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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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liebe Existenzen in der modernen Gesellschaft wirklich vorkommen und wenigstens bis
zu einer gewissen Grenze als der Ausdruck derselben zu betrachten sind, so haben
sie auch das siecht, poetisch dargestellt zu werden. Allein es ist hier ein Unter¬
schied zu machen zwischen der kölnischen und der ernsten Poesie. Im Lustspiel
bleiben wir bei der Dissonanz stehen, und die Ueberraschung über den innern
Widerspruch macht uns Freude; in der ernsten Poesie dagegen wollen wir nicht
bei der Dissonanz stehen bleiben, wir wollen sie in ihrer Entstehung verfolgen,
und wir verlangen ihre Auflösung in den Grnndaccord. Solche gebrochene Wesen
sind aber Nichts als Dissonanzen, die für uns nur verständlich und von Interesse
sind, wenn wir sie in ihrem Verhältniß zu der allgemeinen Entwickelung der Zeit
begreifen, und sie dadurch aus der Anonymität einer blos individuellen Natur in
jenes Gebiet erheben können, in dem sich die Gedanken bewegen. Der Gedanke
ist das Allgemeine, und die gedankenlose Empirie hat weder in der Wissenschaft,
noch in der Poesie ihre Berechtigung.

Alfred de Musset faßt die Sache anders. Nachdem er einen seiner Helden,
Hassan, als eine Mischung der widersinnigsten Gegensätze dargestellt, und eine
fabelhafte Menge kleiner Züge von ihm angeführt hat, von denen schon jeder
einzelne unser Erstaunen erregen muß, die aber in ihrer Zusammensetzung voll¬
kommen unbegreiflich sind, fährt er fort:

Der Dichter täuscht sich selbst mit dieser Doctrin des souverainen Individua¬
lismus; er vergißt, daß er auf der vorhergehenden Seite die Natur Hassan's als
die allgemeine menschliche Natur dargestellt hat, daß es nach ihm zum Wesen des
Menschen gehört, mit unbefleckten Händen Blut zu vergießen, schuldig und un¬
schuldig zugleich zu sein u. s. w., und wenn er daher später darauf kommt, daß
Hassan bereits als Original das Recht hat, zu existiren, daß Gott einmal die
Meuscheu gemacht habe und daß man ihn nicht corrigiren dürfe u. s. w. -- gerade
wie Büchner -- so ist das nicht ganz ernst gemeint, es ist nur eine Verwechslung
zwischen der Wahrheit des Wcltlauss, welcher dadurch, daß er Totalität ist, die in
'hin vorkommenden Widersinnigkeiten durch eine richtige relative Stellung ergänzt
und vervollständigt, und der Wahrheit der Poesie, welche in jedem einzelnen Bilde
Totalität geben soll, und ihre Sünden daher nicht dem Weltgeist in die Schuhe
schieben darf, der in ihr uur durchscheint. Mit der Wirklichkeit darf mau sich
nicht entschuldige", wenn man den Unsinn zum Gegenstand der Poesie macht.


Grenzboten. IN. -IW-I. 62

liebe Existenzen in der modernen Gesellschaft wirklich vorkommen und wenigstens bis
zu einer gewissen Grenze als der Ausdruck derselben zu betrachten sind, so haben
sie auch das siecht, poetisch dargestellt zu werden. Allein es ist hier ein Unter¬
schied zu machen zwischen der kölnischen und der ernsten Poesie. Im Lustspiel
bleiben wir bei der Dissonanz stehen, und die Ueberraschung über den innern
Widerspruch macht uns Freude; in der ernsten Poesie dagegen wollen wir nicht
bei der Dissonanz stehen bleiben, wir wollen sie in ihrer Entstehung verfolgen,
und wir verlangen ihre Auflösung in den Grnndaccord. Solche gebrochene Wesen
sind aber Nichts als Dissonanzen, die für uns nur verständlich und von Interesse
sind, wenn wir sie in ihrem Verhältniß zu der allgemeinen Entwickelung der Zeit
begreifen, und sie dadurch aus der Anonymität einer blos individuellen Natur in
jenes Gebiet erheben können, in dem sich die Gedanken bewegen. Der Gedanke
ist das Allgemeine, und die gedankenlose Empirie hat weder in der Wissenschaft,
noch in der Poesie ihre Berechtigung.

