßt, so wollen wir weiter davon
^. 8. reden.




Galle A u g i e r.

Seit sieben Jahren gehört Emile Angler zu den beliebtesten Luftspieldichtern
von Paris. Nicht allein das Publicum ist durch seine frische, lebendige Sprache
und die Anmuth seiner Erfindungen angezogen; auch die strenge Kritik hat sich
mit Theilnahme des jungen Dichters angenommen. Da es mit unserm Lustspiel
wo möglich noch schlechter steht, als mit unserer Tragödie, so scheint es nicht



Ich benutze diese Telegenheit, um die bei Weber in Leipzig erschienene Übersetzung
von Boz zu empfehlen, die trotz mancher unterlaufenden Flüchtigkeit im Ganzen mit sehr
gutem Takt und anerkenncnSwerthem Verständniß der Eigenthümlichkeiten des Originals
gearbeitet ist.

die durch nichts' motivirt ist. — Das neueste Werk, David Copperfield*),
steht zu den übrigen ungefähr in dem Verhältniß, wie Maltravers zu Bulwer's
sonstigen Schriften. Es ist in der Form einer Biographie, enthält unzweifelhaft
viel Reminiscenzen aus dem eigenen Leben des Dichters, und hat weder Anfang
noch Ende; der erste Theil steht in fast gar keinem Zusammenhang mit dem
zweiten. Die englischen Kritiker sind geneigt, diesen Roman über die frühern
zu stellen, weil weniger grelle Farben darin ausgetragen sind, aber ich weiß nicht,
ob das nicht zum Wesen des Boz'schen Humors gehört. Im Wesentlichen ist es
wieder die alte Richtung; Betsy Trotwood ist specifisch Dickens und die gekniffenen
Charaktere, über deren innere Nothwendigkeit man nicht recht in's Klare kommt,
sehlen auch nicht (so namentlich Rosa Dartle, deren Unterhaltung mit dem
gefallenen Mädchen geradezu ekelhaft ist, obgleich auch hier ein moralischer Ein¬
druck bezweckt wird: es soll die unfreiwillige Buße der Sünderin darstellen).
Auch die vortrefflichsten Genrebilder finden sich wieder vor. — Der Schluß ist von
Interesse wegen seiner satirischen Pointe; früher hat Dickens sehr heftig gegen
die Barbarei der alten Strafanstalten geeifert, jetzt schüttelt er mit Carlyle über
die zu weit getriebene coqnettirende Humanität in denselben den Kopf. — Ueber
die House-Hold Worts ein andermal.

Nur uoch eine Bemerkung zum Schluß. Unsere Belletristen sind ungehalten
über das deutsche Publicum, daß es nach fremder Waare greift; sie möchten
gern durch Schutzzölle gegen die Einführung fremder Poesie gesichert sein, um ihre
eigene Armuth aus den Markt zu bringen. — Wenn ein deutscher Novellist etwas
geschaffen haben wird, das sich auch nur mit den schwächsten Producten von
Dickens oder Walter Scott in Vergleich stellen läßt, so wollen wir weiter davon
^. 8. reden.




Galle A u g i e r.

Seit sieben Jahren gehört Emile Angler zu den beliebtesten Luftspieldichtern
von Paris. Nicht allein das Publicum ist durch seine frische, lebendige Sprache
und die Anmuth seiner Erfindungen angezogen; auch die strenge Kritik hat sich
mit Theilnahme des jungen Dichters angenommen. Da es mit unserm Lustspiel
wo möglich noch schlechter steht, als mit unserer Tragödie, so scheint es nicht



