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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band.

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Takt auf die neuen Verhältnisse übertragen habe. Sein Horizont ist unendlich
weit, seine Gedanken schweifen nach allen Seiten, aber sein Fuß steht fest aus
dem Boden und sein Schritt ist sicher und entschlossen. Nach seiner Ueberzeu¬
gung ist alles Leben Eitelkeit, und er ironisirt seinen Glauben wie seine Liebe,
aber sein praktisches Handeln wird durch einen klaren Verstand geleitet. -- Seine
Stimmung ist zum Theil durch sein frühestes Schicksal motivirt. Sein Vater,
der den Genter Bürgern die Freiheit verschafft hatte, ist vom Volkj erschlagen,
und dieser Umstand hat ihn von der Nichtigkeit aller politischen Erhebung über¬
zeugt. Der Jüngling -- denn das Stück beginnt mit seinen frühesten Jah¬
ren -- beschäftigt sich am liebsten mit Angeln, weil er dort am bequemsten seinen
Grübeleien nachhängen kann. Die Noth des Augenblicks zwingt die republika¬
nische Partei der Stadt, welche vou dem Grasen von Flandern bedroht ist, sich
an den Sohn ihres alten Führers zu wenden. Man fordert ihn auf, sich an
die Spitze zu stellen. Er nimmt die Erklärung ziemlich kühl auf, willigt aber
nach einigem scheinbaren Zögern ein. Der Hauptgedanke, der ihn dazu bestimmt,
ist die Rache an den Mördern seines Vaters. Er überlegt zwar bei sich selbst,
daß der Gedanke der Rache und der Wiedervergeltung überhaupt eigentlich etwas
sehr Unreifes sei, und daß es einem Philosophen schlecht anstehe, sich mit einem
so eitlen Gegenstand zu beschäftigen, aber, meint er dann wieder, "Vergeltung ist
doch ein angenehmes Ding." Er führt auch seinen Vorsatz augenblicklich aus,
sobald ihm die Macht in die Hände gelegt ist. Ein alter, abgehärteter Dema¬
gog will ihn in der Kunst unterrichten, das Volk zu führen, aber er erwidert
ihm spöttisch: "Ich kann schon thun, was nöthig ist." Und so geschieht es. Die bis¬
herigen Leiter des Volks müssen bald erkennen, daß sie einen überlegenen Geist
vor sich haben, der sie durchschaut und beherrscht. Nachdem er zuerst jene Mör¬
der, die auf neuen Verrath sinnen, kaltblütig niedergestoßen hat, stellt er
zunächst die Ordnung in der Stadt her, um für den folgenden Morgen die
Schlacht gegen den Grafen vorzubereiten. Die Nacht erfüllt ihn mit Vor¬
stellungen von dem Traumwesen aller irdischen Angelegenheiten.") Das hindert
ihn aber nicht, obgleich er von der Erfolglosigkeit eines Widerstandes vollständig
überzeugt ist, und obgleich ihn die Republik nicht sehr interessirt, die Schlacht
mit so viel Kaltblütigkeit und GeschickliclMt zu ordnen, daß er den Sieg davon
trägt. Mit diesem Sieg und mit der Aufrichtung seiner unbedingten Herrschaft
schließt der erste Theil des Stücks. -- Als Episode ist noch eine eigenthümliche



