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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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weise als Träger der Cultur zu betrachten gewohnt sind; denn auch die Engländer
huldigen gerade in der gegenwärtigen Zeit dem formlosen Spiritualismus, den
mali sonst als eine Eigenthümlichkeit des Deutschen Volks ausgeben wollte, ans
eine Weise, daß wir kaum mehr unsre alten praktischen und verständigen Nach¬
barn wiedererkennen.

Halten wir nus zuerst an die Form. Was uus bei einem Franzosen zu¬
nächst in die Augen fällt, sind die beständigen Citate aus fremden Dichtern, zum
Theil in der Ursprache, wo sie eine Wirkung machen, wie ungefähr das Hei-
ne'sche: Madame, ich liebe Sie; die beständigen Anspielungen auf die Gestalten
und Geschichten fremder Dichter, die nur der Eingeweihte verstehen kaun; serner
das Eingehen auf die andern Kunstformen, auf Musik, Malerei u. s. w., deren
Wirkungen mau sonst nur im Allgemeinen schilderte. Sonst pflegte man bei der
betreffenden Gelegenheit nur anzuführen, es wird eine sanfte oder leidenschaftliche,
eine klagende oder lustige Musik hinter der Scene gespielt; diese Unbestimmtheit
fällt jetzt weg, es wird ein bestimmtes Musikstück vou Schubert oder Beethoren
vorgeführt und in seinen einzelnen Theilen mit Geist und Sachkenntniß beleuchtet,
freilich auch mit etwas Hoffmann'schen Abenteuerlichkeiten und Ueberschwänglich-
keiten. So wird z. B. einmal die Serenade des Don Juan in Bezug auf die
Melodie wie aus die Begleitung sehr treffend charakterisirt. Es liegt das über¬
haupt in der Richtung der neufranzösischen Romantik, die überall an Stelle der
conventionellen, idealen Redensarten die pittoreske und plastische Bezeichnung fest,
und es auch darin bis zum Extrem treibt, weil sie keine Rücksicht darauf nimmt,
ob nicht durch diese Detaillirung des eiuen Moments die Aufmerksamkeit von dem
Hauptgegenstand abgeleitet und die herrschende Stimmung verwirrt wird. Diese
Bestimmtheit geht auch ans deu Ausdruck der Leidenschaft über. Eben so redselig'
wie Victor Hugo's Tiger und Hyänen sich über ihre ruchlosen Vorstellungen und
Wünsche verbreiten, detaillirt Alfred de Musset die Vorstellungen der Rache, des
Hasses, der sinnlichen Lust. Wenn eine beleidigte Tänzerin sich an ihrem Lieb¬
haber rächen will, so genügt es ihr nicht, daß sie den neuen guten Freund auf¬
fordert, ihm den Dolch ins Herz zu stoßen; erst fühlt sie sich in der gereizten
Stimmung "einer Krähe, der ein Zugwind den Geruch von einer Leiche entgegen¬
führt", dann fordert sie ihn auf, ihm die Gurgel abzuschneiden, ihn bei den Füßen
die Treppe heraufzuschleifeu, ihm das Herz auszureißen, es in vier Stücke zu
schneiden und die Stücke in die Tasche zu stecken u. s. w. Das Alles hat eine
gewisse ^individuelle Wahrheit, aber es macht sich sonderbar genug in den Ale-
xandrinern. Oder wenn der Dichter selbst sich für ein hübsches Mädchen
begeistert, das bei einem Regentage in Schmuz watet, wie sie es auch nach den
gewöhnlichen Vorstellungen im moralischen Sinne thut, so wünscht er sich für deu
Fall, daß er sie einmal verkennen sollte, nicht irgend ein allgemeines Uebel her' '
sondern daß der Schmuz, den sie jetzt mit Füßen tritt, ihm ins Gesicht Mge"


weise als Träger der Cultur zu betrachten gewohnt sind; denn auch die Engländer
huldigen gerade in der gegenwärtigen Zeit dem formlosen Spiritualismus, den
mali sonst als eine Eigenthümlichkeit des Deutschen Volks ausgeben wollte, ans
eine Weise, daß wir kaum mehr unsre alten praktischen und verständigen Nach¬
barn wiedererkennen.

Halten wir nus zuerst an die Form. Was uus bei einem Franzosen zu¬
nächst in die Augen fällt, sind die beständigen Citate aus fremden Dichtern, zum
Theil in der Ursprache, wo sie eine Wirkung machen, wie ungefähr das Hei-
ne'sche: Madame, ich liebe Sie; die beständigen Anspielungen auf die Gestalten
und Geschichten fremder Dichter, die nur der Eingeweihte verstehen kaun; serner
das Eingehen auf die andern Kunstformen, auf Musik, Malerei u. s. w., deren
Wirkungen mau sonst nur im Allgemeinen schilderte. Sonst pflegte man bei der
betreffenden Gelegenheit nur anzuführen, es wird eine sanfte oder leidenschaftliche,
eine klagende oder lustige Musik hinter der Scene gespielt; diese Unbestimmtheit
fällt jetzt weg, es wird ein bestimmtes Musikstück vou Schubert oder Beethoren
vorgeführt und in seinen einzelnen Theilen mit Geist und Sachkenntniß beleuchtet,
freilich auch mit etwas Hoffmann'schen Abenteuerlichkeiten und Ueberschwänglich-
keiten. So wird z. B. einmal die Serenade des Don Juan in Bezug auf die
Melodie wie aus die Begleitung sehr treffend charakterisirt. Es liegt das über¬
haupt in der Richtung der neufranzösischen Romantik, die überall an Stelle der
conventionellen, idealen Redensarten die pittoreske und plastische Bezeichnung fest,
und es auch darin bis zum Extrem treibt, weil sie keine Rücksicht darauf nimmt,
ob nicht durch diese Detaillirung des eiuen Moments die Aufmerksamkeit von dem
Hauptgegenstand abgeleitet und die herrschende Stimmung verwirrt wird. Diese
Bestimmtheit geht auch ans deu Ausdruck der Leidenschaft über. Eben so redselig'
wie Victor Hugo's Tiger und Hyänen sich über ihre ruchlosen Vorstellungen und
Wünsche verbreiten, detaillirt Alfred de Musset die Vorstellungen der Rache, des
Hasses, der sinnlichen Lust. Wenn eine beleidigte Tänzerin sich an ihrem Lieb¬
haber rächen will, so genügt es ihr nicht, daß sie den neuen guten Freund auf¬
fordert, ihm den Dolch ins Herz zu stoßen; erst fühlt sie sich in der gereizten
Stimmung „einer Krähe, der ein Zugwind den Geruch von einer Leiche entgegen¬
führt", dann fordert sie ihn auf, ihm die Gurgel abzuschneiden, ihn bei den Füßen
die Treppe heraufzuschleifeu, ihm das Herz auszureißen, es in vier Stücke zu
schneiden und die Stücke in die Tasche zu stecken u. s. w. Das Alles hat eine
gewisse ^individuelle Wahrheit, aber es macht sich sonderbar genug in den Ale-
xandrinern. Oder wenn der Dichter selbst sich für ein hübsches Mädchen
begeistert, das bei einem Regentage in Schmuz watet, wie sie es auch nach den
gewöhnlichen Vorstellungen im moralischen Sinne thut, so wünscht er sich für deu
Fall, daß er sie einmal verkennen sollte, nicht irgend ein allgemeines Uebel her' '
sondern daß der Schmuz, den sie jetzt mit Füßen tritt, ihm ins Gesicht Mge»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/492>, abgerufen am 04.07.2024.