Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Regel sehr drastisch, aber es bleibt doch immer nur eine Reihe voll Variationen
über das nämliche Thema und muß zuletzt ermüden und den Eindruck der Un¬
wahrheit machen; denn wenn es auch Meuscheu gäbe, die wie Peksniff, Ehester
(in Barnaby Rudge), Urias Heep (in Copperfield), Advocat Braß (in Humphry's
Wanduhr), n. s. w., die Lüge und Heuchelei so zu ihrer zweiten Natur gemacht
haben, daß sich dieselbe überall hervordrängt, wo sie anstreben mögen, so
empfinden wir in der Darstellung doch die Unwahrheit, deun wir wissen
aus der Beobachtung des Lebens, daß nie ein Mensch in eine Abstraction auf¬
geht. Es kommt uns immer so vor, als ob diese Charaktermasten sich jeden
Augenblick vor dem Publicum in Positur stellen, um es durch auffallend groteske
Sprünge darauf aufmerksam zu machen, daß jetzt ein besonders charakteristischer
Zug kommen wird. -- Eine andere sehr häufig wiederkehrende Figur ist der
eingefleischte selbstsüchtige, und wie dem Schatten des Heuchlers jedesmal als
Contrast eine Reihe gerader, lebendiger Tagesnatureu gegenübergestellt wird, so
dem hartherzigen Egoisten ein gefühlvoller Mensch, der aber nie so völlig in
Thränen und Rührung aufgeht, wie bei Jean Paul. Freilich sucht auch Dickens
zuweilen mit unkünstlerischem Behagen auf die Thränendrüsen zu wirken, aber die
Empfindungen, die er dazu benutzt, sind an sich weder unwahr noch unschön;
seine Thränen strömen aus dem Herzen, nicht wie bei Jean Paul ans dem Kopf.
Außerdem weiß er Härte, soweit sie mit Männlichkeit zusammenfällt, sehr wohl
zu schätzen; sein Martin Chuzzlewit z. B. ist ein interessanter Versuch, die Selbst¬
sucht durch Cultur in ihr relatives Recht einzusetzen; daß ihm eine empfindsame
Natur gegenübergestellt wird, ist nicht zu tadeln. Die Rührung ist immer die
bequemste Erholung des Gemüths von der Erschöpfung des Lachens; ein gemüth¬
loser Humorist wird zuletzt langweilig. -- Am häßlichsten wird diese abstracte
Charakterbildung, wenn sie der Satire dient. Dickens hat sich zuweilen berufen
geglaubt, durch seiue Muse einen directen Nutzen zu stiften; er hat z. B. im
Oliver Toise die Waisenhäuser, im Nickleby die wohlfeilen Landschulen einer
unbarmherzigen Satire unterworfen. Ob er seinen Zweck erreicht hat, mag dahin¬
gestellt bleiben; ästhetisch ist diese Manier nicht zu rechtfertigen. ,

Neben dieser Charakterbildung, die, wenn auch mit uoch so viel Geschick
ausgeführt, doch eigentlich immer zu Carricaturen verleitet, geht eine audere Form.
