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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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mit ihm durch, wie das bei dem König der Romantiker so häufig der Fall ist,
dessen tiefsinnigsten Monologe nicht selten in gedankenlosen Klingklang aus-
laufen. An Klarheit, Zierlichkeit und Grazie laßt er sich unter den neuern Ro¬
mantikern nur mit Prosper Mvrimve und Charles de Bernard vergleichen, die
ihm auch darin ähnlich sind, daß sie sich durch die Scheu vor allgemeinen
Redensarten und Abstractionen verleiten lassen, lediglich nach individueller
Wahrheit zu streben; er unterscheidet sich aber von ihnen durch die Weite und
Mannichfaltigkeit seiner Perspectiven, und durch eine seltene Receptivität, die von
einer großen Belesenheit getragen wird. Ja, die Combinationen seines Witzes
und seiner Phantasie gehen zuweilen so ins Weite und Grenzenlose, daß wir uns
auf Deutschem Grund und Boden zu befinden glauben.

Er würde auch im Ausland für den vorzüglichsten Repräsentanten der Ro¬
mantiker gelten, wenn nicht Victor Hugo durch das Grobmaterialistische seiner
Dichtung für das fremde Verständniß faßlicher und so zu sagen handgreiflicher wäre,
und wenn nicht diejenige Eigenschaft, die ihn vorzugsweise zu einem Romantiker
macht, die souveraine Verachtung gegen die Form und gegen das Gesetz, uns
zwar bei unsrer einheimischen Dichtern als etwas sehr Tiefsinniges und Geist¬
reiches erschiene, die Werke fremder Dichter aber mit dem Stempel der Willkür¬
lichkeit brandmarkte.

Unsre Leser werden von vorn herein überzeugt sein, daß jene Anerkennung,
Alfred de Musset sei der erste der Romantiker, bei uns nur einen sehr bedingten
Sinn haben kann. In der That finden sich alle Fehler dieser Schule bei ihm
in einem Maße zusammen, daß ihn darin bei uns Deutschen höchstens Heine
überbietet.

Seine Dichtung ist aus dieselbe Weise zu erklären, wie die des Lord Byron;
sie ist der Ausdruck von der übersteigerten Bildung einer Weltstadt, die eine große
Mannichfaltigkeit der Gesichtspunkte darbietet, aber jene Sicherheit des GefülM
und des Verstandes aufhebt, welche von einer gewissen freiwilligen Beschränkn"!;
nicht getrennt werden kann. Trotz seiner Vorliebe für die Altfranzösische Grazie
und Leichtfertigkeit, und obgleich er in seinen Stoffen wie in seiner Lebensphilo-
sophie häufig mit populairen Dichtern übereinkommt, z. B. mit Bvrcmger, ist er
doch kein nationaler Dichter, denn seine Frende an den Lisetten, an Zechgelagen
und dergleichen ist keine natürliche, sondern eine raffinirte; seine Lustigkeit trägt
die Spuren des Liguenrs; die Menschen, die er schildert, sind nur in einer Ge¬
sellschaft denkbar, die durch die rafftuirteste Genußsucht und durch ein zu früh¬
zeitiges Leben sich alle Freude an dem einfach Schönen verkümmert hat, und nur noch
nach jenen überschwenglichen Emotionen jagt, wie sie sonst eigentlich nur in
der Seele nervöser Weiber sich finden. Seine Dichtung überrascht uns durch
feine Züge, in denen wir erkennen müssen, daß auch die Willkür und Caprice
ihr geistiges Gesetz hat, aber sie ist nicht im Stande, uns dauernd zu fesseln,


mit ihm durch, wie das bei dem König der Romantiker so häufig der Fall ist,
dessen tiefsinnigsten Monologe nicht selten in gedankenlosen Klingklang aus-
laufen. An Klarheit, Zierlichkeit und Grazie laßt er sich unter den neuern Ro¬
mantikern nur mit Prosper Mvrimve und Charles de Bernard vergleichen, die
ihm auch darin ähnlich sind, daß sie sich durch die Scheu vor allgemeinen
Redensarten und Abstractionen verleiten lassen, lediglich nach individueller
Wahrheit zu streben; er unterscheidet sich aber von ihnen durch die Weite und
Mannichfaltigkeit seiner Perspectiven, und durch eine seltene Receptivität, die von
einer großen Belesenheit getragen wird. Ja, die Combinationen seines Witzes
und seiner Phantasie gehen zuweilen so ins Weite und Grenzenlose, daß wir uns
auf Deutschem Grund und Boden zu befinden glauben.

Er würde auch im Ausland für den vorzüglichsten Repräsentanten der Ro¬
mantiker gelten, wenn nicht Victor Hugo durch das Grobmaterialistische seiner
Dichtung für das fremde Verständniß faßlicher und so zu sagen handgreiflicher wäre,
und wenn nicht diejenige Eigenschaft, die ihn vorzugsweise zu einem Romantiker
macht, die souveraine Verachtung gegen die Form und gegen das Gesetz, uns
zwar bei unsrer einheimischen Dichtern als etwas sehr Tiefsinniges und Geist¬
reiches erschiene, die Werke fremder Dichter aber mit dem Stempel der Willkür¬
lichkeit brandmarkte.

Unsre Leser werden von vorn herein überzeugt sein, daß jene Anerkennung,
Alfred de Musset sei der erste der Romantiker, bei uns nur einen sehr bedingten
Sinn haben kann. In der That finden sich alle Fehler dieser Schule bei ihm
in einem Maße zusammen, daß ihn darin bei uns Deutschen höchstens Heine
überbietet.

Seine Dichtung ist aus dieselbe Weise zu erklären, wie die des Lord Byron;
sie ist der Ausdruck von der übersteigerten Bildung einer Weltstadt, die eine große
Mannichfaltigkeit der Gesichtspunkte darbietet, aber jene Sicherheit des GefülM
und des Verstandes aufhebt, welche von einer gewissen freiwilligen Beschränkn»!;
nicht getrennt werden kann. Trotz seiner Vorliebe für die Altfranzösische Grazie
und Leichtfertigkeit, und obgleich er in seinen Stoffen wie in seiner Lebensphilo-
sophie häufig mit populairen Dichtern übereinkommt, z. B. mit Bvrcmger, ist er
doch kein nationaler Dichter, denn seine Frende an den Lisetten, an Zechgelagen
und dergleichen ist keine natürliche, sondern eine raffinirte; seine Lustigkeit trägt
die Spuren des Liguenrs; die Menschen, die er schildert, sind nur in einer Ge¬
sellschaft denkbar, die durch die rafftuirteste Genußsucht und durch ein zu früh¬
zeitiges Leben sich alle Freude an dem einfach Schönen verkümmert hat, und nur noch
nach jenen überschwenglichen Emotionen jagt, wie sie sonst eigentlich nur in
der Seele nervöser Weiber sich finden. Seine Dichtung überrascht uns durch
feine Züge, in denen wir erkennen müssen, daß auch die Willkür und Caprice
ihr geistiges Gesetz hat, aber sie ist nicht im Stande, uns dauernd zu fesseln,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/490>, abgerufen am 04.07.2024.