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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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sind, als eben eine Mosaikarbeit. Darum führt die Virtuosität nicht selten zur
Manier, und die grellen Farben, die er liebt, weil er sich beständig im Contrast
bewegt, erinnern an die barocken Sprünge unserer Paganini. Das Ganze be¬
kommt dann einen phantastischen Anstrich, wir werden mit fortgerissen, aber ohne
Bewußtsein. Eine Entwickelung werdender Charaktere, die er zuweilen versucht
(z. B. in Dombey's zweiter Frau), mißlingt ihm fast immer, es werdeu gekniffene
und irrationelle Figuren daraus, zu deren Verständniß uns immer etwas fehlt.
So liebt er es anch, Wahnsinnige darzustellen (die Episode in den Pickwickiern,
Barnaby u. s. w.), oder Meuschen, die von dem Einfluß einer schrecklichen Vor-
stellung blind und willenlos umhergetrieben werden (der Mörder Sikes, Dombey's
Geschäftsführer, wie er unter die Eisenbahn getrieben wird, der Mörder seines Neffen
in Humphry's Wanduhr), und dann wird die Stimmung so trübe und nebelhaft,
daß wir nicht mehr zwei Schritte weit sehen können. Uebrigens sind die Züge
zuweilen sehr schön, aber vereinzelt, wie Barnaby's Mutter, deren für den Augen¬
blick ,ruhigem Gesicht man es ansieht, daß es geeignet ist, ein furchtbares Er¬
setzen auszudrücken. Aber der Einfall wird nicht psychologisch ausgeführt, sondern
nnr zu Wiederholungen benntzt.

Ich muß dabei eine Bemerkung machen, die charakteristisch für die Engländer
ist. Kein Volk versteht es so gut, gesunde lebendige Menschen zu schildern; aber
keines hat auch in passenden Stunden so viel Vorliebe für die Schauer der Nacht¬
seite der Natur. Bei Shakespeare wird wohl Jeder zugeben, daß die Hexen,
Gespenster u. s. w. etwas mehr Raum einnehmen, als zu dem jedesmaligen Zweck
unumgänglich nothwendig ist; bei Walter Scott ist es noch mehr der Fall. Der
Dichter des Kenilworth hat in seiner Braut von Lammermoor ebenso verstanden,
Alles, was die Phantasie an Grauen sich erdenken kann, heraufzubeschwören und
mit einer finstern, unheimlichen Kälte darzustellen, die viel ergreifender wirkt, als
der Branntweinrausch, in welchem Hoffmann seine Nachtstücke schrieb. Dickens
hat diese Neigung seines Volks mit anerkennenswerten Eifer ausgebeutet; seine
Ungeheuer -- Quilp, der Schließer in Barnaby, die Mörder und Krankenwär¬
terinnen, -- übertreffen die wildesten Phantasien Victor Hugo's bei Weitem, und
haben doch immer Fleisch und Blut. So ist der Brite! Ein gesunder egoistischer
Verstand, eine feste sittliche Grundlage, die aller Sophismen spottet, ein weiter
Sinn für Scherz und Laune, und daneben doch jener Spleen, der die allerba-
rocksten Einfalle zur Tagesordnung macht.

Ich schließe mit einigen Bemerkungen über die einzelnen Romane. -- In:
Nickleby wird zwar mit der Geschichte auf eine ziemlich willkürliche Weise umge¬
sprungen, die Familie SqueerS und die Satire auf die Vorkshire-Schulen ist blos
ekelhaft, Gride ist eine Copie des Geizigen im Rigel; dagegen sind die phanta¬
stisch-komischen Scenen das Schauspielerleben, die Kenwig's und Mantalini's
unbezahlbar, Nickleby's Mutter eine Erfindung vom höchsten Humor und die beiden


sind, als eben eine Mosaikarbeit. Darum führt die Virtuosität nicht selten zur
Manier, und die grellen Farben, die er liebt, weil er sich beständig im Contrast
bewegt, erinnern an die barocken Sprünge unserer Paganini. Das Ganze be¬
kommt dann einen phantastischen Anstrich, wir werden mit fortgerissen, aber ohne
Bewußtsein. Eine Entwickelung werdender Charaktere, die er zuweilen versucht
(z. B. in Dombey's zweiter Frau), mißlingt ihm fast immer, es werdeu gekniffene
und irrationelle Figuren daraus, zu deren Verständniß uns immer etwas fehlt.
So liebt er es anch, Wahnsinnige darzustellen (die Episode in den Pickwickiern,
Barnaby u. s. w.), oder Meuschen, die von dem Einfluß einer schrecklichen Vor-
stellung blind und willenlos umhergetrieben werden (der Mörder Sikes, Dombey's
Geschäftsführer, wie er unter die Eisenbahn getrieben wird, der Mörder seines Neffen
in Humphry's Wanduhr), und dann wird die Stimmung so trübe und nebelhaft,
daß wir nicht mehr zwei Schritte weit sehen können. Uebrigens sind die Züge
zuweilen sehr schön, aber vereinzelt, wie Barnaby's Mutter, deren für den Augen¬
blick ,ruhigem Gesicht man es ansieht, daß es geeignet ist, ein furchtbares Er¬
setzen auszudrücken. Aber der Einfall wird nicht psychologisch ausgeführt, sondern
nnr zu Wiederholungen benntzt.

Ich muß dabei eine Bemerkung machen, die charakteristisch für die Engländer
ist. Kein Volk versteht es so gut, gesunde lebendige Menschen zu schildern; aber
keines hat auch in passenden Stunden so viel Vorliebe für die Schauer der Nacht¬
seite der Natur. Bei Shakespeare wird wohl Jeder zugeben, daß die Hexen,
Gespenster u. s. w. etwas mehr Raum einnehmen, als zu dem jedesmaligen Zweck
unumgänglich nothwendig ist; bei Walter Scott ist es noch mehr der Fall. Der
Dichter des Kenilworth hat in seiner Braut von Lammermoor ebenso verstanden,
Alles, was die Phantasie an Grauen sich erdenken kann, heraufzubeschwören und
mit einer finstern, unheimlichen Kälte darzustellen, die viel ergreifender wirkt, als
der Branntweinrausch, in welchem Hoffmann seine Nachtstücke schrieb. Dickens
hat diese Neigung seines Volks mit anerkennenswerten Eifer ausgebeutet; seine
Ungeheuer — Quilp, der Schließer in Barnaby, die Mörder und Krankenwär¬
terinnen, — übertreffen die wildesten Phantasien Victor Hugo's bei Weitem, und
haben doch immer Fleisch und Blut. So ist der Brite! Ein gesunder egoistischer
Verstand, eine feste sittliche Grundlage, die aller Sophismen spottet, ein weiter
Sinn für Scherz und Laune, und daneben doch jener Spleen, der die allerba-
rocksten Einfalle zur Tagesordnung macht.

Ich schließe mit einigen Bemerkungen über die einzelnen Romane. — In:
Nickleby wird zwar mit der Geschichte auf eine ziemlich willkürliche Weise umge¬
sprungen, die Familie SqueerS und die Satire auf die Vorkshire-Schulen ist blos
ekelhaft, Gride ist eine Copie des Geizigen im Rigel; dagegen sind die phanta¬
stisch-komischen Scenen das Schauspielerleben, die Kenwig's und Mantalini's
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/182>, abgerufen am 27.06.2024.