Dickens hat ein wunderbar scharfes Auge für die kleinen Züge, in deuen das
Gemüth sich äußerlich darstellt. Jean Paul hat es auch, aber er weiß, was er
gesehen hat, nicht verständlich wiederzugeben; wir müssen uns seinen Jargon erst
in die gebildete Sprache übersetzen. Dickens hat die Sprache so weit in seiner
Gewalt, daß er stets den Eindruck macht, deu er beabsichtigt; außerdem bietet ihm
das britische Volksleben eine solche Mannigfaltigkeit freier Originale, daß man sie
bei unserm verkümmerten Volk vergebens suchen würde. Diese Detailanschauuugen,
die immer brillant sind, combinirt er nun zu Figuren, die häufig nichts weiter


Grcnzvoten. I. 1851. . 22

Regel sehr drastisch, aber es bleibt doch immer nur eine Reihe voll Variationen
über das nämliche Thema und muß zuletzt ermüden und den Eindruck der Un¬
wahrheit machen; denn wenn es auch Meuscheu gäbe, die wie Peksniff, Ehester
(in Barnaby Rudge), Urias Heep (in Copperfield), Advocat Braß (in Humphry's
Wanduhr), n. s. w., die Lüge und Heuchelei so zu ihrer zweiten Natur gemacht
haben, daß sich dieselbe überall hervordrängt, wo sie anstreben mögen, so
empfinden wir in der Darstellung doch die Unwahrheit, deun wir wissen
aus der Beobachtung des Lebens, daß nie ein Mensch in eine Abstraction auf¬
geht. Es kommt uns immer so vor, als ob diese Charaktermasten sich jeden
Augenblick vor dem Publicum in Positur stellen, um es durch auffallend groteske
Sprünge darauf aufmerksam zu machen, daß jetzt ein besonders charakteristischer
Zug kommen wird. — Eine andere sehr häufig wiederkehrende Figur ist der
eingefleischte selbstsüchtige, und wie dem Schatten des Heuchlers jedesmal als
Contrast eine Reihe gerader, lebendiger Tagesnatureu gegenübergestellt wird, so
dem hartherzigen Egoisten ein gefühlvoller Mensch, der aber nie so völlig in
Thränen und Rührung aufgeht, wie bei Jean Paul. Freilich sucht auch Dickens
zuweilen mit unkünstlerischem Behagen auf die Thränendrüsen zu wirken, aber die
Empfindungen, die er dazu benutzt, sind an sich weder unwahr noch unschön;
seine Thränen strömen aus dem Herzen, nicht wie bei Jean Paul ans dem Kopf.
Außerdem weiß er Härte, soweit sie mit Männlichkeit zusammenfällt, sehr wohl
zu schätzen; sein Martin Chuzzlewit z. B. ist ein interessanter Versuch, die Selbst¬
sucht durch Cultur in ihr relatives Recht einzusetzen; daß ihm eine empfindsame
Natur gegenübergestellt wird, ist nicht zu tadeln. Die Rührung ist immer die
bequemste Erholung des Gemüths von der Erschöpfung des Lachens; ein gemüth¬
loser Humorist wird zuletzt langweilig. — Am häßlichsten wird diese abstracte
Charakterbildung, wenn sie der Satire dient. Dickens hat sich zuweilen berufen
geglaubt, durch seiue Muse einen directen Nutzen zu stiften; er hat z. B. im
Oliver Toise die Waisenhäuser, im Nickleby die wohlfeilen Landschulen einer
unbarmherzigen Satire unterworfen. Ob er seinen Zweck erreicht hat, mag dahin¬
gestellt bleiben; ästhetisch ist diese Manier nicht zu rechtfertigen. ,

Neben dieser Charakterbildung, die, wenn auch mit uoch so viel Geschick
ausgeführt, doch eigentlich immer zu Carricaturen verleitet, geht eine audere Form.
