Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeit zu Zeit irgend einer der eingeweihteren Schüler auf, um das Publicum über
das Wesen der Hegel'schen Lehre zu unterrichten, aber jener mythische Aus¬
druck, daß Hegel uur vou Einem verstanden sei, der ihn mißverstanden habe,
war bereits zu populair geworden, als daß man einer solchen Profanation recht
hätte trauen sollen.

Mit der Julirevolution und mit Hegel's Tode änderte sich die Sache. Die
Schüler dursten nicht mehr Furcht haben, vou dem Meister desavouirt zu
werden; sie konnten ans eigene Hand Exegese machen, und die Exegese, von
dem ursprünglichen Katechismus abgelöst, wurde von Tage zu Tage selbstständiger.
Früher war das System so absolutistisch und streng abgeschlossen, daß ein ein¬
faches Bekenntniß genügte, sich zum Gläubigen zu machen, daß ein Gentleman
wie Varnhagen durch seine bloße Erklärung sich als Hegelianer bekannte, ohne
im Uebrigen von der Sprache der Schule Gebrauch zu machen. Seitdem er
aber nicht mehr aus den Meister recurriren konnte, mußte jeder einzelne Philosoph
sich durch freie Thätigkeit legitimiren. Im Anfang wurde durch die Herausgabe
von Hegel's Werken die Schule wenigstens äußerlich zusammengehalten. Die
Schriften von Strauß und seine" Nachfolgern, für oder wider die man Partei
nehmen mußte, trennten sehr bald auch dieses äußerliche Band. Ueber die Idee
der Restauration hinaus, welche Hegel selbst repräsentirt hatte, und die von
einer gewissen diplomatischen Zurechtmacherei nicht zu trennen war, drängte sich
wieder das revolutionäre Bewußtsein, und zwar glaubte man sich ihm diesmal
mit um so größerer Unbefangenheit hingeben zu können, da in den Julitagen
die Schrecken der ersten großen Revolution vermieden waren. Die Ideen der
Freiheit gingen über die blos politischen Voraussetzungen hinaus; sie strebten
nicht mehr nach einer leichten Befriedigung, sondern nach einer geistreichen Er¬
füllung; sie wollten nicht mehr auf der Oberfläche bleiben, sondern in die Tiefe
des Wesens eindringen. Die Philosophen waren daher die geeigneten Führer
dieser neuen Bewegung. So wie aber die Philosophie auf die übrige Tages¬
literatur influirte, so konnte sie sich ihrerseits dem Einflüsse derselben nicht entziehen.
Die leitende Idee der Restaurationszeit, wie sie sich in Goethe's letzter Periode
und in Hegel ausspricht, war Resignation, Andacht und Ergebung; die leitende
Idee der neuen Bewegung war der sogenannte. Weltschmerz, die Poesie des
Kontrastes, nicht mehr das naive Leiden des jungen Werther, das nnr die
Individualität traf, sondern der Bruch zwischen der geistigen oder göttlichen und
der sinnlichen Wahrheit, .die sich zwar auch in dem Individuum offenbarte, die
aber eigentlich einen Riß durch die ganze Welt machen sollte. Der Faust wurde
der Mythus des Zeitalters, Lord Byron eiuer seiner ersten Propheten, und
das junge Deutschland mit Heine an der Spitze wetteiferte mit den Philosophen,
das Evangelium des Schmerzes zu verkündigen. Jenes entlehnte von diesem
die Phrasen, und diese empfingen dafür die Methode; es begann jene Mischung


Zeit zu Zeit irgend einer der eingeweihteren Schüler auf, um das Publicum über
das Wesen der Hegel'schen Lehre zu unterrichten, aber jener mythische Aus¬
druck, daß Hegel uur vou Einem verstanden sei, der ihn mißverstanden habe,
war bereits zu populair geworden, als daß man einer solchen Profanation recht
hätte trauen sollen.

Mit der Julirevolution und mit Hegel's Tode änderte sich die Sache. Die
Schüler dursten nicht mehr Furcht haben, vou dem Meister desavouirt zu
werden; sie konnten ans eigene Hand Exegese machen, und die Exegese, von
dem ursprünglichen Katechismus abgelöst, wurde von Tage zu Tage selbstständiger.