Ich benutze diese Telegenheit, um die bei Weber in Leipzig erschienene Übersetzung
von Boz zu empfehlen, die trotz mancher unterlaufenden Flüchtigkeit im Ganzen mit sehr
gutem Takt und anerkenncnSwerthem Verständniß der Eigenthümlichkeiten des Originals
gearbeitet ist.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0184" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91922"/>
          <p xml:id="ID_525" prev="#ID_524"> die durch nichts' motivirt ist. &#x2014; Das neueste Werk, David Copperfield*),<lb/>
steht zu den übrigen ungefähr in dem Verhältniß, wie Maltravers zu Bulwer's<lb/>
sonstigen Schriften. Es ist in der Form einer Biographie, enthält unzweifelhaft<lb/>
viel Reminiscenzen aus dem eigenen Leben des Dichters, und hat weder Anfang<lb/>
noch Ende; der erste Theil steht in fast gar keinem Zusammenhang mit dem<lb/>
zweiten. Die englischen Kritiker sind geneigt, diesen Roman über die frühern<lb/>
zu stellen, weil weniger grelle Farben darin ausgetragen sind, aber ich weiß nicht,<lb/>
ob das nicht zum Wesen des Boz'schen Humors gehört. Im Wesentlichen ist es<lb/>
wieder die alte Richtung; Betsy Trotwood ist specifisch Dickens und die gekniffenen<lb/>
Charaktere, über deren innere Nothwendigkeit man nicht recht in's Klare kommt,<lb/>
sehlen auch nicht (so namentlich Rosa Dartle, deren Unterhaltung mit dem<lb/>
gefallenen Mädchen geradezu ekelhaft ist, obgleich auch hier ein moralischer Ein¬<lb/>
druck bezweckt wird: es soll die unfreiwillige Buße der Sünderin darstellen).<lb/>
Auch die vortrefflichsten Genrebilder finden sich wieder vor. &#x2014; Der Schluß ist von<lb/>
Interesse wegen seiner satirischen Pointe; früher hat Dickens sehr heftig gegen<lb/>
die Barbarei der alten Strafanstalten geeifert, jetzt schüttelt er mit Carlyle über<lb/>
die zu weit getriebene coqnettirende Humanität in denselben den Kopf. &#x2014; Ueber<lb/>
die House-Hold Worts ein andermal.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_526"> Nur uoch eine Bemerkung zum Schluß. Unsere Belletristen sind ungehalten<lb/>
über das deutsche Publicum, daß es nach fremder Waare greift; sie möchten<lb/>
gern durch Schutzzölle gegen die Einführung fremder Poesie gesichert sein, um ihre<lb/>
eigene Armuth aus den Markt zu bringen. &#x2014; Wenn ein deutscher Novellist etwas<lb/>
geschaffen haben wird, das sich auch nur mit den schwächsten Producten von<lb/>
Dickens oder Walter Scott in Vergleich stellen läßt, so wollen wir weiter davon<lb/><note type="byline"> ^. 8.</note> reden. </p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Galle A u g i e r.</head><lb/>
          <p xml:id="ID_527" next="#ID_528"> Seit sieben Jahren gehört Emile Angler zu den beliebtesten Luftspieldichtern<lb/>
von Paris. Nicht allein das Publicum ist durch seine frische, lebendige Sprache<lb/>
und die Anmuth seiner Erfindungen angezogen; auch die strenge Kritik hat sich<lb/>
mit Theilnahme des jungen Dichters angenommen. Da es mit unserm Lustspiel<lb/>
wo möglich noch schlechter steht, als mit unserer Tragödie, so scheint es nicht</p><lb/>
          <note xml:id="FID_21" place="foot"> Ich benutze diese Telegenheit, um die bei Weber in Leipzig erschienene Übersetzung<lb/>
von Boz zu empfehlen, die trotz mancher unterlaufenden Flüchtigkeit im Ganzen mit sehr<lb/>
gutem Takt und anerkenncnSwerthem Verständniß der Eigenthümlichkeiten des Originals<lb/>
gearbeitet ist.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0184] die durch nichts' motivirt ist. — Das neueste Werk, David Copperfield*), steht zu den übrigen ungefähr in dem Verhältniß, wie Maltravers zu Bulwer's sonstigen Schriften. Es ist in der Form einer Biographie, enthält unzweifelhaft viel Reminiscenzen aus dem eigenen Leben des Dichters, und hat weder Anfang noch Ende; der erste Theil steht in fast gar keinem Zusammenhang mit dem zweiten. Die englischen Kritiker sind geneigt, diesen Roman über die frühern zu stellen, weil weniger grelle Farben darin ausgetragen sind, aber ich weiß nicht, ob das nicht zum Wesen des Boz'schen Humors gehört. Im Wesentlichen ist es wieder die alte Richtung; Betsy Trotwood ist specifisch Dickens und die gekniffenen Charaktere, über deren innere Nothwendigkeit man nicht recht in's Klare kommt, sehlen auch nicht (so namentlich Rosa Dartle, deren Unterhaltung mit dem gefallenen Mädchen geradezu ekelhaft ist, obgleich auch hier ein moralischer Ein¬ druck bezweckt wird: es soll die unfreiwillige Buße der Sünderin darstellen). Auch die vortrefflichsten Genrebilder finden sich wieder vor. — Der Schluß ist von Interesse wegen seiner satirischen Pointe; früher hat Dickens sehr heftig gegen die Barbarei der alten Strafanstalten geeifert, jetzt schüttelt er mit Carlyle über die zu weit getriebene coqnettirende Humanität in denselben den Kopf. — Ueber die House-Hold Worts ein andermal. Nur uoch eine Bemerkung zum Schluß. Unsere Belletristen sind ungehalten über das deutsche Publicum, daß es nach fremder Waare greift; sie möchten gern durch Schutzzölle gegen die Einführung fremder Poesie gesichert sein, um ihre eigene Armuth aus den Markt zu bringen. — Wenn ein deutscher Novellist etwas geschaffen haben wird, das sich auch nur mit den schwächsten Producten von Dickens oder Walter Scott in Vergleich stellen läßt, so wollen wir weiter davon ^. 8. reden. Galle A u g i e r. Seit sieben Jahren gehört Emile Angler zu den beliebtesten Luftspieldichtern von Paris. Nicht allein das Publicum ist durch seine frische, lebendige Sprache und die Anmuth seiner Erfindungen angezogen; auch die strenge Kritik hat sich mit Theilnahme des jungen Dichters angenommen. Da es mit unserm Lustspiel wo möglich noch schlechter steht, als mit unserer Tragödie, so scheint es nicht Ich benutze diese Telegenheit, um die bei Weber in Leipzig erschienene Übersetzung von Boz zu empfehlen, die trotz mancher unterlaufenden Flüchtigkeit im Ganzen mit sehr gutem Takt und anerkenncnSwerthem Verständniß der Eigenthümlichkeiten des Originals gearbeitet ist.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/184
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/184>, abgerufen am 27.06.2024.