Dickens hat ein wunderbar scharfes Auge für die kleinen Züge, in deuen das
Gemüth sich äußerlich darstellt. Jean Paul hat es auch, aber er weiß, was er
gesehen hat, nicht verständlich wiederzugeben; wir müssen uns seinen Jargon erst
in die gebildete Sprache übersetzen. Dickens hat die Sprache so weit in seiner
Gewalt, daß er stets den Eindruck macht, deu er beabsichtigt; außerdem bietet ihm
das britische Volksleben eine solche Mannigfaltigkeit freier Originale, daß man sie
bei unserm verkümmerten Volk vergebens suchen würde. Diese Detailanschauuugen,
die immer brillant sind, combinirt er nun zu Figuren, die häufig nichts weiter


Grcnzvoten. I. 1851. . 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0181" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91919"/>
          <p xml:id="ID_519" prev="#ID_518"> Regel sehr drastisch, aber es bleibt doch immer nur eine Reihe voll Variationen<lb/>
über das nämliche Thema und muß zuletzt ermüden und den Eindruck der Un¬<lb/>
wahrheit machen; denn wenn es auch Meuscheu gäbe, die wie Peksniff, Ehester<lb/>
(in Barnaby Rudge), Urias Heep (in Copperfield), Advocat Braß (in Humphry's<lb/>
Wanduhr), n. s. w., die Lüge und Heuchelei so zu ihrer zweiten Natur gemacht<lb/>
haben, daß sich dieselbe überall hervordrängt, wo sie anstreben mögen, so<lb/>
empfinden wir in der Darstellung doch die Unwahrheit, deun wir wissen<lb/>
aus der Beobachtung des Lebens, daß nie ein Mensch in eine Abstraction auf¬<lb/>
geht.  Es kommt uns immer so vor, als ob diese Charaktermasten sich jeden<lb/>
Augenblick vor dem Publicum in Positur stellen, um es durch auffallend groteske<lb/>
Sprünge darauf aufmerksam zu machen, daß jetzt ein besonders charakteristischer<lb/>
Zug kommen wird. &#x2014; Eine andere sehr häufig wiederkehrende Figur ist der<lb/>
eingefleischte selbstsüchtige, und wie dem Schatten des Heuchlers jedesmal als<lb/>
Contrast eine Reihe gerader, lebendiger Tagesnatureu gegenübergestellt wird, so<lb/>
dem hartherzigen Egoisten ein gefühlvoller Mensch, der aber nie so völlig in<lb/>
Thränen und Rührung aufgeht, wie bei Jean Paul.  Freilich sucht auch Dickens<lb/>
zuweilen mit unkünstlerischem Behagen auf die Thränendrüsen zu wirken, aber die<lb/>
Empfindungen, die er dazu benutzt, sind an sich weder unwahr noch unschön;<lb/>
seine Thränen strömen aus dem Herzen, nicht wie bei Jean Paul ans dem Kopf.<lb/>
Außerdem weiß er Härte, soweit sie mit Männlichkeit zusammenfällt, sehr wohl<lb/>
zu schätzen; sein Martin Chuzzlewit z. B. ist ein interessanter Versuch, die Selbst¬<lb/>
sucht durch Cultur in ihr relatives Recht einzusetzen; daß ihm eine empfindsame<lb/>
Natur gegenübergestellt wird, ist nicht zu tadeln. Die Rührung ist immer die<lb/>
bequemste Erholung des Gemüths von der Erschöpfung des Lachens; ein gemüth¬<lb/>
loser Humorist wird zuletzt langweilig. &#x2014; Am häßlichsten wird diese abstracte<lb/>
Charakterbildung, wenn sie der Satire dient.  Dickens hat sich zuweilen berufen<lb/>
geglaubt, durch seiue Muse einen directen Nutzen zu stiften; er hat z. B. im<lb/>
Oliver Toise die Waisenhäuser, im Nickleby die wohlfeilen Landschulen einer<lb/>
unbarmherzigen Satire unterworfen. Ob er seinen Zweck erreicht hat, mag dahin¬<lb/>
gestellt bleiben; ästhetisch ist diese Manier nicht zu rechtfertigen. ,</p><lb/>
          <p xml:id="ID_520" next="#ID_521"> Neben dieser Charakterbildung, die, wenn auch mit uoch so viel Geschick<lb/>
ausgeführt, doch eigentlich immer zu Carricaturen verleitet, geht eine audere Form.<lb/>
Dickens hat ein wunderbar scharfes Auge für die kleinen Züge, in deuen das<lb/>
Gemüth sich äußerlich darstellt. Jean Paul hat es auch, aber er weiß, was er<lb/>
gesehen hat, nicht verständlich wiederzugeben; wir müssen uns seinen Jargon erst<lb/>
