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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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Männer wie Humboldt mit kühner und fester Meisterhand die Physiognomie der
Natur in glänzenden Bildern wiedergeben, verbleichen die Nebelbilder der Meta¬
physik. Deshalb ist sie doch nicht ohne Frucht geblieben: sie hat die Gesichts¬
punkte angedeutet und die Perspektiven vorgezeichnet, die nun der Kundige mit
Inhalt und Leben auszufüllen berufen ist.

Natürlich ist ihr Einfluß ans die nicht-exacten Wissenschaften, d. h. ans die¬
jenigen, die sich Mit dem geistigen Leben beschäftigen, bedeutender gewesen. Die
neuere Geschichtschreibung ist dnrch und durch von philosophischen Voraussetzungen
inficirt, namentlich ist die Kategorie der Nothwendigkeit und die Idee jener iro¬
nisch wirkenden Kraft des Weltgeistes, die sich auch im Absurden offenbart, von
den geistvollsten Historikern adoptirt worden, und überall erkennt man Hegel'sche
Sätze wieder, wie denn anch seinerseits Hegel freilich nicht Alles erfunden hat,
was in seinen Werken steht. Jener Pragmatismus, der den endlichen Stand¬
punkt einer bestimmten politischen Richtung festhält, und ihn unterschiedlos ans
alle Perioden der Geschichte anwendet, ist wol ans immer vorüber; dagegen ist
die Virtuosität im Construiren, im Erfinden der Geschichte gleichfalls um allen
Credit gekommen. Der Geschichtschreiber wird die Fragen noch immer aus seiner
Philosophie entlehnen dürfen, die Autwort aber wird er sich bescheiden, im ge¬
wissenhaften Studium der Quellen zu suchen. -- Nächst der Geschichte war es
die Aesthetik, welche von der Schule den meisten Einfluß empfangen hat; da wir
aber Gelegenheit haben werden, an einem der geistvollsten Hegelianer diesen Ein¬
fluß genauer nachzuweisen, -- wie denn überhaupt der ganze gegenwärtige Aufsatz
nur eine Einleitung sein soll, -- so übergehen wir hier vorläufig diesen Punkt. --
Am Vollständigsten schien die Herrschaft der Schule über die Theologie hergestellt
zu sein, und gerade hier ist die entschiedenste Reaction eingetreten. Die Hegel'sche
Lcinevräig, ÄiseorclanUnm Ocmonnm ist aus den Index gesetzt worden. Nicht
allein haben sich die eigentlichen Theologen, die Orthodoxen wie die Rationalisten,
mit Abscheu vou jenen Lehren abgewendet, die ihr Heiligstes auf eine Weise
profanirt haben, wie es kaum von den Französischen Encyclopädisten des vorigen
Jahrhunderts geschehen ist, sondern auch die wirkliche Wissenschaft kommt mehr
und mehr zu der Ueberzeugung, daß weder jene exegetische Resignation, die
in alleu Dogmen und Vorstellungen des Christenthums die freilich in Bildern
und Mythen befangene, aber doch absolute Weisheit suchte, noch der Pessi¬
mismus, der im Christenthum den Triumph des absoluten Unsinns feiert, der
richtige Gemüthszustand ist,- eine große historische Erscheinung wie das Christen-
thum zu begreifen und zu analysiren. Sie überzeugt sich mehr und mehr, daß
eine unbefangene philologische und historische Kritik für das Verständniß der
christlichen Quellen eine eben so nothwendige Basis ist, als für jede andere histo¬
rische Schrift, und daß die Methode der Prüfung in dem einen Fall keine andere
' sein kann, als in dem andern.


Grcnzvoten. II. I8SI. i7

Männer wie Humboldt mit kühner und fester Meisterhand die Physiognomie der
Natur in glänzenden Bildern wiedergeben, verbleichen die Nebelbilder der Meta¬
physik. Deshalb ist sie doch nicht ohne Frucht geblieben: sie hat die Gesichts¬
punkte angedeutet und die Perspektiven vorgezeichnet, die nun der Kundige mit
Inhalt und Leben auszufüllen berufen ist.

Natürlich ist ihr Einfluß ans die nicht-exacten Wissenschaften, d. h. ans die¬
jenigen, die sich Mit dem geistigen Leben beschäftigen, bedeutender gewesen. Die
neuere Geschichtschreibung ist dnrch und durch von philosophischen Voraussetzungen
inficirt, namentlich ist die Kategorie der Nothwendigkeit und die Idee jener iro¬
nisch wirkenden Kraft des Weltgeistes, die sich auch im Absurden offenbart, von
den geistvollsten Historikern adoptirt worden, und überall erkennt man Hegel'sche
Sätze wieder, wie denn anch seinerseits Hegel freilich nicht Alles erfunden hat,
was in seinen Werken steht. Jener Pragmatismus, der den endlichen Stand¬
punkt einer bestimmten politischen Richtung festhält, und ihn unterschiedlos ans
alle Perioden der Geschichte anwendet, ist wol ans immer vorüber; dagegen ist
die Virtuosität im Construiren, im Erfinden der Geschichte gleichfalls um allen
Credit gekommen. Der Geschichtschreiber wird die Fragen noch immer aus seiner
Philosophie entlehnen dürfen, die Autwort aber wird er sich bescheiden, im ge¬
wissenhaften Studium der Quellen zu suchen. — Nächst der Geschichte war es
die Aesthetik, welche von der Schule den meisten Einfluß empfangen hat; da wir
aber Gelegenheit haben werden, an einem der geistvollsten Hegelianer diesen Ein¬
fluß genauer nachzuweisen, — wie denn überhaupt der ganze gegenwärtige Aufsatz
nur eine Einleitung sein soll, — so übergehen wir hier vorläufig diesen Punkt. —
Am Vollständigsten schien die Herrschaft der Schule über die Theologie hergestellt
zu sein, und gerade hier ist die entschiedenste Reaction eingetreten. Die Hegel'sche
Lcinevräig, ÄiseorclanUnm Ocmonnm ist aus den Index gesetzt worden. Nicht
allein haben sich die eigentlichen Theologen, die Orthodoxen wie die Rationalisten,
mit Abscheu vou jenen Lehren abgewendet, die ihr Heiligstes auf eine Weise
profanirt haben, wie es kaum von den Französischen Encyclopädisten des vorigen
Jahrhunderts geschehen ist, sondern auch die wirkliche Wissenschaft kommt mehr
und mehr zu der Ueberzeugung, daß weder jene exegetische Resignation, die
in alleu Dogmen und Vorstellungen des Christenthums die freilich in Bildern
und Mythen befangene, aber doch absolute Weisheit suchte, noch der Pessi¬
mismus, der im Christenthum den Triumph des absoluten Unsinns feiert, der
richtige Gemüthszustand ist,- eine große historische Erscheinung wie das Christen-
thum zu begreifen und zu analysiren. Sie überzeugt sich mehr und mehr, daß
eine unbefangene philologische und historische Kritik für das Verständniß der
christlichen Quellen eine eben so nothwendige Basis ist, als für jede andere histo¬
rische Schrift, und daß die Methode der Prüfung in dem einen Fall keine andere
' sein kann, als in dem andern.


Grcnzvoten. II. I8SI. i7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/381>, abgerufen am 01.09.2024.