Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.denn sie hat keinen wirklichen Inhalt; sie ist "Caviar für's Volk". Sie resultirt Der Vergleich mit Byron drängt sich sogleich ans, wenn wir auch nur die Der wesentliche Inhalt dieser poetischen Richtung ist das Hervorheben des Indi¬ denn sie hat keinen wirklichen Inhalt; sie ist „Caviar für's Volk". Sie resultirt Der Vergleich mit Byron drängt sich sogleich ans, wenn wir auch nur die Der wesentliche Inhalt dieser poetischen Richtung ist das Hervorheben des Indi¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0491" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280578"/> <p xml:id="ID_1329" prev="#ID_1328"> denn sie hat keinen wirklichen Inhalt; sie ist „Caviar für's Volk". Sie resultirt<lb/> endlich in eine Philosophie, die man als die vollständige und unbedingte Ver¬<lb/> zweiflung an aller Idealität bezeichnen muß, und die uns niederdrückt, anstatt uns<lb/> zu erheben.</p><lb/> <p xml:id="ID_1330"> Der Vergleich mit Byron drängt sich sogleich ans, wenn wir auch nur die<lb/> äußere Erscheinung ins Auge fassen. Wie bei Diesem, finden wir eine Form<lb/> der Erzählung, die alles Thatsächliche nur dazu benutzt, um Reflexionen und<lb/> Empfindungen subjectwer Natur darein zu verweben; wir finden jenen krankhaft<lb/> gesteigerten Idealismus, der aber nur dazu dient, über die Welt und über die<lb/> eigene Seele einen tiefen Schatten der Trauer zu breiten; wir finden jenen<lb/> Cynismus und jene Frivolität, die mit einem bittern Gefühl gemischt ist, die<lb/> über sich selber zürnt, sich vor sich selber entsetzt, und ans der andern Seite jene<lb/> Zartheit und Jntensivität der Empfindung, die in demselben Augenblick, wo sie<lb/> steh im vollen Strom ergießt, durch herben Spott ihre innere Nichtigkeit verkün¬<lb/> det. Allein es ist doch auch ein wesentlicher Unterschied. Lord Byron ist ein<lb/> Vornehmer Mann, der viel gesehen und gelebt hat, und den der Reichthum der<lb/> Erscheinungen verwirrt, weil er kein Gesetz für sie mitbringt. Bei Alfred de<lb/> Musset dagegen ist der Eindruck niemals ein unmittelbarer, sondern er wird durch<lb/> die Auffassung früherer Dichter vermittelt; sein Schmerz, sein Zweifel, seine<lb/> Ideale und seine Verzweiflung sind nicht der Ausfluß seiner eigensten Natur,<lb/> sondern sie sind zum Theil Reminiscenzen, er hat sie durch Lecture anticipirt, ehe<lb/> ihm im Leben wirklich kamen, und die Gestalten und Verhältnisse, die ihn<lb/> Platen, sind aus einer Reihe mythischer Erfindungen combinirt, welche den irre¬<lb/> geleiteten Idealismus eines halben Jahrhunderts ausdrücken. Die Probleme,<lb/> ^e er sich stellt, siud viel reicher und umfassender, als die des Englischen Lords,<lb/> dafür fühlt mau aber auch nicht, daß sie sich ihm gewaltsam aufdrängen, man<lb/> merkt im Gegentheil, daß er sie gemacht hat. Es ist der Einfluß Hoffmann's<lb/> und Heine's,'der sich in keinem Französischen Dichter so entschieden ausspricht,<lb/> "is bei ihm, und wenn wir weiter zurückgehen, der Einfluß Faust's, dessen unver¬<lb/> söhnter Geist bei unsern Nachbarn umgeht, nachdem wir selber so lange ver¬<lb/> gebens gesucht haben, ihn zu bannen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1331" next="#ID_1332"> Der wesentliche Inhalt dieser poetischen Richtung ist das Hervorheben des Indi¬<lb/> viduellen und Unvermittelten über alle Regel und über alles Allgemeine überhaupt; die<lb/> unbedingte Apologie der Willkür, das systematische Aufgeben aller Ideen, die nicht<lb/> dem Individuum, sondern dem Menschen als solche zukommen, der Ideen des Schv-<lb/> des Wahren und des Guten, also in Beziehung auf die Form das Aus¬<lb/> sen aller Kunst, in Beziehung ans den Inhalt das Aufgeben aller -umschlichen<lb/> Idealität, in Beziehung auf die Tendenz das Ausgeben 'aller sittlichen Gedanken.<lb/> Daß diese Richtung ein wesentliches Moment' in der Entwickelung unsrer Zeit ist,<lb/> selge ihre große Verbreitung in der Poesie der drei Volker, welche wir vorzugs-</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"/><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0491]
denn sie hat keinen wirklichen Inhalt; sie ist „Caviar für's Volk". Sie resultirt
endlich in eine Philosophie, die man als die vollständige und unbedingte Ver¬
zweiflung an aller Idealität bezeichnen muß, und die uns niederdrückt, anstatt uns
zu erheben.
