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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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wissen, als der Moralist, er hält auch gleichgiltigen oder feindseligen Personen
gegenüber sehr bedenkliche Fechterkünste für erlaubt, aber seine Jmmoralität hat
doch eine gewisse Grenze; wenn er sein Ehrenwort giebt, so hält er es anch.
So muß Carlos aufgefaßt werden, wenn er in die Stimmung des Stücks passen
soll. Er muß außerdem an Alter nicht viel dem Clavigo überlegen sein, eben
so wenig wie Antonio dem Tasso. -- Clavigo selbst muß als eine sehr leicht erreg-
liche poetische Natur dargestellt werden; man darf keinen Augenblick aus den Ver¬
dacht gerathen, das Motiv seines zweiten Verraths sei die kalte Reflexion, es
muß vielmehr derselbe als das Resultat einer unbefriedigten und unklaren Bestim¬
mung erscheinen. Er liebt Maria nicht mehr, und fühlt sich unfähig, ihr Liebe
zu heucheln. Die Idee der abstracten Pflicht hat über ihn keine Gewalt, und
als Poet macht er sich's bequem, gerade wie Weißlingen. Wenn wir vermuthen
könnten, daß die Berechnung ihn bestimmte, so würde diese Unwürdigkeit auch
auf sein früheres Benehmen zurückfallen, und wir würden in seinem Verhalten
gegen Beaumarchais die gemeine Feigheit sehen, so daß wir nicht mehr im Stande
wären, irgend ein Interesse an ihm zu nehmen. Das ist aber nicht der Fall.
Der Poet verlangt nur immer, daß seine Empfindung ihm gegenständlich werde,
wenn er darau glauben soll, und so sieht er zuerst in Beaumarchais die eigene
Empfindung der Pflicht, nachher in Carlos die eigene Empfindung der Neigung
"or sich. Beide leiten ihn nur dadurch, daß sie ihm einen Spiegel zeigen. --
Was endlich Marie betrifft, so ist ihre Krankheitsgeschichte mit wunderbarer Wahr¬
heit dargestellt. Die Schauspielerin muß sich nur hüten, diese Wahrheit, nament¬
lich in der ersten Hälfte des Stücks, zu sehr ins Physische hinüber spielen
Zu lassen. Marie trägt allerdings schon im ersten Act den Tod im Herzen, allein
sie darf das nicht zur Schan tragen, im Gegentheil, sie muß es durch einen kleinen
Anflug von Französischer Munterkeit so zu verdecken wissen, daß wir wenigstens
die Möglichkeit eines glücklichen Ausganges ahnen können, weil sonst das Ganze
als eine überflüssige Komödie erschiene. Wir müssen zwar stets in Besorgniß
schweben, aber wir dürfen nicht die Gewißheit haben, sonst würde das patholo¬
gische Interesse das psychologische überwiegen, und die weinerliche Stimmung,
ans der wir gar nicht herauskamen, wurde jede Erschütterung "ut Erhebung
unsres Gemüths unmöglich machen. --


Lorbeerbaum und Bettelstab, vou Holt el.

-- Holtet hat unsre Bühne
Med einer großen Zahl vortrefflich ausgeführter und in der besten Lanne gehal¬
tener Vaudevilles bereichert. Bei dem großen Mangel an Fruchtbarkeit auch in
diesem Genre sollten die Theater häufiger auf dieselben zurückkommen. Wenn
wir daher hier auf ein Stück von ihm zurückgehen, welches die entschiedenste
Mißbilligung verdient, so geschieht es nicht, um den Dichter anzugreifen, den
Man vielmehr viel zu gering anzuschlagen geneigt ist, als eine moralische Verkeh¬
rung der Begriffe zu bekämpfen, die seit der Zeit nur zu sehr Raum unter uns


wissen, als der Moralist, er hält auch gleichgiltigen oder feindseligen Personen
gegenüber sehr bedenkliche Fechterkünste für erlaubt, aber seine Jmmoralität hat
doch eine gewisse Grenze; wenn er sein Ehrenwort giebt, so hält er es anch.
So muß Carlos aufgefaßt werden, wenn er in die Stimmung des Stücks passen
soll. Er muß außerdem an Alter nicht viel dem Clavigo überlegen sein, eben
so wenig wie Antonio dem Tasso. — Clavigo selbst muß als eine sehr leicht erreg-
liche poetische Natur dargestellt werden; man darf keinen Augenblick aus den Ver¬
dacht gerathen, das Motiv seines zweiten Verraths sei die kalte Reflexion, es
muß vielmehr derselbe als das Resultat einer unbefriedigten und unklaren Bestim¬
mung erscheinen. Er liebt Maria nicht mehr, und fühlt sich unfähig, ihr Liebe
zu heucheln. Die Idee der abstracten Pflicht hat über ihn keine Gewalt, und
als Poet macht er sich's bequem, gerade wie Weißlingen. Wenn wir vermuthen
könnten, daß die Berechnung ihn bestimmte, so würde diese Unwürdigkeit auch
auf sein früheres Benehmen zurückfallen, und wir würden in seinem Verhalten
gegen Beaumarchais die gemeine Feigheit sehen, so daß wir nicht mehr im Stande
wären, irgend ein Interesse an ihm zu nehmen. Das ist aber nicht der Fall.
Der Poet verlangt nur immer, daß seine Empfindung ihm gegenständlich werde,
wenn er darau glauben soll, und so sieht er zuerst in Beaumarchais die eigene
Empfindung der Pflicht, nachher in Carlos die eigene Empfindung der Neigung
"or sich. Beide leiten ihn nur dadurch, daß sie ihm einen Spiegel zeigen. —
Was endlich Marie betrifft, so ist ihre Krankheitsgeschichte mit wunderbarer Wahr¬
heit dargestellt. Die Schauspielerin muß sich nur hüten, diese Wahrheit, nament¬
lich in der ersten Hälfte des Stücks, zu sehr ins Physische hinüber spielen
Zu lassen. Marie trägt allerdings schon im ersten Act den Tod im Herzen, allein
sie darf das nicht zur Schan tragen, im Gegentheil, sie muß es durch einen kleinen
Anflug von Französischer Munterkeit so zu verdecken wissen, daß wir wenigstens
die Möglichkeit eines glücklichen Ausganges ahnen können, weil sonst das Ganze
als eine überflüssige Komödie erschiene. Wir müssen zwar stets in Besorgniß
schweben, aber wir dürfen nicht die Gewißheit haben, sonst würde das patholo¬
gische Interesse das psychologische überwiegen, und die weinerliche Stimmung,
ans der wir gar nicht herauskamen, wurde jede Erschütterung »ut Erhebung
unsres Gemüths unmöglich machen. —


Lorbeerbaum und Bettelstab, vou Holt el.

— Holtet hat unsre Bühne
Med einer großen Zahl vortrefflich ausgeführter und in der besten Lanne gehal¬
tener Vaudevilles bereichert. Bei dem großen Mangel an Fruchtbarkeit auch in
diesem Genre sollten die Theater häufiger auf dieselben zurückkommen. Wenn
wir daher hier auf ein Stück von ihm zurückgehen, welches die entschiedenste
Mißbilligung verdient, so geschieht es nicht, um den Dichter anzugreifen, den
Man vielmehr viel zu gering anzuschlagen geneigt ist, als eine moralische Verkeh¬
rung der Begriffe zu bekämpfen, die seit der Zeit nur zu sehr Raum unter uns


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/431>, abgerufen am 02.07.2024.