Früher war das System so absolutistisch und streng abgeschlossen, daß ein ein¬
faches Bekenntniß genügte, sich zum Gläubigen zu machen, daß ein Gentleman
wie Varnhagen durch seine bloße Erklärung sich als Hegelianer bekannte, ohne
im Uebrigen von der Sprache der Schule Gebrauch zu machen. Seitdem er
aber nicht mehr aus den Meister recurriren konnte, mußte jeder einzelne Philosoph
sich durch freie Thätigkeit legitimiren. Im Anfang wurde durch die Herausgabe
von Hegel's Werken die Schule wenigstens äußerlich zusammengehalten. Die
Schriften von Strauß und seine» Nachfolgern, für oder wider die man Partei
nehmen mußte, trennten sehr bald auch dieses äußerliche Band. Ueber die Idee
der Restauration hinaus, welche Hegel selbst repräsentirt hatte, und die von
einer gewissen diplomatischen Zurechtmacherei nicht zu trennen war, drängte sich
wieder das revolutionäre Bewußtsein, und zwar glaubte man sich ihm diesmal
mit um so größerer Unbefangenheit hingeben zu können, da in den Julitagen
die Schrecken der ersten großen Revolution vermieden waren. Die Ideen der
Freiheit gingen über die blos politischen Voraussetzungen hinaus; sie strebten
nicht mehr nach einer leichten Befriedigung, sondern nach einer geistreichen Er¬
füllung; sie wollten nicht mehr auf der Oberfläche bleiben, sondern in die Tiefe
des Wesens eindringen. Die Philosophen waren daher die geeigneten Führer
dieser neuen Bewegung. So wie aber die Philosophie auf die übrige Tages¬
literatur influirte, so konnte sie sich ihrerseits dem Einflüsse derselben nicht entziehen.
Die leitende Idee der Restaurationszeit, wie sie sich in Goethe's letzter Periode
und in Hegel ausspricht, war Resignation, Andacht und Ergebung; die leitende
Idee der neuen Bewegung war der sogenannte. Weltschmerz, die Poesie des
Kontrastes, nicht mehr das naive Leiden des jungen Werther, das nnr die
Individualität traf, sondern der Bruch zwischen der geistigen oder göttlichen und
der sinnlichen Wahrheit, .die sich zwar auch in dem Individuum offenbarte, die
aber eigentlich einen Riß durch die ganze Welt machen sollte. Der Faust wurde
der Mythus des Zeitalters, Lord Byron eiuer seiner ersten Propheten, und
das junge Deutschland mit Heine an der Spitze wetteiferte mit den Philosophen,
das Evangelium des Schmerzes zu verkündigen. Jenes entlehnte von diesem
die Phrasen, und diese empfingen dafür die Methode; es begann jene Mischung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/91572"/>
          <p xml:id="ID_1040" prev="#ID_1039"> Zeit zu Zeit irgend einer der eingeweihteren Schüler auf, um das Publicum über<lb/>
das Wesen der Hegel'schen Lehre zu unterrichten, aber jener mythische Aus¬<lb/>
druck, daß Hegel uur vou Einem verstanden sei, der ihn mißverstanden habe,<lb/>
war bereits zu populair geworden, als daß man einer solchen Profanation recht<lb/>
hätte trauen sollen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1041" next="#ID_1042"> Mit der Julirevolution und mit Hegel's Tode änderte sich die Sache. Die<lb/>
Schüler dursten nicht mehr Furcht haben, vou dem Meister desavouirt zu<lb/>
werden; sie konnten ans eigene Hand Exegese machen, und die Exegese, von<lb/>
dem ursprünglichen Katechismus abgelöst, wurde von Tage zu Tage selbstständiger.<lb/>
Früher war das System so absolutistisch und streng abgeschlossen, daß ein ein¬<lb/>
faches Bekenntniß genügte, sich zum Gläubigen zu machen, daß ein Gentleman<lb/>
wie Varnhagen durch seine bloße Erklärung sich als Hegelianer bekannte, ohne<lb/>
im Uebrigen von der Sprache der Schule Gebrauch zu machen. Seitdem er<lb/>
aber nicht mehr aus den Meister recurriren konnte, mußte jeder einzelne Philosoph<lb/>
sich durch freie Thätigkeit legitimiren. Im Anfang wurde durch die Herausgabe<lb/>
von Hegel's Werken die Schule wenigstens äußerlich zusammengehalten. Die<lb/>
Schriften von Strauß und seine» Nachfolgern, für oder wider die man Partei<lb/>
nehmen mußte, trennten sehr bald auch dieses äußerliche Band. Ueber die Idee<lb/>
der Restauration hinaus, welche Hegel selbst repräsentirt hatte, und die von<lb/>
einer gewissen diplomatischen Zurechtmacherei nicht zu trennen war, drängte sich<lb/>
wieder das revolutionäre Bewußtsein, und zwar glaubte man sich ihm diesmal<lb/>
mit um so größerer Unbefangenheit hingeben zu können, da in den Julitagen<lb/>
die Schrecken der ersten großen Revolution vermieden waren. Die Ideen der<lb/>
Freiheit gingen über die blos politischen Voraussetzungen hinaus; sie strebten<lb/>
