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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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danken und lassen nnr die Erscheinung bestehen. Bei unsrem Dichter finden wir
einen Haß gegen allen Idealismus, der zuweilen etwas Komisches, zuweilen etwas
Erschreckendes hat. Freilich ist in unsrer Zeit die Sathrc gegen den herkömm¬
lichen Idealismus uur zu berechtigt, weil der letztere sich der schlechten Wirklichkeit
nur dadurch entledigt, daß er sie in Phrasen auflöst. Es ist nnr zu begreiflich,
daß eine kräftige und ursprüngliche Natur durch die bequemen und suffisanten
Lehrsätze und Prophezeiungen unsrer Jerome Patnrots, mögen sie sich Demo¬
kraten oder Socialisten nennen, zu einer bittern Verachtung verleitet wird, die sie
in das entgegengesetzte Extrem der Blasirtheit treibt. Im Gegensatz gegen die
seichten Tugendhelden des Republikanismus erfreut man sich an den kecken
oder liebenswürdigen Zügen, die man anch in dem Laster entdeckt, und verfällt
dann in die sonderbare Verirrung, diese guten Eigenschaften als solidarisch mit
dem Laster verbunden zu betrachten. So schwärmt nicht allein Alfred de Müsset,
sondern die ganze junge Schule sür das unreine Bild der Manon Ascant, indem
sie die Kunst des Dichters mit der Natur des dargestellten Gegenstandes ver¬
wechseln, und je mehr man in sich eine eigene freie und schöpferische Kraft em¬
pfindet, desto leidenschaftlicher sucht man dergleichen Verirrungen noch zu über¬
bieten. So müssen wir denn über eine freche Apologie des Lasters erstaunen,
die sich noch viel toller geberdet, als bei dem Dichter der Lucretia Borgia und
der Marion Delorme, über jene Poesie der. Liederlichkeit und des Verbrechens,
die sich beinahe zu einer dogmatischen Vollständigkeit abrundet. Die unnatür¬
lichsten Ausschweifungen werden mit einen, raffinirten Entzücken erfunden und ge¬
schildert; das Genie muß nicht allein die Jmmoralität und das Laster, sondern
auch die Schwäche und die Gemeinheit rechtfertigen; man trennt das speculative
Leben von dem Leben der That, und setzt dadurch Beides zu einer Lüge herab.
Wenn die sogenannte classische Schule mit einem unbedingten Glauben den con-
ventionellen Inhalt der bestehenden Moral und die Gemeinplätze des gesunden
Menschenverstandes verehrte, so vertiefen sich dagegen die Romantiker in den un¬
bedingtesten Unglauben an alle Regel und in den bittersten Skepticismus, und
wenn jene zwischen Ernst und Spaß eine strenge Scheidewand aufbauten, so geht
bei Diesen die Vermischung so weit, daß man über das Entsetzliche lachen und
vor dem Lächerlichen ein Grauen empfinden muß.

Diese Verkehrung der Begriffe rächt sich schwer bei den modernen Belletristen.
Ihre angebliche Originalität ist nichts Anderes, als eine Wiedcranffrischnng jener
Kunst des Suetonius -und Petromus, der Rctif de la Bretonne und der Mer-
cier, der de sate und der Laclos, der Poesie des Verfalls. Die Leidenschaft
und die Wollust verliert sich bei ihnen vollständig in die Reflexion; ihre Ver¬
führungen u. s. w. werden mit trockener geometrischer Berechnung ausgeübt, ihre
Laster mit pedantischer Gewissenhaftigkeit geschildert, ihre extravaganten Einfälle
nut feierlicher Amtsmiene vorgetragen. Bei Alfred de Musset tritt Das darum


danken und lassen nnr die Erscheinung bestehen. Bei unsrem Dichter finden wir
einen Haß gegen allen Idealismus, der zuweilen etwas Komisches, zuweilen etwas
Erschreckendes hat. Freilich ist in unsrer Zeit die Sathrc gegen den herkömm¬
lichen Idealismus uur zu berechtigt, weil der letztere sich der schlechten Wirklichkeit
nur dadurch entledigt, daß er sie in Phrasen auflöst. Es ist nnr zu begreiflich,
daß eine kräftige und ursprüngliche Natur durch die bequemen und suffisanten
Lehrsätze und Prophezeiungen unsrer Jerome Patnrots, mögen sie sich Demo¬
kraten oder Socialisten nennen, zu einer bittern Verachtung verleitet wird, die sie
in das entgegengesetzte Extrem der Blasirtheit treibt. Im Gegensatz gegen die
seichten Tugendhelden des Republikanismus erfreut man sich an den kecken
oder liebenswürdigen Zügen, die man anch in dem Laster entdeckt, und verfällt
dann in die sonderbare Verirrung, diese guten Eigenschaften als solidarisch mit
dem Laster verbunden zu betrachten. So schwärmt nicht allein Alfred de Müsset,
sondern die ganze junge Schule sür das unreine Bild der Manon Ascant, indem
sie die Kunst des Dichters mit der Natur des dargestellten Gegenstandes ver¬
wechseln, und je mehr man in sich eine eigene freie und schöpferische Kraft em¬
pfindet, desto leidenschaftlicher sucht man dergleichen Verirrungen noch zu über¬
bieten. So müssen wir denn über eine freche Apologie des Lasters erstaunen,
die sich noch viel toller geberdet, als bei dem Dichter der Lucretia Borgia und
der Marion Delorme, über jene Poesie der. Liederlichkeit und des Verbrechens,
die sich beinahe zu einer dogmatischen Vollständigkeit abrundet. Die unnatür¬
lichsten Ausschweifungen werden mit einen, raffinirten Entzücken erfunden und ge¬
schildert; das Genie muß nicht allein die Jmmoralität und das Laster, sondern
auch die Schwäche und die Gemeinheit rechtfertigen; man trennt das speculative
Leben von dem Leben der That, und setzt dadurch Beides zu einer Lüge herab.
Wenn die sogenannte classische Schule mit einem unbedingten Glauben den con-
ventionellen Inhalt der bestehenden Moral und die Gemeinplätze des gesunden
Menschenverstandes verehrte, so vertiefen sich dagegen die Romantiker in den un¬
bedingtesten Unglauben an alle Regel und in den bittersten Skepticismus, und
wenn jene zwischen Ernst und Spaß eine strenge Scheidewand aufbauten, so geht
bei Diesen die Vermischung so weit, daß man über das Entsetzliche lachen und
vor dem Lächerlichen ein Grauen empfinden muß.

Diese Verkehrung der Begriffe rächt sich schwer bei den modernen Belletristen.
Ihre angebliche Originalität ist nichts Anderes, als eine Wiedcranffrischnng jener
Kunst des Suetonius -und Petromus, der Rctif de la Bretonne und der Mer-
cier, der de sate und der Laclos, der Poesie des Verfalls. Die Leidenschaft
und die Wollust verliert sich bei ihnen vollständig in die Reflexion; ihre Ver¬
führungen u. s. w. werden mit trockener geometrischer Berechnung ausgeübt, ihre
Laster mit pedantischer Gewissenhaftigkeit geschildert, ihre extravaganten Einfälle
nut feierlicher Amtsmiene vorgetragen. Bei Alfred de Musset tritt Das darum


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/499>, abgerufen am 04.07.2024.