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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band.

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wir mir noch an die Begebenheiten denken, nicht mehr an den sittlichen Sinn,
"ut zuletzt ist Recht und-Unrecht so unter einander gewirrt, daß wir um so un¬
befriedigter scheide", da dem Anschein nach die sittliche Frage nach allen Seiten
hin gebührend erledigt sein soll. Kvhlhaas ist nicht bekehrt, und die streitenden
sittliche" Momente haben keinen Austrag gefunden. -- Viel reiner ist der Ein¬
druck im "Erdbeben von Chili." Der menschliche Fanatismus, der die schreckliche
Erschütterung der Natur überdauert, macht einen tragischen Eindruck, ohne uns
zu beklemmen, denn unser eigenes Gefühl wird nicht verwirrt. -- Die beiden
andern größern Erzählungen, "die Marquise von O." und "die Verlobung
in Se. Domingo," sind weniger bedeutend, und die sonst sehr gut gehaltene
Erzählung wird durch einzelne barocke Uebertreibungen gestört; wir haben niemals
das vollständige Gefühl, daß das, was uns gegeben wird, menschlich wahr
ist, gerade weil der Dichter zu ängstlich nach individueller Wahrheit strebt. --

In seinen Dramen erkennen wir den specifisch Deutschen Dichter; wir haben
namentlich an seiner Sprache das Bild eines wahrhaft nationalen Styls, der sich
für'Deutschland auf eine organische Weise hätte entwickeln können, wenn nicht
das Beispiel Goethe's und Schiller's verwirrend dazwischen getreten wäre. Von
Goethe gilt das zwar im Ganzen weniger, denn sein Ausdruck hat ein so ent¬
schieden individuelles Gepräge, daß man sich zu einer Nachahmung schwerlich ver¬
sucht fühlen kauu. Er hat aber dadurch der Entwickelung der Deutschen Kunst
geschadet, daß man die Formlosigkeit und das Hervortreten der subjectiven Stim¬
mung anch im Drama als das wesentliche Zeichen einer genialen Begabung ansah.
Er hat der Bühne die Kräfte entzogen, die sie zu einer fruchtbaren Entwickelung
hätte" fördern können. Schiller dagegen mit seiner entschiedenen Richtung auss
Theater hat eine große Schule gemacht, die um so gefährlicher war, da die Nach¬
bildung seiner Rhetorik ziemlich leicht ist. Daß bei der allgemein gehaltenen
Idealität seiner Sprache in seinen Stücken dennoch eine seine und scharfe Charak¬
teristik zu finden ist, sieht "ur der schärfer Blickende; die oberflächliche Bewunde¬
rung hält sich an die Phrase, und mit der Phrase kann der schlechte Dichter so
gut operiren, wie der gute. Bei den einzelnen Dichtern, die sich dieser Schule
entzogen, treten noch viel schlimmere Uebelstände ein; theils verfolgten sie die
weiche, zerflossene Richtung der Jffland'schen Muse, theils forcirten sie sich in ein
barockes, angeblich geistreiches Wesen hinein. Wenn man Kleist'S Zeitgenossen,
die Arnim und Werner, oder spätere Dichter, wie Grabbe und Aehnliche, mit
den naiven Phraseurs, de" Körner, Müllner, Houwald u. s. w. vergleicht, so
weiß mau in der That nicht, wem man den Vorzug geben soll. "Kleist hat sich
von dem Schiller'scheu Einfluß vollständig frei gehalten ; er ist im Wesentlichen
zu der strengen Einfachheit der Lesstng'sehen Stücke zurückgekehrt, aber er hat zu
gleicher Zeit die Sprache veredelt. Sie hat ein sehr individuelles Leben, und
wird dabei doch vom Dust der Schönheit dnrchhancht. Man hat in neuerer


wir mir noch an die Begebenheiten denken, nicht mehr an den sittlichen Sinn,
»ut zuletzt ist Recht und-Unrecht so unter einander gewirrt, daß wir um so un¬
befriedigter scheide», da dem Anschein nach die sittliche Frage nach allen Seiten
hin gebührend erledigt sein soll. Kvhlhaas ist nicht bekehrt, und die streitenden
sittliche» Momente haben keinen Austrag gefunden. — Viel reiner ist der Ein¬
druck im „Erdbeben von Chili." Der menschliche Fanatismus, der die schreckliche
Erschütterung der Natur überdauert, macht einen tragischen Eindruck, ohne uns
zu beklemmen, denn unser eigenes Gefühl wird nicht verwirrt. — Die beiden
andern größern Erzählungen, „die Marquise von O." und „die Verlobung
in Se. Domingo," sind weniger bedeutend, und die sonst sehr gut gehaltene
Erzählung wird durch einzelne barocke Uebertreibungen gestört; wir haben niemals
das vollständige Gefühl, daß das, was uns gegeben wird, menschlich wahr
ist, gerade weil der Dichter zu ängstlich nach individueller Wahrheit strebt. —

In seinen Dramen erkennen wir den specifisch Deutschen Dichter; wir haben
namentlich an seiner Sprache das Bild eines wahrhaft nationalen Styls, der sich
für'Deutschland auf eine organische Weise hätte entwickeln können, wenn nicht
das Beispiel Goethe's und Schiller's verwirrend dazwischen getreten wäre. Von
Goethe gilt das zwar im Ganzen weniger, denn sein Ausdruck hat ein so ent¬
schieden individuelles Gepräge, daß man sich zu einer Nachahmung schwerlich ver¬
sucht fühlen kauu. Er hat aber dadurch der Entwickelung der Deutschen Kunst
geschadet, daß man die Formlosigkeit und das Hervortreten der subjectiven Stim¬
mung anch im Drama als das wesentliche Zeichen einer genialen Begabung ansah.
Er hat der Bühne die Kräfte entzogen, die sie zu einer fruchtbaren Entwickelung
hätte» fördern können. Schiller dagegen mit seiner entschiedenen Richtung auss
Theater hat eine große Schule gemacht, die um so gefährlicher war, da die Nach¬
bildung seiner Rhetorik ziemlich leicht ist. Daß bei der allgemein gehaltenen
Idealität seiner Sprache in seinen Stücken dennoch eine seine und scharfe Charak¬
teristik zu finden ist, sieht »ur der schärfer Blickende; die oberflächliche Bewunde¬
rung hält sich an die Phrase, und mit der Phrase kann der schlechte Dichter so
gut operiren, wie der gute. Bei den einzelnen Dichtern, die sich dieser Schule
entzogen, treten noch viel schlimmere Uebelstände ein; theils verfolgten sie die
weiche, zerflossene Richtung der Jffland'schen Muse, theils forcirten sie sich in ein
barockes, angeblich geistreiches Wesen hinein. Wenn man Kleist'S Zeitgenossen,
die Arnim und Werner, oder spätere Dichter, wie Grabbe und Aehnliche, mit
den naiven Phraseurs, de» Körner, Müllner, Houwald u. s. w. vergleicht, so
weiß mau in der That nicht, wem man den Vorzug geben soll. „Kleist hat sich
von dem Schiller'scheu Einfluß vollständig frei gehalten ; er ist im Wesentlichen
zu der strengen Einfachheit der Lesstng'sehen Stücke zurückgekehrt, aber er hat zu
gleicher Zeit die Sprache veredelt. Sie hat ein sehr individuelles Leben, und
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_345603/340>, abgerufen am 01.09.2024.