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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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litiker Nichts träumen lassen. Darin hat Peel nicht seines Gleichen. So oft er
ans Ruder kam, athmete Alles ans, und zwar so ziemlich ohne Unterschied der
Parteien, deun der Credit seiner Solidität, seiner Einsicht u"d seiner Sicherheit
in den Geschäften war unerschütterlich: ein Credit, der bei den Aristokraten der
Whig- und Tory-Coterien keineswegs so fest steht. Von dieser unmittelbaren
praktischen Thätigkeit ist er ausgegangen, und seine höheren politischen Ideen
h"ben sich erst aus derselben entwickelt; er hat es selbst erklärt, noch während
seiner letzten großen That, daß er auf allgemeine Theorien Nichts giebt, sondern
sich lediglich durch die Erfahrung überzeugen läßt, wobei wir freilich die Bemer¬
kung nicht unterdrücken können, daß nnr Derjenige im Stande ist, fruchtbare
Erfahrungen zu machen, der eine sehr tief gehende theoretische Bildung mitbringt.

Man bezeichnet ein solches Verhalten gegenwärtig bei uns mit dem Ausdruck:
den Umständen Rechnung tragen. Diese Märzcrrnngcnschaft ist bei uns sehr in
Mißcredit gekommen, aber nur darum, weil man sich gewohnt hat, mit einem sehr
wohlfeilen Witz zwei ganz verschiedene Dinge zu verwechseln. Einmal versteht
man nämlich darunter die Gewissenhaftigkeit, die vorher genau alle einzelnen Mo¬
mente der Rechnung überlegt, ehe sie das Facit zieht, und dann wieder die Un¬
fähigkeit, zu irgend einem Schluß zu kommen, weil man niemals die Energie hat,
un Voraus alle Eventualitäten zu berechnen, und sich mit ihnen ins Reine zu
setze". Beides ist sich aber geradezu entgegengesetzt. Ein Beispiel von dieser
zweiten Art des Nechnuugtragcus ist Herr von Nadvwitz, der in seinen "Neuen
besprachen" eine sehr treffende Schilderung von seinen eigenen Gemütszuständen
webt. Zuerst tritt er mit pythischer Unfehlbarkeit mit seinem ganzen Princip her-
vor, daun findet sich ein Umstand, den er vorher nicht in Rechnung gezogen hat,
und er geht eiuen Schritt zurück, daun ein zweiter Umstand, und wieder ein
Schritt rückwäts, und so immer fort, bis sich zuletzt das große Princip als eine
schöne Idee ergiebt, die man der Zukunft aufbehalten müsse.

' Auf diese Weise hat Peel den Umständen uicht Rechnung getragen; er hat
sich gegen die Schlüsse seiner Gegner, die nach seiner Meinung aus einem vor¬
igen Rechnungsabschluß beruhten, mit großer Zähigkeit gesträubt; aber sobald
^ sich überzeugt hatte, ist er mit einer Rücksichtslosigkeit, Konsequenz und einem
unerschütterlichen Muthe zu Werke gegangen, die uns um so mehr imponiren
Bussen, da er keineswegs ein abstracter Verstandesmensch war, und da er den
^mpf zum Theil gegen seine eigenen heiligsten Empfindungen richten mußte.

Diese Art, deu Umständen Rechnung zu tragen, ist bei uns in Deutschland
^ le"; wir fangen in der Regel mit einem ungeheuren Feuer an, mit einer Lei-
/"Ichaft der Ueberzeugung, die keinen Widerspruch duldet; wir hören und wir
iMn Nichts, bis das Feuer aus Mangel an Stoff endlich abnimmt, und wir
uns niißvergnügt eine verkannte Größe in den Schmerz unsres Selbstbewnßt-
S zurückgehen, und eine Welt aufgeben, die unser nicht würdig war.


litiker Nichts träumen lassen. Darin hat Peel nicht seines Gleichen. So oft er
ans Ruder kam, athmete Alles ans, und zwar so ziemlich ohne Unterschied der
Parteien, deun der Credit seiner Solidität, seiner Einsicht u»d seiner Sicherheit
in den Geschäften war unerschütterlich: ein Credit, der bei den Aristokraten der
Whig- und Tory-Coterien keineswegs so fest steht. Von dieser unmittelbaren
praktischen Thätigkeit ist er ausgegangen, und seine höheren politischen Ideen
h"ben sich erst aus derselben entwickelt; er hat es selbst erklärt, noch während
seiner letzten großen That, daß er auf allgemeine Theorien Nichts giebt, sondern
sich lediglich durch die Erfahrung überzeugen läßt, wobei wir freilich die Bemer¬
kung nicht unterdrücken können, daß nnr Derjenige im Stande ist, fruchtbare
Erfahrungen zu machen, der eine sehr tief gehende theoretische Bildung mitbringt.

Man bezeichnet ein solches Verhalten gegenwärtig bei uns mit dem Ausdruck:
den Umständen Rechnung tragen. Diese Märzcrrnngcnschaft ist bei uns sehr in
Mißcredit gekommen, aber nur darum, weil man sich gewohnt hat, mit einem sehr
wohlfeilen Witz zwei ganz verschiedene Dinge zu verwechseln. Einmal versteht
man nämlich darunter die Gewissenhaftigkeit, die vorher genau alle einzelnen Mo¬
mente der Rechnung überlegt, ehe sie das Facit zieht, und dann wieder die Un¬
fähigkeit, zu irgend einem Schluß zu kommen, weil man niemals die Energie hat,
un Voraus alle Eventualitäten zu berechnen, und sich mit ihnen ins Reine zu
setze». Beides ist sich aber geradezu entgegengesetzt. Ein Beispiel von dieser
zweiten Art des Nechnuugtragcus ist Herr von Nadvwitz, der in seinen „Neuen
besprachen" eine sehr treffende Schilderung von seinen eigenen Gemütszuständen
webt. Zuerst tritt er mit pythischer Unfehlbarkeit mit seinem ganzen Princip her-
vor, daun findet sich ein Umstand, den er vorher nicht in Rechnung gezogen hat,
und er geht eiuen Schritt zurück, daun ein zweiter Umstand, und wieder ein
Schritt rückwäts, und so immer fort, bis sich zuletzt das große Princip als eine
schöne Idee ergiebt, die man der Zukunft aufbehalten müsse.

' Auf diese Weise hat Peel den Umständen uicht Rechnung getragen; er hat
sich gegen die Schlüsse seiner Gegner, die nach seiner Meinung aus einem vor¬
igen Rechnungsabschluß beruhten, mit großer Zähigkeit gesträubt; aber sobald
^ sich überzeugt hatte, ist er mit einer Rücksichtslosigkeit, Konsequenz und einem
unerschütterlichen Muthe zu Werke gegangen, die uns um so mehr imponiren
Bussen, da er keineswegs ein abstracter Verstandesmensch war, und da er den
^mpf zum Theil gegen seine eigenen heiligsten Empfindungen richten mußte.

Diese Art, deu Umständen Rechnung zu tragen, ist bei uns in Deutschland
^ le»; wir fangen in der Regel mit einem ungeheuren Feuer an, mit einer Lei-
/»Ichaft der Ueberzeugung, die keinen Widerspruch duldet; wir hören und wir
iMn Nichts, bis das Feuer aus Mangel an Stoff endlich abnimmt, und wir
uns niißvergnügt eine verkannte Größe in den Schmerz unsres Selbstbewnßt-
S zurückgehen, und eine Welt aufgeben, die unser nicht würdig war.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/511>, abgerufen am 02.07.2024.