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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Allerdings giebt es keine noch so wahnsinnige Erfindung, die nicht durch wahn¬
sinnige Erscheinungen des wirklichen Lebens überboten würde, aber diese anomalen
Erscheinungen nennen wir nur mit Unrecht die Wirklichkeit. Alfred de Musset
zieht zwar die Mißgeburten Victor Hugo'S, die bei Diesem sich meistens an eine
körperliche Difsormität knüpfen, ins geistige Gebiet herüber, verlegt sie in die
Seele, und läßt die Probleme der modernen Cultur durchschimmern, aber sie
bleiben dennoch Monstrositäten, und macheu einen um so peinlichern Eindruck,
da sie den Menschen zugleich in seiner natürlichen Nacktheit und in dem äußersten
Extrem des gesellschaftlichen Raffinements darstellen.

Diese Krankhaftigkeit der Gestaltung zeigt sich auch in den kleinen psycholo¬
gischen Beobachtungen, die zum Theil viel Feinheit und Geist verrathen, die aber
die Aufmerksamkeit ausschließlich auf unwesentliche und abnorme Momente lenken,
Momente, welche mau sonst mir durch das Augenglas wahrnimmt, und die dem
Auge bei der Ausfassung der Totalität entgehen. Dadurch kommt in das Bild
eine falsche Perspective; mau bemüht sich, einzelne Eigenschaften, die in der
Regel mit dem Grundzug des Charakters nicht zusammen kommen (z. B. ein
hektischer, verweichlichter Gesichtsausdruck bei einem Helden), in einen wesentliche"
und nothwendigen Rapport mit demselben zu setzen, und wird dadurch zu eiuer
unrichtigen Anschauung des Problems geleitet.

In der That sind es auch nicht eigentlich Erinnerungen aus dem wirklichen
Leben, welche den Dichter anregen, sondern jene Ideale der romantischem Zeit/
die weiter Nichts ausdrücken, als die imaginaire Lösung eines unmöglichen Problems.
Er hat sich 'aus ihnen einen vollständigen Mythus zusammengesetzt, der gerade
wie die heidnischen und christlichen Göttergestalten sich fortwährend in seinen Er¬
zählungen vordrängt; jener Mythus von deu in eine Person zusammengedrängte"
Gestalten des Faust, des Don Juan, des Hamlet, über den ich mich in einer
frühern Abhandlung, "moderne Charaktermasken," ausführlicher verbreitet
habe. Indem ich auf dieselbe verweise, bemerke ich hier nur so viel, daß diese
drei Gestalten das Gemeinsame haben, durch das eingebildete Recht der souve-
rainen Leidenschaft, des souverainen Denkens und des souverainen Empfindens
die objective Welt der Sitte, der Wissenschaft und der That träumerisch aufzulösen,
und daß sie alle drei nicht blos an dem äußern Widerstand der wirklichen Welt,
sondern vorzugsweise an ihrer innern Unmöglichkeit zu Grunde gehen. Den"
die Lust, die keine Grenze und keine Form kennt, ist nicht nur ein Verbrechen,
sondern eine Absurdität; Don Juan ist nicht nnr ein Bösewicht, sondern ein Narr.
Und eben so verhält es sich mit den andern Phantomen der Einbildungskraft.¬

Diese Ideale -- denn das sind sie, da sie die Wirklichkeit nach dem Maß
stab eines bestimmten Princips corrigiren, -- haben daher das Eigenthümliche,'
daß sie den wahren Idealismus aufheben. Der wahre Idealismus knüpft sich
allgemeine Gedanken; diese umgekehrten Ideale dagegen verläugnen jeden <^


Allerdings giebt es keine noch so wahnsinnige Erfindung, die nicht durch wahn¬
sinnige Erscheinungen des wirklichen Lebens überboten würde, aber diese anomalen
Erscheinungen nennen wir nur mit Unrecht die Wirklichkeit. Alfred de Musset
zieht zwar die Mißgeburten Victor Hugo'S, die bei Diesem sich meistens an eine
körperliche Difsormität knüpfen, ins geistige Gebiet herüber, verlegt sie in die
Seele, und läßt die Probleme der modernen Cultur durchschimmern, aber sie
bleiben dennoch Monstrositäten, und macheu einen um so peinlichern Eindruck,
da sie den Menschen zugleich in seiner natürlichen Nacktheit und in dem äußersten
Extrem des gesellschaftlichen Raffinements darstellen.

Diese Krankhaftigkeit der Gestaltung zeigt sich auch in den kleinen psycholo¬
gischen Beobachtungen, die zum Theil viel Feinheit und Geist verrathen, die aber
die Aufmerksamkeit ausschließlich auf unwesentliche und abnorme Momente lenken,
Momente, welche mau sonst mir durch das Augenglas wahrnimmt, und die dem
Auge bei der Ausfassung der Totalität entgehen. Dadurch kommt in das Bild
eine falsche Perspective; mau bemüht sich, einzelne Eigenschaften, die in der
Regel mit dem Grundzug des Charakters nicht zusammen kommen (z. B. ein
hektischer, verweichlichter Gesichtsausdruck bei einem Helden), in einen wesentliche»
und nothwendigen Rapport mit demselben zu setzen, und wird dadurch zu eiuer
unrichtigen Anschauung des Problems geleitet.

