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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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der scholastischen und der belletristischen Sprache, jenes coqnette Tändeln mit
sehr ernsthaften Problemen, das in gewisser Beziehung wieder an die romantische
Schule erinnerte. Die Philosophie legte ihre Amtsmiene ab und buhlte um die
Gunst der Menge. Sie construirte die Nothwendigkeit der Fanny Elster,
während die Belletristik mit großer Salbung und einem leidenden Christusgesichte
sich über das Wesen Gottes Gedanken machte. Man trat auch mit den Fran¬
zosen in Verbindung, und wurde- dadurch genöthigt, den eigenen Tiefsinn etwas
aufzuklären; man theilte sich in rechte und linke Seite und in ein Centrum, und
zuletzt waren die Geheimnisse der Philosophie so populair geworden, daß es für
eine Schande galt, nicht darin eingeweiht zu sein, und daß aus dem philoso¬
phischen Fortschritte eine Massenbewegung wurde. In Prosa und in Versen
stürmte die Masse mit Feuerbach, Rüge und Henvegh gegen das Bestehende an,
immer muthiger wurden die Herzen, immer kühner die Standpunkte, immer
freier die Principien, bis ein einfaches Machtwort diesem Adlerfluge des Radi¬
kalismus Einhalt gebot.

Der alte Staat, der dieser ewigen Anfechtungen müde geworden war, unter¬
drückte im Jahre -1843 die vorzüglichsten Organe des Radicalismus, ohne daß
eine Revolution dadurch entstand. Auf das erste Erstaunen folgte bald eine
allgemeine Abgespanntheit; man hatte sich über Gebühr angestrengt und fühlte
nun eine große Leere. Der eigentliche Philister trat wieder hervor mit seinem
gesunden Menschenverstand, seinem Lichtfrcnndthmn und seinem Materialismus,
während die absolute Philosophie durch eine eben so absolute Kritik sich selber
zerfleischte. Sobald einmal der Zweifel eingetreten ist, ist es mit der Sieges¬
gewißheit vorüber. Das Interesse des praktischen Verstandes aus der einen
Seite, und die exacte Wissenschaft auf der andern, die bisher nur durch den
studentischen Lärm übertäubt war, veranlaßten eine allgemeine Reaction gegen
das herrschende System.

Uebersehen wir die Einwirkungen, welche die Philosophie in dieser Zeit aus
die Wissenschaft ausgeübt hat, so sind sie zwar immer sehr bedeutend, aber sie
haben wenig Aussicht einer sichern Dauer. Von einer eigentlichen Naturphilo¬
sophie ist kaum mehr die Rede. Wenn man heutzutage die Schriften von
Schubert und den andern Schellingianern aufschlägt, so erregt ihre Confusion
kaum ein größeres Erstaunen, als die wunderlichen Voraussetzungen, die man in
der weit gründlichern Bildung der Hegel'schen Naturgeschichte antrifft. Die Phi¬
losophen haben in neuerer Zeit eine zu gefährliche Concurrenz auszuhalten. Wenn
die Naturwissenschaft eben so wie die Geschichte das sehr wesentliche Bedürfniß
hat, sich von Zeit zu Zeit in einem Gesammtbilde anzuschauen, und wenn ihre
einzelnen Forschungen durch die Mühsamkeit und die Mikroskopie der Analyse
diesem Bedürfniß noch weniger genügen, als die historischen Monographien, so
hatte man bisher nur bei der Metaphysik Rath und Hilfe gesucht; seitdem aber


der scholastischen und der belletristischen Sprache, jenes coqnette Tändeln mit
sehr ernsthaften Problemen, das in gewisser Beziehung wieder an die romantische
Schule erinnerte. Die Philosophie legte ihre Amtsmiene ab und buhlte um die
Gunst der Menge. Sie construirte die Nothwendigkeit der Fanny Elster,
während die Belletristik mit großer Salbung und einem leidenden Christusgesichte
sich über das Wesen Gottes Gedanken machte. Man trat auch mit den Fran¬
zosen in Verbindung, und wurde- dadurch genöthigt, den eigenen Tiefsinn etwas
aufzuklären; man theilte sich in rechte und linke Seite und in ein Centrum, und
zuletzt waren die Geheimnisse der Philosophie so populair geworden, daß es für
eine Schande galt, nicht darin eingeweiht zu sein, und daß aus dem philoso¬
phischen Fortschritte eine Massenbewegung wurde. In Prosa und in Versen
stürmte die Masse mit Feuerbach, Rüge und Henvegh gegen das Bestehende an,
immer muthiger wurden die Herzen, immer kühner die Standpunkte, immer
freier die Principien, bis ein einfaches Machtwort diesem Adlerfluge des Radi¬
kalismus Einhalt gebot.

