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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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Hauptbösewichter, Ralph und Mulberry Hawks, wenigstens mit jener Härte ge¬
schildert, die das erste Erforderest einer guten Charakteristik ist. Auch zeichnet
sich der Roinanheld vortheilhaft vor den Walter Scottschcn ans, und Newman
Noggs gehört in die glückliche Reihe jener Humoristen, die in Sam Weller und
Sviveller ihren Höhepunkt erreichen. -- Oliver Toise ist vielleicht das schwächste;
es erinnert am meisten an Ainsworth, und macht mit seinen ewigen Gräueln einen
deprimirenden Eindruck, obgleich der Mord Annie's mit Meisterhand gezeichnet
ist. -- Der Naritäteuladeu ist, was den eigentlichen Roman betrifft, zu sen¬
timental, zum Theil geradezu unverständlich; Quilp, Sally Braß und die dämo¬
nische Spielwuth des alten Mannes carricirt, wenn anch von einer wilden Poesie,
die etwas Berauschendes hat; die "guten Leute", die als Gegensatz nie fehlen
(im Nickleby die beiden Cheerable n. s. w.) mit der gewohnten Liebenswürdigkeit
geschildert, die Nebenpersonen vortrefflich, die Krone des Ganzen aber der liebens¬
würdige Trunkenbold Sviveller, dessen Erfindung nicht mit Unrecht Falstaff an die
Seite zu setzen ist. -- Barnaby Rudge enthält des Phantastischen etwas zu
viel; Haredale ist einer jener gekniffenen Charaktere, für die jeder Schlüssel fehlt,
Ehester, so komisch er wirkt, doch eine Abstraction; dagegen die beiden Gruppen,
die sich um deu Schlosser und den Wirth sammeln (den Centaur und Miggs mit¬
gerechnet) von einem wunderbaren Humor, und die Schilderung des No-Popery-
Aufstandeö kauu sich den besten Werken Walter Scott's an die Seite stellen. --
Martin Chnzzlewit ist eine Satire gegen die Selbstsucht, die in jeder möglichen
Species aufgeführt wird; der Bösewicht, Jonas, obgleich gut durchgeführt, ist
Duplicat der früheren; Peksniff eine Abstraction, die zu sehr in's Fratzenhafte
geht, um Interesse zu erregen. Mark Tadley ist ein ontrirter Sam Weller; sein
Streben nach Unglück, um auch darin seine Lustigkeit zu beweisen, drollig genug,
aber gemacht. Ein neuer Charakter ist Piuch, eine vollkommen Jean Paul'sche
Erfindung, und mit seinem weichen Wesen trotz der festen moralischen Grund¬
sätze, mit seiner Blindheit für alle Wirklichkeit, trotz der poetischen Ader,
so unwahrscheinlich er aussieht, dennoch nicht unwahr. -- Dom bey und Sohn
fängt vortrefflich an, wie alle Boz'sche Romane, es zeigt sich hier aber ein Stre¬
ben nach romantischen Effecten, das Vieles geradezu unverständlich macht. Es
ist von dem Dichter nicht zu verlangen, es wäre sogar ungeschickt, wenn er
jeden auffallenden Zug pragmatisch motiviren wollte; aber wir müssen immer in
dem Gefühl bleiben, daß Alles mit rechten Dingen zugeht; wenn ein Wechsel der
Stimmung eintritt, der uns geradezu überrascht, so muß der Dichter uns zu
Hilfe kommen, wir müssen nicht im Unklaren darüber bleiben, was in der Seele
eigentlich vorgegangen ist. So geht es uns aber in diesem Romane gerade bei
den Haupteffecten. Der Schluß ist ganz schwach; auf der einen Seite wird eine
mehr romantische als poetische Gerechtigkeit ausgeübt, auf der andern verleitet
den Dichter seine Gutmüthigkeit, eine wunderbare' Besserung eintreten zu lassen,