In der That sind es auch nicht eigentlich Erinnerungen aus dem wirklichen
Leben, welche den Dichter anregen, sondern jene Ideale der romantischem Zeit/
die weiter Nichts ausdrücken, als die imaginaire Lösung eines unmöglichen Problems.
Er hat sich 'aus ihnen einen vollständigen Mythus zusammengesetzt, der gerade
wie die heidnischen und christlichen Göttergestalten sich fortwährend in seinen Er¬
zählungen vordrängt; jener Mythus von deu in eine Person zusammengedrängte»
Gestalten des Faust, des Don Juan, des Hamlet, über den ich mich in einer
frühern Abhandlung, „moderne Charaktermasken," ausführlicher verbreitet
habe. Indem ich auf dieselbe verweise, bemerke ich hier nur so viel, daß diese
drei Gestalten das Gemeinsame haben, durch das eingebildete Recht der souve-
rainen Leidenschaft, des souverainen Denkens und des souverainen Empfindens
die objective Welt der Sitte, der Wissenschaft und der That träumerisch aufzulösen,
und daß sie alle drei nicht blos an dem äußern Widerstand der wirklichen Welt,
sondern vorzugsweise an ihrer innern Unmöglichkeit zu Grunde gehen. Den»
die Lust, die keine Grenze und keine Form kennt, ist nicht nur ein Verbrechen,
sondern eine Absurdität; Don Juan ist nicht nnr ein Bösewicht, sondern ein Narr.
Und eben so verhält es sich mit den andern Phantomen der Einbildungskraft.¬

Diese Ideale — denn das sind sie, da sie die Wirklichkeit nach dem Maß
stab eines bestimmten Princips corrigiren, — haben daher das Eigenthümliche,'
daß sie den wahren Idealismus aufheben. Der wahre Idealismus knüpft sich
allgemeine Gedanken; diese umgekehrten Ideale dagegen verläugnen jeden <^


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[0498] Allerdings giebt es keine noch so wahnsinnige Erfindung, die nicht durch wahn¬ sinnige Erscheinungen des wirklichen Lebens überboten würde, aber diese anomalen Erscheinungen nennen wir nur mit Unrecht die Wirklichkeit. Alfred de Musset zieht zwar die Mißgeburten Victor Hugo'S, die bei Diesem sich meistens an eine körperliche Difsormität knüpfen, ins geistige Gebiet herüber, verlegt sie in die Seele, und läßt die Probleme der modernen Cultur durchschimmern, aber sie bleiben dennoch Monstrositäten, und macheu einen um so peinlichern Eindruck, da sie den Menschen zugleich in seiner natürlichen Nacktheit und in dem äußersten Extrem des gesellschaftlichen Raffinements darstellen. Diese Krankhaftigkeit der Gestaltung zeigt sich auch in den kleinen psycholo¬ gischen Beobachtungen, die zum Theil viel Feinheit und Geist verrathen, die aber die Aufmerksamkeit ausschließlich auf unwesentliche und abnorme Momente lenken, Momente, welche mau sonst mir durch das Augenglas wahrnimmt, und die dem Auge bei der Ausfassung der Totalität entgehen. Dadurch kommt in das Bild eine falsche Perspective; mau bemüht sich, einzelne Eigenschaften, die in der Regel mit dem Grundzug des Charakters nicht zusammen kommen (z. B. ein hektischer, verweichlichter Gesichtsausdruck bei einem Helden), in einen wesentliche» und nothwendigen Rapport mit demselben zu setzen, und wird dadurch zu eiuer unrichtigen Anschauung des Problems geleitet. In der That sind es auch nicht eigentlich Erinnerungen aus dem wirklichen Leben, welche den Dichter anregen, sondern jene Ideale der romantischem Zeit/ die weiter Nichts ausdrücken, als die imaginaire Lösung eines unmöglichen Problems. Er hat sich 'aus ihnen einen vollständigen Mythus zusammengesetzt, der gerade wie die heidnischen und christlichen Göttergestalten sich fortwährend in seinen Er¬ zählungen vordrängt; jener Mythus von deu in eine Person zusammengedrängte» Gestalten des Faust, des Don Juan, des Hamlet, über den ich mich in einer frühern Abhandlung, „moderne Charaktermasken," ausführlicher verbreitet habe. Indem ich auf dieselbe verweise, bemerke ich hier nur so viel, daß diese drei Gestalten das Gemeinsame haben, durch das eingebildete Recht der souve- rainen Leidenschaft, des souverainen Denkens und des souverainen Empfindens die objective Welt der Sitte, der Wissenschaft und der That träumerisch aufzulösen, und daß sie alle drei nicht blos an dem äußern Widerstand der wirklichen Welt, sondern vorzugsweise an ihrer innern Unmöglichkeit zu Grunde gehen. Den» die Lust, die keine Grenze und keine Form kennt, ist nicht nur ein Verbrechen, sondern eine Absurdität; Don Juan ist nicht nnr ein Bösewicht, sondern ein Narr. Und eben so verhält es sich mit den andern Phantomen der Einbildungskraft.¬ Diese Ideale — denn das sind sie, da sie die Wirklichkeit nach dem Maß stab eines bestimmten Princips corrigiren, — haben daher das Eigenthümliche,' daß sie den wahren Idealismus aufheben. Der wahre Idealismus knüpft sich allgemeine Gedanken; diese umgekehrten Ideale dagegen verläugnen jeden <^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/498>, abgerufen am 04.07.2024.