in die gebildete Sprache übersetzen. Dickens hat die Sprache so weit in seiner<lb/>
Gewalt, daß er stets den Eindruck macht, deu er beabsichtigt; außerdem bietet ihm<lb/>
das britische Volksleben eine solche Mannigfaltigkeit freier Originale, daß man sie<lb/>
bei unserm verkümmerten Volk vergebens suchen würde. Diese Detailanschauuugen,<lb/>
die immer brillant sind, combinirt er nun zu Figuren, die häufig nichts weiter</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grcnzvoten. I. 1851. . 22</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0181] Regel sehr drastisch, aber es bleibt doch immer nur eine Reihe voll Variationen über das nämliche Thema und muß zuletzt ermüden und den Eindruck der Un¬ wahrheit machen; denn wenn es auch Meuscheu gäbe, die wie Peksniff, Ehester (in Barnaby Rudge), Urias Heep (in Copperfield), Advocat Braß (in Humphry's Wanduhr), n. s. w., die Lüge und Heuchelei so zu ihrer zweiten Natur gemacht haben, daß sich dieselbe überall hervordrängt, wo sie anstreben mögen, so empfinden wir in der Darstellung doch die Unwahrheit, deun wir wissen aus der Beobachtung des Lebens, daß nie ein Mensch in eine Abstraction auf¬ geht. Es kommt uns immer so vor, als ob diese Charaktermasten sich jeden Augenblick vor dem Publicum in Positur stellen, um es durch auffallend groteske Sprünge darauf aufmerksam zu machen, daß jetzt ein besonders charakteristischer Zug kommen wird. — Eine andere sehr häufig wiederkehrende Figur ist der eingefleischte selbstsüchtige, und wie dem Schatten des Heuchlers jedesmal als Contrast eine Reihe gerader, lebendiger Tagesnatureu gegenübergestellt wird, so dem hartherzigen Egoisten ein gefühlvoller Mensch, der aber nie so völlig in Thränen und Rührung aufgeht, wie bei Jean Paul. Freilich sucht auch Dickens zuweilen mit unkünstlerischem Behagen auf die Thränendrüsen zu wirken, aber die Empfindungen, die er dazu benutzt, sind an sich weder unwahr noch unschön; seine Thränen strömen aus dem Herzen, nicht wie bei Jean Paul ans dem Kopf. Außerdem weiß er Härte, soweit sie mit Männlichkeit zusammenfällt, sehr wohl zu schätzen; sein Martin Chuzzlewit z. B. ist ein interessanter Versuch, die Selbst¬ sucht durch Cultur in ihr relatives Recht einzusetzen; daß ihm eine empfindsame Natur gegenübergestellt wird, ist nicht zu tadeln. Die Rührung ist immer die bequemste Erholung des Gemüths von der Erschöpfung des Lachens; ein gemüth¬ loser Humorist wird zuletzt langweilig. — Am häßlichsten wird diese abstracte Charakterbildung, wenn sie der Satire dient. Dickens hat sich zuweilen berufen geglaubt, durch seiue Muse einen directen Nutzen zu stiften; er hat z. B. im Oliver Toise die Waisenhäuser, im Nickleby die wohlfeilen Landschulen einer unbarmherzigen Satire unterworfen. Ob er seinen Zweck erreicht hat, mag dahin¬ gestellt bleiben; ästhetisch ist diese Manier nicht zu rechtfertigen. , Neben dieser Charakterbildung, die, wenn auch mit uoch so viel Geschick ausgeführt, doch eigentlich immer zu Carricaturen verleitet, geht eine audere Form. Dickens hat ein wunderbar scharfes Auge für die kleinen Züge, in deuen das Gemüth sich äußerlich darstellt. Jean Paul hat es auch, aber er weiß, was er gesehen hat, nicht verständlich wiederzugeben; wir müssen uns seinen Jargon erst in die gebildete Sprache übersetzen. Dickens hat die Sprache so weit in seiner Gewalt, daß er stets den Eindruck macht, deu er beabsichtigt; außerdem bietet ihm das britische Volksleben eine solche Mannigfaltigkeit freier Originale, daß man sie bei unserm verkümmerten Volk vergebens suchen würde. Diese Detailanschauuugen, die immer brillant sind, combinirt er nun zu Figuren, die häufig nichts weiter Grcnzvoten. I. 1851. . 22

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/181
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/181>, abgerufen am 04.07.2024.