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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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nicht begnügen mochte. Dieser Ernst und diese Tiefe finden sich schon in den
kleinern Schriften "nserS Dichters, zu denen wir hier Machst übergehen.

Seit Goethe'ö "Ausgewanderten" und Schillers "Geisterseher" haben sich die
Deutschen Schriftsteller vielfältig mit der kleinen Novelle beschäftigt. Hoffmann,
Armin, Fouqu", Tieck und Andere haben sie zu einer eigenen Kunstgattnng aus¬
gebildet, bis sie später im großem Roman untergegangen ist. Die Form hatte
den großen Fehler, daß sie den Schriftsteller sehr leicht verleitete, seine Erzählung
zum bloßen Vehikel für Ansichten und Meinungen herabzusehen. Im Allgemeinen
habe" überhaupt die Deutschen nicht das Talent, gut zu erzählen, und sind noch
mehr durch das Beispiel Jean Paul's und der übrigen Humoristen verführt worden,
in der Unklarheit und Verwirrung ein Zeichen von Poesie zu finden. Kleist hat
dagegen das Streben einer energischen concentrirten Einfachheit. Seine Er¬
zählungen sind in einem so strengen Chronikenstyl gehalten, daß man zuweilen
wirklich getäuscht wird und es mit einem historischen Referat zu thun zu haben
glaubt. Er vermeidet mit einer gewissen Aengstlichkeit jedes Durchscheinen seiner
Subjectivität, und wird daher niemals weder humoristisch noch pathetisch; da¬
gegen weiß er durch eine wahrhaft künstlerische Gruppirung seiner Situationen
und Kontraste, wie z. B. im "Erdbeben von Chili," oder dnrch ein strenges Fest¬
halten seiner Charakteristik, wie im "Kohlhaas," eine tragische Wirkung hervorzu¬
bringen. Man muß seine Erzählungen, in denen sich zuweilen vielfache Greuel
häufen, mit den modernen Französischen, z. B. mit Bug Jargal oder den My¬
sterien vergleichen, um seinen künstlerischen Werth vollständig zu empfinden.
Niemals verfolgt er seinen wilden Stoss mit jener krankhafte" Wollust, die unsern
überreizten Geschmack charakterisirt; er ist im Gegentheil fast zu hastig und nimmt
uns die Muße, die Empfindungen, die er in uns erregen will, gehörig zu ver¬
arbeiten. Diese Hast giebt seinen Bildern zuweilen einen träumerischen Anstrich,
obgleich sie nie verwaschen und nie unklar sind. Der düstere Nebel, der sich im
Allgemeinen über dieselben breitet, wird dnrch einzelne helle Sonnenblicke einer
köstlichen Poesie anmuthig unterbrochen. Die Sprache ist bei aller Einfachheit
doch sehr plastisch, und er versteht es, uns durch einzelne kleine Winke eine sehr
genane und sprechende Anschauung zu geben, was bei den Deutschen selten ist. --
Was den sittlichen Eindruck dieser Erzählungen betrifft, so möchte es ein Fehler
sein, daß der Ungestüm, mit welchem die Geschichte verläuft, dem Leser kaum Zeit
läßt, sich die Sache reiflich zu überlegen. Das gilt am Meiste" vom "Kohlhaas,"
entschieden der besten unter seinen Novellen. Der Grundgedanke, daß das höchste
Gefühl des Rechts, wenn es einseitig fest gehalten wird, zum höchsten Unrecht
führt, ist in der Anlage mit großem Sinn gegeben, und die erste Entwickelung
des Gedankens mit einer meisterhaften psychologischen Schärfe und einem voll¬
kommen durchsichtige" Realismus ausgeführt; sobald aber der Wendepunkt eintritt,
ergreift den Dichter ein so fieberhafter Ungestüm, eine so maßlose Wildheit, daß


nicht begnügen mochte. Dieser Ernst und diese Tiefe finden sich schon in den
kleinern Schriften »nserS Dichters, zu denen wir hier Machst übergehen.

Seit Goethe'ö „Ausgewanderten" und Schillers „Geisterseher" haben sich die
Deutschen Schriftsteller vielfältig mit der kleinen Novelle beschäftigt. Hoffmann,
Armin, Fouqu«, Tieck und Andere haben sie zu einer eigenen Kunstgattnng aus¬
gebildet, bis sie später im großem Roman untergegangen ist. Die Form hatte
den großen Fehler, daß sie den Schriftsteller sehr leicht verleitete, seine Erzählung
zum bloßen Vehikel für Ansichten und Meinungen herabzusehen. Im Allgemeinen
habe» überhaupt die Deutschen nicht das Talent, gut zu erzählen, und sind noch
mehr durch das Beispiel Jean Paul's und der übrigen Humoristen verführt worden,
in der Unklarheit und Verwirrung ein Zeichen von Poesie zu finden. Kleist hat
dagegen das Streben einer energischen concentrirten Einfachheit. Seine Er¬
zählungen sind in einem so strengen Chronikenstyl gehalten, daß man zuweilen
wirklich getäuscht wird und es mit einem historischen Referat zu thun zu haben
glaubt. Er vermeidet mit einer gewissen Aengstlichkeit jedes Durchscheinen seiner
Subjectivität, und wird daher niemals weder humoristisch noch pathetisch; da¬
gegen weiß er durch eine wahrhaft künstlerische Gruppirung seiner Situationen
und Kontraste, wie z. B. im „Erdbeben von Chili," oder dnrch ein strenges Fest¬
halten seiner Charakteristik, wie im „Kohlhaas," eine tragische Wirkung hervorzu¬
bringen. Man muß seine Erzählungen, in denen sich zuweilen vielfache Greuel
häufen, mit den modernen Französischen, z. B. mit Bug Jargal oder den My¬
sterien vergleichen, um seinen künstlerischen Werth vollständig zu empfinden.
Niemals verfolgt er seinen wilden Stoss mit jener krankhafte» Wollust, die unsern
überreizten Geschmack charakterisirt; er ist im Gegentheil fast zu hastig und nimmt
uns die Muße, die Empfindungen, die er in uns erregen will, gehörig zu ver¬
arbeiten. Diese Hast giebt seinen Bildern zuweilen einen träumerischen Anstrich,
obgleich sie nie verwaschen und nie unklar sind. Der düstere Nebel, der sich im
Allgemeinen über dieselben breitet, wird dnrch einzelne helle Sonnenblicke einer
köstlichen Poesie anmuthig unterbrochen. Die Sprache ist bei aller Einfachheit
doch sehr plastisch, und er versteht es, uns durch einzelne kleine Winke eine sehr
genane und sprechende Anschauung zu geben, was bei den Deutschen selten ist. —
Was den sittlichen Eindruck dieser Erzählungen betrifft, so möchte es ein Fehler
sein, daß der Ungestüm, mit welchem die Geschichte verläuft, dem Leser kaum Zeit
läßt, sich die Sache reiflich zu überlegen. Das gilt am Meiste» vom „Kohlhaas,"
entschieden der besten unter seinen Novellen. Der Grundgedanke, daß das höchste
Gefühl des Rechts, wenn es einseitig fest gehalten wird, zum höchsten Unrecht
führt, ist in der Anlage mit großem Sinn gegeben, und die erste Entwickelung
des Gedankens mit einer meisterhaften psychologischen Schärfe und einem voll¬
kommen durchsichtige» Realismus ausgeführt; sobald aber der Wendepunkt eintritt,
ergreift den Dichter ein so fieberhafter Ungestüm, eine so maßlose Wildheit, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/339>, abgerufen am 01.09.2024.