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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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möge*). Seine Helden verlassen im feurigsten Moment die Geliebte, "wie
einen alten Schuh, der zu Nichts mehr gut ist". Von den Bildern, die ange¬
wandt werden, um eine recht extreme Wollust zu schildern, oder um den Hohn
gegen alle Menschheit durch eiuen recht eclatanten Cynismus auszudrücken, will
ich hier nicht reden, denn in diesem Fall ist es Absicht; aber auch wo der Dichter
eine moralische und ästhetische Anwandlung hat, verfällt er in die nämlichen Bil¬
der. So wird er einmal, während er sonst in Beziehung auf geschlechtliche Ver¬
hältnisse ein ziemlich weites Gewissen hat, darüber indignirt, daß ein halbes Kind
schon das Metier eines Freudenmädchens treibt, nud er fragt, ob es nicht besser
wäre, diesen schonen Leib mit einer Sichel zu verstümmeln, diesen schneeweißen
Hals zu nehmen und ihm die Knochen umzudrehen. Das Bild drückt hier nickt
blos die Empfindung aus, es geht mit ihr durch. So ist in der Nebeneinander-
stellung vou triviale" und paradoxe" Einfällen, vou Gcfühlsaufschwung und Cynis¬
mus, eine Coquetterie und Affectation, die zuweilen noch über Heine hinausgeht;
so wenn er z. B. in dem Gedicht an Pepa in rührendem Ton schildert, wie sie
zu Abend gebetet hat, und dann "unter das Bett sieht". So ist er in der An¬
wendung von uneigentlichen Ausdrücken und in der Einführung der Sprache
des gewöhnlichen Lebens mitten in eine lyrische Stimmung von einer Leichtfertig¬
keit, die über den guten Geschmack hinausgeht.

Alle diese Fehler sind bei ihm nicht blos Ausnahmen; sie kommen so häufig
vor, daß mau sie fast als Regel betrachten kann. Außerdem sind eine ganze
Reihe seiner Balladen in demselben stoffloser Formalismus geschrieben, wie Victor
Hugo's "Orientalen"; Anschauungen und Bilder ohne Empfindung, so daß man
sie beinahe als Uebungen im Versmaß betrachten kann. Wenn er aber einmal
wirklich seiner Empfindung freien Lauf läßt, so weiß er ihr auch eiuen edlen und
Reffenden Ausdruck zu geben, und einzelne Lieder übertreffen an Zartheit, an in¬
dividueller Wahrheit, an Innigkeit und Grazie des Ausdrucks das Meiste, was mir
Französischer Poesie bekannt ist.

Was die kleinen epischen Gedichte betrifft (von I^ö/.. I'orten, I.v Santo, Nar-
änede. Namouna, Kolla), so stehen sie in der Mitte zwischen Wieland und Byron.

Wer mit dem Don Juan des Letztern vertraut ist, wird sich hier ans bekann¬
tem Boden finden. Die Geschichte ist überall die Nebensache; sie ist sehr einfach,
und in der Regel wiederholt sich das nämliche Thema. Die Hauptsache ist
die Reflexion, die in der Regel einen, wenn nicht edlen, doch interessanten Ausdruck
sindet, und die Entfaltung kleiner Züge der Sinnlichkeit, für die der Dichter ein
vortreffliches Ange hat. Von dem eigentlichen Inhalt sprechen wir nachher. --



möge*). Seine Helden verlassen im feurigsten Moment die Geliebte, „wie
einen alten Schuh, der zu Nichts mehr gut ist". Von den Bildern, die ange¬
wandt werden, um eine recht extreme Wollust zu schildern, oder um den Hohn
gegen alle Menschheit durch eiuen recht eclatanten Cynismus auszudrücken, will
ich hier nicht reden, denn in diesem Fall ist es Absicht; aber auch wo der Dichter
eine moralische und ästhetische Anwandlung hat, verfällt er in die nämlichen Bil¬
der. So wird er einmal, während er sonst in Beziehung auf geschlechtliche Ver¬
hältnisse ein ziemlich weites Gewissen hat, darüber indignirt, daß ein halbes Kind
schon das Metier eines Freudenmädchens treibt, nud er fragt, ob es nicht besser
wäre, diesen schonen Leib mit einer Sichel zu verstümmeln, diesen schneeweißen
Hals zu nehmen und ihm die Knochen umzudrehen. Das Bild drückt hier nickt
blos die Empfindung aus, es geht mit ihr durch. So ist in der Nebeneinander-
stellung vou triviale» und paradoxe» Einfällen, vou Gcfühlsaufschwung und Cynis¬
mus, eine Coquetterie und Affectation, die zuweilen noch über Heine hinausgeht;
so wenn er z. B. in dem Gedicht an Pepa in rührendem Ton schildert, wie sie
zu Abend gebetet hat, und dann „unter das Bett sieht". So ist er in der An¬
wendung von uneigentlichen Ausdrücken und in der Einführung der Sprache
des gewöhnlichen Lebens mitten in eine lyrische Stimmung von einer Leichtfertig¬
keit, die über den guten Geschmack hinausgeht.

Alle diese Fehler sind bei ihm nicht blos Ausnahmen; sie kommen so häufig
vor, daß mau sie fast als Regel betrachten kann. Außerdem sind eine ganze
Reihe seiner Balladen in demselben stoffloser Formalismus geschrieben, wie Victor
Hugo's „Orientalen"; Anschauungen und Bilder ohne Empfindung, so daß man
sie beinahe als Uebungen im Versmaß betrachten kann. Wenn er aber einmal
wirklich seiner Empfindung freien Lauf läßt, so weiß er ihr auch eiuen edlen und
Reffenden Ausdruck zu geben, und einzelne Lieder übertreffen an Zartheit, an in¬
dividueller Wahrheit, an Innigkeit und Grazie des Ausdrucks das Meiste, was mir
Französischer Poesie bekannt ist.

Was die kleinen epischen Gedichte betrifft (von I^ö/.. I'orten, I.v Santo, Nar-
änede. Namouna, Kolla), so stehen sie in der Mitte zwischen Wieland und Byron.

Wer mit dem Don Juan des Letztern vertraut ist, wird sich hier ans bekann¬
tem Boden finden. Die Geschichte ist überall die Nebensache; sie ist sehr einfach,
und in der Regel wiederholt sich das nämliche Thema. Die Hauptsache ist
die Reflexion, die in der Regel einen, wenn nicht edlen, doch interessanten Ausdruck
sindet, und die Entfaltung kleiner Züge der Sinnlichkeit, für die der Dichter ein
vortreffliches Ange hat. Von dem eigentlichen Inhalt sprechen wir nachher. —



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/493>, abgerufen am 04.07.2024.