Alfred de Musset faßt die Sache anders. Nachdem er einen seiner Helden,
Hassan, als eine Mischung der widersinnigsten Gegensätze dargestellt, und eine
fabelhafte Menge kleiner Züge von ihm angeführt hat, von denen schon jeder
einzelne unser Erstaunen erregen muß, die aber in ihrer Zusammensetzung voll¬
kommen unbegreiflich sind, fährt er fort:

Der Dichter täuscht sich selbst mit dieser Doctrin des souverainen Individua¬
lismus; er vergißt, daß er auf der vorhergehenden Seite die Natur Hassan's als
die allgemeine menschliche Natur dargestellt hat, daß es nach ihm zum Wesen des
Menschen gehört, mit unbefleckten Händen Blut zu vergießen, schuldig und un¬
schuldig zugleich zu sein u. s. w., und wenn er daher später darauf kommt, daß
Hassan bereits als Original das Recht hat, zu existiren, daß Gott einmal die
Meuscheu gemacht habe und daß man ihn nicht corrigiren dürfe u. s. w. — gerade
wie Büchner — so ist das nicht ganz ernst gemeint, es ist nur eine Verwechslung
zwischen der Wahrheit des Wcltlauss, welcher dadurch, daß er Totalität ist, die in
'hin vorkommenden Widersinnigkeiten durch eine richtige relative Stellung ergänzt
und vervollständigt, und der Wahrheit der Poesie, welche in jedem einzelnen Bilde
Totalität geben soll, und ihre Sünden daher nicht dem Weltgeist in die Schuhe
schieben darf, der in ihr uur durchscheint. Mit der Wirklichkeit darf mau sich
nicht entschuldige», wenn man den Unsinn zum Gegenstand der Poesie macht.


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[0497] liebe Existenzen in der modernen Gesellschaft wirklich vorkommen und wenigstens bis zu einer gewissen Grenze als der Ausdruck derselben zu betrachten sind, so haben sie auch das siecht, poetisch dargestellt zu werden. Allein es ist hier ein Unter¬ schied zu machen zwischen der kölnischen und der ernsten Poesie. Im Lustspiel bleiben wir bei der Dissonanz stehen, und die Ueberraschung über den innern Widerspruch macht uns Freude; in der ernsten Poesie dagegen wollen wir nicht bei der Dissonanz stehen bleiben, wir wollen sie in ihrer Entstehung verfolgen, und wir verlangen ihre Auflösung in den Grnndaccord. Solche gebrochene Wesen sind aber Nichts als Dissonanzen, die für uns nur verständlich und von Interesse sind, wenn wir sie in ihrem Verhältniß zu der allgemeinen Entwickelung der Zeit begreifen, und sie dadurch aus der Anonymität einer blos individuellen Natur in jenes Gebiet erheben können, in dem sich die Gedanken bewegen. Der Gedanke ist das Allgemeine, und die gedankenlose Empirie hat weder in der Wissenschaft, noch in der Poesie ihre Berechtigung. Alfred de Musset faßt die Sache anders. Nachdem er einen seiner Helden, Hassan, als eine Mischung der widersinnigsten Gegensätze dargestellt, und eine fabelhafte Menge kleiner Züge von ihm angeführt hat, von denen schon jeder einzelne unser Erstaunen erregen muß, die aber in ihrer Zusammensetzung voll¬ kommen unbegreiflich sind, fährt er fort: Der Dichter täuscht sich selbst mit dieser Doctrin des souverainen Individua¬ lismus; er vergißt, daß er auf der vorhergehenden Seite die Natur Hassan's als die allgemeine menschliche Natur dargestellt hat, daß es nach ihm zum Wesen des Menschen gehört, mit unbefleckten Händen Blut zu vergießen, schuldig und un¬ schuldig zugleich zu sein u. s. w., und wenn er daher später darauf kommt, daß Hassan bereits als Original das Recht hat, zu existiren, daß Gott einmal die Meuscheu gemacht habe und daß man ihn nicht corrigiren dürfe u. s. w. — gerade wie Büchner — so ist das nicht ganz ernst gemeint, es ist nur eine Verwechslung zwischen der Wahrheit des Wcltlauss, welcher dadurch, daß er Totalität ist, die in 'hin vorkommenden Widersinnigkeiten durch eine richtige relative Stellung ergänzt und vervollständigt, und der Wahrheit der Poesie, welche in jedem einzelnen Bilde Totalität geben soll, und ihre Sünden daher nicht dem Weltgeist in die Schuhe schieben darf, der in ihr uur durchscheint. Mit der Wirklichkeit darf mau sich nicht entschuldige», wenn man den Unsinn zum Gegenstand der Poesie macht. Grenzboten. IN. -IW-I. 62

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/497>, abgerufen am 04.07.2024.