Der alte Staat, der dieser ewigen Anfechtungen müde geworden war, unter¬
drückte im Jahre -1843 die vorzüglichsten Organe des Radicalismus, ohne daß
eine Revolution dadurch entstand. Auf das erste Erstaunen folgte bald eine
allgemeine Abgespanntheit; man hatte sich über Gebühr angestrengt und fühlte
nun eine große Leere. Der eigentliche Philister trat wieder hervor mit seinem
gesunden Menschenverstand, seinem Lichtfrcnndthmn und seinem Materialismus,
während die absolute Philosophie durch eine eben so absolute Kritik sich selber
zerfleischte. Sobald einmal der Zweifel eingetreten ist, ist es mit der Sieges¬
gewißheit vorüber. Das Interesse des praktischen Verstandes aus der einen
Seite, und die exacte Wissenschaft auf der andern, die bisher nur durch den
studentischen Lärm übertäubt war, veranlaßten eine allgemeine Reaction gegen
das herrschende System.

Uebersehen wir die Einwirkungen, welche die Philosophie in dieser Zeit aus
die Wissenschaft ausgeübt hat, so sind sie zwar immer sehr bedeutend, aber sie
haben wenig Aussicht einer sichern Dauer. Von einer eigentlichen Naturphilo¬
sophie ist kaum mehr die Rede. Wenn man heutzutage die Schriften von
Schubert und den andern Schellingianern aufschlägt, so erregt ihre Confusion
kaum ein größeres Erstaunen, als die wunderlichen Voraussetzungen, die man in
der weit gründlichern Bildung der Hegel'schen Naturgeschichte antrifft. Die Phi¬
losophen haben in neuerer Zeit eine zu gefährliche Concurrenz auszuhalten. Wenn
die Naturwissenschaft eben so wie die Geschichte das sehr wesentliche Bedürfniß
hat, sich von Zeit zu Zeit in einem Gesammtbilde anzuschauen, und wenn ihre
einzelnen Forschungen durch die Mühsamkeit und die Mikroskopie der Analyse
diesem Bedürfniß noch weniger genügen, als die historischen Monographien, so
hatte man bisher nur bei der Metaphysik Rath und Hilfe gesucht; seitdem aber


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[0380] der scholastischen und der belletristischen Sprache, jenes coqnette Tändeln mit sehr ernsthaften Problemen, das in gewisser Beziehung wieder an die romantische Schule erinnerte. Die Philosophie legte ihre Amtsmiene ab und buhlte um die Gunst der Menge. Sie construirte die Nothwendigkeit der Fanny Elster, während die Belletristik mit großer Salbung und einem leidenden Christusgesichte sich über das Wesen Gottes Gedanken machte. Man trat auch mit den Fran¬ zosen in Verbindung, und wurde- dadurch genöthigt, den eigenen Tiefsinn etwas aufzuklären; man theilte sich in rechte und linke Seite und in ein Centrum, und zuletzt waren die Geheimnisse der Philosophie so populair geworden, daß es für eine Schande galt, nicht darin eingeweiht zu sein, und daß aus dem philoso¬ phischen Fortschritte eine Massenbewegung wurde. In Prosa und in Versen stürmte die Masse mit Feuerbach, Rüge und Henvegh gegen das Bestehende an, immer muthiger wurden die Herzen, immer kühner die Standpunkte, immer freier die Principien, bis ein einfaches Machtwort diesem Adlerfluge des Radi¬ kalismus Einhalt gebot. Der alte Staat, der dieser ewigen Anfechtungen müde geworden war, unter¬ drückte im Jahre -1843 die vorzüglichsten Organe des Radicalismus, ohne daß eine Revolution dadurch entstand. Auf das erste Erstaunen folgte bald eine allgemeine Abgespanntheit; man hatte sich über Gebühr angestrengt und fühlte nun eine große Leere. Der eigentliche Philister trat wieder hervor mit seinem gesunden Menschenverstand, seinem Lichtfrcnndthmn und seinem Materialismus, während die absolute Philosophie durch eine eben so absolute Kritik sich selber zerfleischte. Sobald einmal der Zweifel eingetreten ist, ist es mit der Sieges¬ gewißheit vorüber. Das Interesse des praktischen Verstandes aus der einen Seite, und die exacte Wissenschaft auf der andern, die bisher nur durch den studentischen Lärm übertäubt war, veranlaßten eine allgemeine Reaction gegen das herrschende System. Uebersehen wir die Einwirkungen, welche die Philosophie in dieser Zeit aus die Wissenschaft ausgeübt hat, so sind sie zwar immer sehr bedeutend, aber sie haben wenig Aussicht einer sichern Dauer. Von einer eigentlichen Naturphilo¬ sophie ist kaum mehr die Rede. Wenn man heutzutage die Schriften von Schubert und den andern Schellingianern aufschlägt, so erregt ihre Confusion kaum ein größeres Erstaunen, als die wunderlichen Voraussetzungen, die man in der weit gründlichern Bildung der Hegel'schen Naturgeschichte antrifft. Die Phi¬ losophen haben in neuerer Zeit eine zu gefährliche Concurrenz auszuhalten. Wenn die Naturwissenschaft eben so wie die Geschichte das sehr wesentliche Bedürfniß hat, sich von Zeit zu Zeit in einem Gesammtbilde anzuschauen, und wenn ihre einzelnen Forschungen durch die Mühsamkeit und die Mikroskopie der Analyse diesem Bedürfniß noch weniger genügen, als die historischen Monographien, so hatte man bisher nur bei der Metaphysik Rath und Hilfe gesucht; seitdem aber

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/380>, abgerufen am 01.09.2024.