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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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uns zwar auch gemüthliche Menschen, aber es ist eine bestialische Gemüthlichkeit,
die zum großen Theil aus dem Alkohol hervorgeht. Zwar sind die Quantitäten
von Punsch und Portwein, die Pickwick und seine Freunde vertilgen, von der
Art, daß sie ein deutsches Gehirn wohl außer Fassung setzen können; aber diese
Zecher sind doch wahre Kinder gegen die Helden von Charles Lever, Lady Mor-"
gan, und der übrigen Novellisten des grünen Erin.

Pickwick erschien, wie auch die späteren Romane, in monatlichen Heften.
Die künstlerische Form geht dabei natürlich zu Grunde. Nicht allein, daß von
einem Festhalte" des eigentlichen Planes keine Rede ist; der Dichter wird anch
genöthigt, in jedem Abschnitt sein gestimmtes Personal dem Publicum vorzustellen,
damit es uicht in Vergessenheit gerathe. Im Pickwick schadet das weniger, denn
man hat es nicht mit einer zusammenhängenden Geschichte zu thun, sondern mit
einzelnen Volksscenen, die wohl oder übel durch die Anwesenheit einer Haupt¬
person aneinander gefabelt werden. Dagegen wirkt es nachtheilig auf die Charakter-
bildung. Die ganze Gesellschaft der Pickwickier hat' ursprünglich einen satyrischen,
und zwar einen ziemlich grob satyrischen Zuschnitt; bei weiterer Ausmalung ver¬
liebt sich aber Dickens so in seinen Helden, daß ein Ideal daraus wird, und daß
seine. Gefährten, bei denen die Carricatur festgehalten wird, in keinem Verhältniß
mehr dazu stehen. Er selber hat sich über diesen Punkt damit zu rechtfertigen
gesucht, daß einem bei einem ähnlichen Charakter zuerst die lächerlichen Seiten
in die- Augen springen, und daß man erst allmälig hinter den wahren Fonds
feines. Geistes kommt. Die Bemerkung ist vollkommen richtig, aber sie entschul¬
digt den Dichter uicht, der mit seineu Geschöpfen so genau bekannt sein muß
wie der liebe Gott mit den Erzeugnissen seiner Muße. Ueberdies begegnet es
Dickens öfters, daß er aus Gutmüthigkeit zuletzt die Härte seiner Personen,
wenn diese uicht geradezu einen abstracten Begriff versinnlichen sollen, fallen läßt;
ich erinnere nur an die Bekehrung des alten Dombey.,

Abgesehen von diesen Fehlern, ist der Humor der Darstellung unübertrefflich.
Er unterscheidet sich vou dem deutschen Humor ebenso vortheilhaft, wie das eng¬
lische Leben von dem deutschen. -- Es ist nicht unnöthig, über das Wesen des
Humors einige Bemerkungen zu machen, wMger aus dem Grunde, als ob der
Begriff an sich unklar wäre, als zur Abwehr der verschrobenen Theorien, die
theils das schlechte Beispiel von Jean Paul,. Haman, Mpel, Arnim, Heine :c.,
theils eine vollständig von dem Leben und der Bestimmtheit gelöste Speculatiott
hervorgerufen hat, und die zuletzt das Wesen der Kunstform in ihr Gegentheil,
in'S Mystische und Trausceudeute verkehrt haben. .

Mau denkt sich jetzt unter Humor eine Reihe gewaltsamer Contraste, russische
Dampfbäder aus dem Frost diabolischer Ironie in die Gluth verzückter Begeisterung.
Auf die nackten Cynismen kalter Selbstsucht muß augenblicklich jene ätherische
Empfindungsweise Emanuels folgen, die zu verstehen selbst den Engeln im Himmel


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uns zwar auch gemüthliche Menschen, aber es ist eine bestialische Gemüthlichkeit,
die zum großen Theil aus dem Alkohol hervorgeht. Zwar sind die Quantitäten
von Punsch und Portwein, die Pickwick und seine Freunde vertilgen, von der
Art, daß sie ein deutsches Gehirn wohl außer Fassung setzen können; aber diese
Zecher sind doch wahre Kinder gegen die Helden von Charles Lever, Lady Mor-»
gan, und der übrigen Novellisten des grünen Erin.

Pickwick erschien, wie auch die späteren Romane, in monatlichen Heften.
Die künstlerische Form geht dabei natürlich zu Grunde. Nicht allein, daß von
einem Festhalte« des eigentlichen Planes keine Rede ist; der Dichter wird anch
genöthigt, in jedem Abschnitt sein gestimmtes Personal dem Publicum vorzustellen,
damit es uicht in Vergessenheit gerathe. Im Pickwick schadet das weniger, denn
man hat es nicht mit einer zusammenhängenden Geschichte zu thun, sondern mit
einzelnen Volksscenen, die wohl oder übel durch die Anwesenheit einer Haupt¬
person aneinander gefabelt werden. Dagegen wirkt es nachtheilig auf die Charakter-
bildung. Die ganze Gesellschaft der Pickwickier hat' ursprünglich einen satyrischen,
und zwar einen ziemlich grob satyrischen Zuschnitt; bei weiterer Ausmalung ver¬
liebt sich aber Dickens so in seinen Helden, daß ein Ideal daraus wird, und daß
seine. Gefährten, bei denen die Carricatur festgehalten wird, in keinem Verhältniß
mehr dazu stehen. Er selber hat sich über diesen Punkt damit zu rechtfertigen
gesucht, daß einem bei einem ähnlichen Charakter zuerst die lächerlichen Seiten
in die- Augen springen, und daß man erst allmälig hinter den wahren Fonds
feines. Geistes kommt. Die Bemerkung ist vollkommen richtig, aber sie entschul¬
digt den Dichter uicht, der mit seineu Geschöpfen so genau bekannt sein muß
wie der liebe Gott mit den Erzeugnissen seiner Muße. Ueberdies begegnet es
Dickens öfters, daß er aus Gutmüthigkeit zuletzt die Härte seiner Personen,
wenn diese uicht geradezu einen abstracten Begriff versinnlichen sollen, fallen läßt;
ich erinnere nur an die Bekehrung des alten Dombey.,