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Hauptbösewichter, Ralph und Mulberry Hawks, wenigstens mit jener Härte ge¬
schildert, die das erste Erforderest einer guten Charakteristik ist. Auch zeichnet
sich der Roinanheld vortheilhaft vor den Walter Scottschcn ans, und Newman
Noggs gehört in die glückliche Reihe jener Humoristen, die in Sam Weller und
Sviveller ihren Höhepunkt erreichen. — Oliver Toise ist vielleicht das schwächste;
es erinnert am meisten an Ainsworth, und macht mit seinen ewigen Gräueln einen
deprimirenden Eindruck, obgleich der Mord Annie's mit Meisterhand gezeichnet
ist. — Der Naritäteuladeu ist, was den eigentlichen Roman betrifft, zu sen¬
timental, zum Theil geradezu unverständlich; Quilp, Sally Braß und die dämo¬
nische Spielwuth des alten Mannes carricirt, wenn anch von einer wilden Poesie,
die etwas Berauschendes hat; die „guten Leute", die als Gegensatz nie fehlen
(im Nickleby die beiden Cheerable n. s. w.) mit der gewohnten Liebenswürdigkeit
geschildert, die Nebenpersonen vortrefflich, die Krone des Ganzen aber der liebens¬
würdige Trunkenbold Sviveller, dessen Erfindung nicht mit Unrecht Falstaff an die
Seite zu setzen ist. — Barnaby Rudge enthält des Phantastischen etwas zu
viel; Haredale ist einer jener gekniffenen Charaktere, für die jeder Schlüssel fehlt,
Ehester, so komisch er wirkt, doch eine Abstraction; dagegen die beiden Gruppen,
die sich um deu Schlosser und den Wirth sammeln (den Centaur und Miggs mit¬
gerechnet) von einem wunderbaren Humor, und die Schilderung des No-Popery-
Aufstandeö kauu sich den besten Werken Walter Scott's an die Seite stellen. —
Martin Chnzzlewit ist eine Satire gegen die Selbstsucht, die in jeder möglichen
Species aufgeführt wird; der Bösewicht, Jonas, obgleich gut durchgeführt, ist
Duplicat der früheren; Peksniff eine Abstraction, die zu sehr in's Fratzenhafte
geht, um Interesse zu erregen. Mark Tadley ist ein ontrirter Sam Weller; sein
Streben nach Unglück, um auch darin seine Lustigkeit zu beweisen, drollig genug,
aber gemacht. Ein neuer Charakter ist Piuch, eine vollkommen Jean Paul'sche
Erfindung, und mit seinem weichen Wesen trotz der festen moralischen Grund¬
sätze, mit seiner Blindheit für alle Wirklichkeit, trotz der poetischen Ader,
so unwahrscheinlich er aussieht, dennoch nicht unwahr. — Dom bey und Sohn
fängt vortrefflich an, wie alle Boz'sche Romane, es zeigt sich hier aber ein Stre¬
ben nach romantischen Effecten, das Vieles geradezu unverständlich macht. Es
ist von dem Dichter nicht zu verlangen, es wäre sogar ungeschickt, wenn er
jeden auffallenden Zug pragmatisch motiviren wollte; aber wir müssen immer in
dem Gefühl bleiben, daß Alles mit rechten Dingen zugeht; wenn ein Wechsel der
Stimmung eintritt, der uns geradezu überrascht, so muß der Dichter uns zu
Hilfe kommen, wir müssen nicht im Unklaren darüber bleiben, was in der Seele
eigentlich vorgegangen ist. So geht es uns aber in diesem Romane gerade bei
den Haupteffecten. Der Schluß ist ganz schwach; auf der einen Seite wird eine
mehr romantische als poetische Gerechtigkeit ausgeübt, auf der andern verleitet
den Dichter seine Gutmüthigkeit, eine wunderbare' Besserung eintreten zu lassen,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/183>, abgerufen am 24.07.2024.