nicht mehr nach einer leichten Befriedigung, sondern nach einer geistreichen Er¬<lb/>
füllung; sie wollten nicht mehr auf der Oberfläche bleiben, sondern in die Tiefe<lb/>
des Wesens eindringen. Die Philosophen waren daher die geeigneten Führer<lb/>
dieser neuen Bewegung. So wie aber die Philosophie auf die übrige Tages¬<lb/>
literatur influirte, so konnte sie sich ihrerseits dem Einflüsse derselben nicht entziehen.<lb/>
Die leitende Idee der Restaurationszeit, wie sie sich in Goethe's letzter Periode<lb/>
und in Hegel ausspricht, war Resignation, Andacht und Ergebung; die leitende<lb/>
Idee der neuen Bewegung war der sogenannte. Weltschmerz, die Poesie des<lb/>
Kontrastes, nicht mehr das naive Leiden des jungen Werther, das nnr die<lb/>
Individualität traf, sondern der Bruch zwischen der geistigen oder göttlichen und<lb/>
der sinnlichen Wahrheit, .die sich zwar auch in dem Individuum offenbarte, die<lb/>
aber eigentlich einen Riß durch die ganze Welt machen sollte. Der Faust wurde<lb/>
der Mythus des Zeitalters, Lord Byron eiuer seiner ersten Propheten, und<lb/>
das junge Deutschland mit Heine an der Spitze wetteiferte mit den Philosophen,<lb/>
das Evangelium des Schmerzes zu verkündigen. Jenes entlehnte von diesem<lb/>
die Phrasen, und diese empfingen dafür die Methode; es begann jene Mischung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0379] Zeit zu Zeit irgend einer der eingeweihteren Schüler auf, um das Publicum über das Wesen der Hegel'schen Lehre zu unterrichten, aber jener mythische Aus¬ druck, daß Hegel uur vou Einem verstanden sei, der ihn mißverstanden habe, war bereits zu populair geworden, als daß man einer solchen Profanation recht hätte trauen sollen. Mit der Julirevolution und mit Hegel's Tode änderte sich die Sache. Die Schüler dursten nicht mehr Furcht haben, vou dem Meister desavouirt zu werden; sie konnten ans eigene Hand Exegese machen, und die Exegese, von dem ursprünglichen Katechismus abgelöst, wurde von Tage zu Tage selbstständiger. Früher war das System so absolutistisch und streng abgeschlossen, daß ein ein¬ faches Bekenntniß genügte, sich zum Gläubigen zu machen, daß ein Gentleman wie Varnhagen durch seine bloße Erklärung sich als Hegelianer bekannte, ohne im Uebrigen von der Sprache der Schule Gebrauch zu machen. Seitdem er aber nicht mehr aus den Meister recurriren konnte, mußte jeder einzelne Philosoph sich durch freie Thätigkeit legitimiren. Im Anfang wurde durch die Herausgabe von Hegel's Werken die Schule wenigstens äußerlich zusammengehalten. Die Schriften von Strauß und seine» Nachfolgern, für oder wider die man Partei nehmen mußte, trennten sehr bald auch dieses äußerliche Band. Ueber die Idee der Restauration hinaus, welche Hegel selbst repräsentirt hatte, und die von einer gewissen diplomatischen Zurechtmacherei nicht zu trennen war, drängte sich wieder das revolutionäre Bewußtsein, und zwar glaubte man sich ihm diesmal mit um so größerer Unbefangenheit hingeben zu können, da in den Julitagen die Schrecken der ersten großen Revolution vermieden waren. Die Ideen der Freiheit gingen über die blos politischen Voraussetzungen hinaus; sie strebten nicht mehr nach einer leichten Befriedigung, sondern nach einer geistreichen Er¬ füllung; sie wollten nicht mehr auf der Oberfläche bleiben, sondern in die Tiefe des Wesens eindringen. Die Philosophen waren daher die geeigneten Führer dieser neuen Bewegung. So wie aber die Philosophie auf die übrige Tages¬ literatur influirte, so konnte sie sich ihrerseits dem Einflüsse derselben nicht entziehen. Die leitende Idee der Restaurationszeit, wie sie sich in Goethe's letzter Periode und in Hegel ausspricht, war Resignation, Andacht und Ergebung; die leitende Idee der neuen Bewegung war der sogenannte. Weltschmerz, die Poesie des Kontrastes, nicht mehr das naive Leiden des jungen Werther, das nnr die Individualität traf, sondern der Bruch zwischen der geistigen oder göttlichen und der sinnlichen Wahrheit, .die sich zwar auch in dem Individuum offenbarte, die aber eigentlich einen Riß durch die ganze Welt machen sollte. Der Faust wurde der Mythus des Zeitalters, Lord Byron eiuer seiner ersten Propheten, und das junge Deutschland mit Heine an der Spitze wetteiferte mit den Philosophen, das Evangelium des Schmerzes zu verkündigen. Jenes entlehnte von diesem die Phrasen, und diese empfingen dafür die Methode; es begann jene Mischung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/379
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/379>, abgerufen am 01.09.2024.