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Takt auf die neuen Verhältnisse übertragen habe. Sein Horizont ist unendlich
weit, seine Gedanken schweifen nach allen Seiten, aber sein Fuß steht fest aus
dem Boden und sein Schritt ist sicher und entschlossen. Nach seiner Ueberzeu¬
gung ist alles Leben Eitelkeit, und er ironisirt seinen Glauben wie seine Liebe,
aber sein praktisches Handeln wird durch einen klaren Verstand geleitet. — Seine
Stimmung ist zum Theil durch sein frühestes Schicksal motivirt. Sein Vater,
der den Genter Bürgern die Freiheit verschafft hatte, ist vom Volkj erschlagen,
und dieser Umstand hat ihn von der Nichtigkeit aller politischen Erhebung über¬
zeugt. Der Jüngling — denn das Stück beginnt mit seinen frühesten Jah¬
ren — beschäftigt sich am liebsten mit Angeln, weil er dort am bequemsten seinen
Grübeleien nachhängen kann. Die Noth des Augenblicks zwingt die republika¬
nische Partei der Stadt, welche vou dem Grasen von Flandern bedroht ist, sich
an den Sohn ihres alten Führers zu wenden. Man fordert ihn auf, sich an
die Spitze zu stellen. Er nimmt die Erklärung ziemlich kühl auf, willigt aber
nach einigem scheinbaren Zögern ein. Der Hauptgedanke, der ihn dazu bestimmt,
ist die Rache an den Mördern seines Vaters. Er überlegt zwar bei sich selbst,
daß der Gedanke der Rache und der Wiedervergeltung überhaupt eigentlich etwas
sehr Unreifes sei, und daß es einem Philosophen schlecht anstehe, sich mit einem
so eitlen Gegenstand zu beschäftigen, aber, meint er dann wieder, „Vergeltung ist
doch ein angenehmes Ding." Er führt auch seinen Vorsatz augenblicklich aus,
sobald ihm die Macht in die Hände gelegt ist. Ein alter, abgehärteter Dema¬
gog will ihn in der Kunst unterrichten, das Volk zu führen, aber er erwidert
ihm spöttisch: „Ich kann schon thun, was nöthig ist." Und so geschieht es. Die bis¬
herigen Leiter des Volks müssen bald erkennen, daß sie einen überlegenen Geist
vor sich haben, der sie durchschaut und beherrscht. Nachdem er zuerst jene Mör¬
der, die auf neuen Verrath sinnen, kaltblütig niedergestoßen hat, stellt er
zunächst die Ordnung in der Stadt her, um für den folgenden Morgen die
Schlacht gegen den Grafen vorzubereiten. Die Nacht erfüllt ihn mit Vor¬
stellungen von dem Traumwesen aller irdischen Angelegenheiten.") Das hindert
ihn aber nicht, obgleich er von der Erfolglosigkeit eines Widerstandes vollständig
überzeugt ist, und obgleich ihn die Republik nicht sehr interessirt, die Schlacht
mit so viel Kaltblütigkeit und GeschickliclMt zu ordnen, daß er den Sieg davon
trägt. Mit diesem Sieg und mit der Aufrichtung seiner unbedingten Herrschaft
schließt der erste Theil des Stücks. — Als Episode ist noch eine eigenthümliche



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[0448] Takt auf die neuen Verhältnisse übertragen habe. Sein Horizont ist unendlich weit, seine Gedanken schweifen nach allen Seiten, aber sein Fuß steht fest aus dem Boden und sein Schritt ist sicher und entschlossen. Nach seiner Ueberzeu¬ gung ist alles Leben Eitelkeit, und er ironisirt seinen Glauben wie seine Liebe, aber sein praktisches Handeln wird durch einen klaren Verstand geleitet. — Seine Stimmung ist zum Theil durch sein frühestes Schicksal motivirt. Sein Vater, der den Genter Bürgern die Freiheit verschafft hatte, ist vom Volkj erschlagen, und dieser Umstand hat ihn von der Nichtigkeit aller politischen Erhebung über¬ zeugt. Der Jüngling — denn das Stück beginnt mit seinen frühesten Jah¬ ren — beschäftigt sich am liebsten mit Angeln, weil er dort am bequemsten seinen Grübeleien nachhängen kann. Die Noth des Augenblicks zwingt die republika¬ nische Partei der Stadt, welche vou dem Grasen von Flandern bedroht ist, sich an den Sohn ihres alten Führers zu wenden. Man fordert ihn auf, sich an die Spitze zu stellen. Er nimmt die Erklärung ziemlich kühl auf, willigt aber nach einigem scheinbaren Zögern ein. Der Hauptgedanke, der ihn dazu bestimmt, ist die Rache an den Mördern seines Vaters. Er überlegt zwar bei sich selbst, daß der Gedanke der Rache und der Wiedervergeltung überhaupt eigentlich etwas sehr Unreifes sei, und daß es einem Philosophen schlecht anstehe, sich mit einem so eitlen Gegenstand zu beschäftigen, aber, meint er dann wieder, „Vergeltung ist doch ein angenehmes Ding." Er führt auch seinen Vorsatz augenblicklich aus, sobald ihm die Macht in die Hände gelegt ist. Ein alter, abgehärteter Dema¬ gog will ihn in der Kunst unterrichten, das Volk zu führen, aber er erwidert ihm spöttisch: „Ich kann schon thun, was nöthig ist." Und so geschieht es. Die bis¬ herigen Leiter des Volks müssen bald erkennen, daß sie einen überlegenen Geist vor sich haben, der sie durchschaut und beherrscht. Nachdem er zuerst jene Mör¬ der, die auf neuen Verrath sinnen, kaltblütig niedergestoßen hat, stellt er zunächst die Ordnung in der Stadt her, um für den folgenden Morgen die Schlacht gegen den Grafen vorzubereiten. Die Nacht erfüllt ihn mit Vor¬ stellungen von dem Traumwesen aller irdischen Angelegenheiten.") Das hindert ihn aber nicht, obgleich er von der Erfolglosigkeit eines Widerstandes vollständig überzeugt ist, und obgleich ihn die Republik nicht sehr interessirt, die Schlacht mit so viel Kaltblütigkeit und GeschickliclMt zu ordnen, daß er den Sieg davon trägt. Mit diesem Sieg und mit der Aufrichtung seiner unbedingten Herrschaft schließt der erste Theil des Stücks. — Als Episode ist noch eine eigenthümliche ")

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280616/448>, abgerufen am 23.07.2024.