Abgesehen von diesen Fehlern, ist der Humor der Darstellung unübertrefflich.
Er unterscheidet sich vou dem deutschen Humor ebenso vortheilhaft, wie das eng¬
lische Leben von dem deutschen. — Es ist nicht unnöthig, über das Wesen des
Humors einige Bemerkungen zu machen, wMger aus dem Grunde, als ob der
Begriff an sich unklar wäre, als zur Abwehr der verschrobenen Theorien, die
theils das schlechte Beispiel von Jean Paul,. Haman, Mpel, Arnim, Heine :c.,
theils eine vollständig von dem Leben und der Bestimmtheit gelöste Speculatiott
hervorgerufen hat, und die zuletzt das Wesen der Kunstform in ihr Gegentheil,
in'S Mystische und Trausceudeute verkehrt haben. .

Mau denkt sich jetzt unter Humor eine Reihe gewaltsamer Contraste, russische
Dampfbäder aus dem Frost diabolischer Ironie in die Gluth verzückter Begeisterung.
Auf die nackten Cynismen kalter Selbstsucht muß augenblicklich jene ätherische
Empfindungsweise Emanuels folgen, die zu verstehen selbst den Engeln im Himmel


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[0175] uns zwar auch gemüthliche Menschen, aber es ist eine bestialische Gemüthlichkeit, die zum großen Theil aus dem Alkohol hervorgeht. Zwar sind die Quantitäten von Punsch und Portwein, die Pickwick und seine Freunde vertilgen, von der Art, daß sie ein deutsches Gehirn wohl außer Fassung setzen können; aber diese Zecher sind doch wahre Kinder gegen die Helden von Charles Lever, Lady Mor-» gan, und der übrigen Novellisten des grünen Erin. Pickwick erschien, wie auch die späteren Romane, in monatlichen Heften. Die künstlerische Form geht dabei natürlich zu Grunde. Nicht allein, daß von einem Festhalte« des eigentlichen Planes keine Rede ist; der Dichter wird anch genöthigt, in jedem Abschnitt sein gestimmtes Personal dem Publicum vorzustellen, damit es uicht in Vergessenheit gerathe. Im Pickwick schadet das weniger, denn man hat es nicht mit einer zusammenhängenden Geschichte zu thun, sondern mit einzelnen Volksscenen, die wohl oder übel durch die Anwesenheit einer Haupt¬ person aneinander gefabelt werden. Dagegen wirkt es nachtheilig auf die Charakter- bildung. Die ganze Gesellschaft der Pickwickier hat' ursprünglich einen satyrischen, und zwar einen ziemlich grob satyrischen Zuschnitt; bei weiterer Ausmalung ver¬ liebt sich aber Dickens so in seinen Helden, daß ein Ideal daraus wird, und daß seine. Gefährten, bei denen die Carricatur festgehalten wird, in keinem Verhältniß mehr dazu stehen. Er selber hat sich über diesen Punkt damit zu rechtfertigen gesucht, daß einem bei einem ähnlichen Charakter zuerst die lächerlichen Seiten in die- Augen springen, und daß man erst allmälig hinter den wahren Fonds feines. Geistes kommt. Die Bemerkung ist vollkommen richtig, aber sie entschul¬ digt den Dichter uicht, der mit seineu Geschöpfen so genau bekannt sein muß wie der liebe Gott mit den Erzeugnissen seiner Muße. Ueberdies begegnet es Dickens öfters, daß er aus Gutmüthigkeit zuletzt die Härte seiner Personen, wenn diese uicht geradezu einen abstracten Begriff versinnlichen sollen, fallen läßt; ich erinnere nur an die Bekehrung des alten Dombey., Abgesehen von diesen Fehlern, ist der Humor der Darstellung unübertrefflich. Er unterscheidet sich vou dem deutschen Humor ebenso vortheilhaft, wie das eng¬ lische Leben von dem deutschen. — Es ist nicht unnöthig, über das Wesen des Humors einige Bemerkungen zu machen, wMger aus dem Grunde, als ob der Begriff an sich unklar wäre, als zur Abwehr der verschrobenen Theorien, die theils das schlechte Beispiel von Jean Paul,. Haman, Mpel, Arnim, Heine :c., theils eine vollständig von dem Leben und der Bestimmtheit gelöste Speculatiott hervorgerufen hat, und die zuletzt das Wesen der Kunstform in ihr Gegentheil, in'S Mystische und Trausceudeute verkehrt haben. . Mau denkt sich jetzt unter Humor eine Reihe gewaltsamer Contraste, russische Dampfbäder aus dem Frost diabolischer Ironie in die Gluth verzückter Begeisterung. Auf die nackten Cynismen kalter Selbstsucht muß augenblicklich jene ätherische Empfindungsweise Emanuels folgen, die zu verstehen selbst den Engeln im Himmel 21*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/175>, abgerufen am 27.06.2024.