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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band.

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nicht den heitern Ton und die Durchsichtigkeit, die diesen auszeichnet; dagegen ist
das große Talent unsers Dichters, das seelenlose zu beleben, schon in vollem
Maße entfaltet. Die deutschen Dichter versuchen es meistens mit der eigentlichen
Natur; Jean Paul z. B. ist unermüdlich, Wiesen, Bäume, Sonnenschein und
Regen durch lebhaftes Empfinden in Bewegung zu setzen und zu vergeistigen.
Die Engländer beschäftigen sich lieber mit historischen Loealitäten, denen der
Mensch, wenn er auch uoch so verkümmert,' sein Siegel aufgeprägt hat. Abge¬
legene Schiffswerften, verfallene Wirthshäuser, kleine dürftige Städte mit engen
Straßen und schiefen Häusern u. s. w. gewinnen bei Dickens eine so individuelle
Physiognomie, daß sie uns anheimeln. Dickens macht es anders als Walter
Scott, der auch darin in seiner Weise unnachahmlich ist; dieser gibt uns eine so
detaillirte und correcte Beschreibung, daß wir nöthigenfalls den Schauplatz der
Begebenheiten selbst zu construiren im Stande wären. Dickens ist nicht so correct;
zuweilen widerspricht er sich geradezu in seinen einzelnen Angaben, weil er sub-
jectiv zu Werke geht und nach seinen jedesmaligen Bedürfnissen mit souveräner
Willkür über die gegebenen Voraussetzungen verfügt; Vieles läßt er unbestimmt,
und es scheint bei ihm stets ein romantisches Lampenlicht, welches einzelne Gegen¬
stände scharf hervortreten, Anderes verschwinden 'läßt. Dagegen weiß er, wie der gute
Landschaftsmaler, die Stimmung seiner Landschaft so energisch herauszutreiben, er
läßt uns die einzelne Anschauung so deutlich und plastisch erleben, daß 'wir uns
sofort zu Hause finden. Zuweilen wird diese Plastik phantastisch und mamerirt,
wie es mit den Führern ans Bergreisen der Fall zu sein pflegt, die sich-gerne
auf künstliche Vergleiche forciren, aber es ist doch immer Natur darin, lind der
Eindruck, den er hervorbringen will, prägt sich um so schärfer ans.

Sein Pickwick hat es mehr init den Menschen zu thun. Es ist iZine so
heitre und derbe Darstellung des englischen Volks, daß kaum ein anderes Buch
damit wetteisern dürfte. Dickens 'hat 'darin einen großen Vorzug vor Walter
Scott, der es doch meistens mit Schotten zu thun hat. Die Schotten haben
viel Anlage zur Romantik und daneben auch , viel Verstand, aber die Eigen¬
schaft, welche die glücklichen Sohne Albions vorzüglich auszeichnet, geht ihnen
ganz ab : Gemüthlichkeit. Wir-'KHvfch'en> bei'denen der Begriff der Gemüth-,
lichkeit gewöhnlich mit Weichheit, Sentimentalität und Träumerei zusammenfällt,
können uns gar nicht vorstellen, wie ein so determinirtes Und egoistisches Volk
gemüthlich sein kann; aber Figuren, >wie Pickwick selbst, Sam Weller und sein
Vater, der lustige Kutscher,- dürfen uns eines Bessern belehveU. Drollig und doch
von gesundem Menschenverstand, nich't sehr geneigt, in 'Ekstase zu gerathen, und
doch treu und gutmüthfg; voll liebenswürdiger Gefälligkeit, und doch -unter Um¬
ständen fest entschlossen bis zum Starrsinn, das sind die Zdeale des englischen
Lebens, die auch die unsrigen sein könnten. -- Noch viel günstiger stellt sich-das
Verhältniß des Engländers zu dem Iren heraus; die irländischen Dichter schildern


nicht den heitern Ton und die Durchsichtigkeit, die diesen auszeichnet; dagegen ist
das große Talent unsers Dichters, das seelenlose zu beleben, schon in vollem
Maße entfaltet. Die deutschen Dichter versuchen es meistens mit der eigentlichen
Natur; Jean Paul z. B. ist unermüdlich, Wiesen, Bäume, Sonnenschein und
Regen durch lebhaftes Empfinden in Bewegung zu setzen und zu vergeistigen.
Die Engländer beschäftigen sich lieber mit historischen Loealitäten, denen der
Mensch, wenn er auch uoch so verkümmert,' sein Siegel aufgeprägt hat. Abge¬
legene Schiffswerften, verfallene Wirthshäuser, kleine dürftige Städte mit engen
Straßen und schiefen Häusern u. s. w. gewinnen bei Dickens eine so individuelle
Physiognomie, daß sie uns anheimeln. Dickens macht es anders als Walter
Scott, der auch darin in seiner Weise unnachahmlich ist; dieser gibt uns eine so
detaillirte und correcte Beschreibung, daß wir nöthigenfalls den Schauplatz der
Begebenheiten selbst zu construiren im Stande wären. Dickens ist nicht so correct;
zuweilen widerspricht er sich geradezu in seinen einzelnen Angaben, weil er sub-
jectiv zu Werke geht und nach seinen jedesmaligen Bedürfnissen mit souveräner
Willkür über die gegebenen Voraussetzungen verfügt; Vieles läßt er unbestimmt,
und es scheint bei ihm stets ein romantisches Lampenlicht, welches einzelne Gegen¬
stände scharf hervortreten, Anderes verschwinden 'läßt. Dagegen weiß er, wie der gute
Landschaftsmaler, die Stimmung seiner Landschaft so energisch herauszutreiben, er
läßt uns die einzelne Anschauung so deutlich und plastisch erleben, daß 'wir uns
sofort zu Hause finden. Zuweilen wird diese Plastik phantastisch und mamerirt,
wie es mit den Führern ans Bergreisen der Fall zu sein pflegt, die sich-gerne
auf künstliche Vergleiche forciren, aber es ist doch immer Natur darin, lind der
Eindruck, den er hervorbringen will, prägt sich um so schärfer ans.

Sein Pickwick hat es mehr init den Menschen zu thun. Es ist iZine so
heitre und derbe Darstellung des englischen Volks, daß kaum ein anderes Buch
damit wetteisern dürfte. Dickens 'hat 'darin einen großen Vorzug vor Walter
Scott, der es doch meistens mit Schotten zu thun hat. Die Schotten haben
viel Anlage zur Romantik und daneben auch , viel Verstand, aber die Eigen¬
schaft, welche die glücklichen Sohne Albions vorzüglich auszeichnet, geht ihnen
ganz ab : Gemüthlichkeit. Wir-'KHvfch'en> bei'denen der Begriff der Gemüth-,
lichkeit gewöhnlich mit Weichheit, Sentimentalität und Träumerei zusammenfällt,
können uns gar nicht vorstellen, wie ein so determinirtes Und egoistisches Volk
gemüthlich sein kann; aber Figuren, >wie Pickwick selbst, Sam Weller und sein
Vater, der lustige Kutscher,- dürfen uns eines Bessern belehveU. Drollig und doch
von gesundem Menschenverstand, nich't sehr geneigt, in 'Ekstase zu gerathen, und
doch treu und gutmüthfg; voll liebenswürdiger Gefälligkeit, und doch -unter Um¬
ständen fest entschlossen bis zum Starrsinn, das sind die Zdeale des englischen
Lebens, die auch die unsrigen sein könnten. — Noch viel günstiger stellt sich-das
Verhältniß des Engländers zu dem Iren heraus; die irländischen Dichter schildern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345606/174>, abgerufen am 27.06.2024.