Der Vergleich mit Byron drängt sich sogleich ans, wenn wir auch nur die
äußere Erscheinung ins Auge fassen. Wie bei Diesem, finden wir eine Form
der Erzählung, die alles Thatsächliche nur dazu benutzt, um Reflexionen und
Empfindungen subjectwer Natur darein zu verweben; wir finden jenen krankhaft
gesteigerten Idealismus, der aber nur dazu dient, über die Welt und über die
eigene Seele einen tiefen Schatten der Trauer zu breiten; wir finden jenen
Cynismus und jene Frivolität, die mit einem bittern Gefühl gemischt ist, die
über sich selber zürnt, sich vor sich selber entsetzt, und ans der andern Seite jene
Zartheit und Jntensivität der Empfindung, die in demselben Augenblick, wo sie
steh im vollen Strom ergießt, durch herben Spott ihre innere Nichtigkeit verkün¬
det. Allein es ist doch auch ein wesentlicher Unterschied. Lord Byron ist ein
Vornehmer Mann, der viel gesehen und gelebt hat, und den der Reichthum der
Erscheinungen verwirrt, weil er kein Gesetz für sie mitbringt. Bei Alfred de
Musset dagegen ist der Eindruck niemals ein unmittelbarer, sondern er wird durch
die Auffassung früherer Dichter vermittelt; sein Schmerz, sein Zweifel, seine
Ideale und seine Verzweiflung sind nicht der Ausfluß seiner eigensten Natur,
sondern sie sind zum Theil Reminiscenzen, er hat sie durch Lecture anticipirt, ehe
ihm im Leben wirklich kamen, und die Gestalten und Verhältnisse, die ihn
Platen, sind aus einer Reihe mythischer Erfindungen combinirt, welche den irre¬
geleiteten Idealismus eines halben Jahrhunderts ausdrücken. Die Probleme,
^e er sich stellt, siud viel reicher und umfassender, als die des Englischen Lords,
dafür fühlt mau aber auch nicht, daß sie sich ihm gewaltsam aufdrängen, man
merkt im Gegentheil, daß er sie gemacht hat. Es ist der Einfluß Hoffmann's
und Heine's,'der sich in keinem Französischen Dichter so entschieden ausspricht,
"is bei ihm, und wenn wir weiter zurückgehen, der Einfluß Faust's, dessen unver¬
söhnter Geist bei unsern Nachbarn umgeht, nachdem wir selber so lange ver¬
gebens gesucht haben, ihn zu bannen.
Der wesentliche Inhalt dieser poetischen Richtung ist das Hervorheben des Indi¬
viduellen und Unvermittelten über alle Regel und über alles Allgemeine überhaupt; die
unbedingte Apologie der Willkür, das systematische Aufgeben aller Ideen, die nicht
dem Individuum, sondern dem Menschen als solche zukommen, der Ideen des Schv-
des Wahren und des Guten, also in Beziehung auf die Form das Aus¬
sen aller Kunst, in Beziehung ans den Inhalt das Aufgeben aller -umschlichen
Idealität, in Beziehung auf die Tendenz das Ausgeben 'aller sittlichen Gedanken.
Daß diese Richtung ein wesentliches Moment' in der Entwickelung unsrer Zeit ist,
selge ihre große Verbreitung in der Poesie der drei Volker, welche wir vorzugs-
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |