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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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schiedenen Motiven bestimmten Clavigo behauptet, dazu, den Letzten ganz und
gar herunterzudrücken, was nicht schwer ist, was aber der Absicht des Dichters
widerspricht. Er blieb z. B. in der großen Scene dem Clavigo gegenüber mit
verschränkten Armen unbeweglich an den Tisch gelehnt stehen, um symbolisch die
Festigkeit und Unbeweglichkeit des Charakters auszudrücken. Durch dieses äußer¬
liche Mittel wird zuletzt das Publicum so bezaubert, daß es seine Aufmerksamkeit
ungetheilt auf Carlos richtet, während doch die Umstimmung im Gemüth des
Clavigo in dieser Scene die Hauptsache sein muß. Außerdem beruht diese Aus¬
fassung auf einem Mißverständniß des Charakters, wozu Goethe allerdings leicht
verführt. Es ist genau derselbe Fall mit dem Antonio und Tasso. Gewöhnlich
stellt man sich vor, man habe es mit einem abstracten Verstandesmenschen zu
thun, und ist daher geneigt, die ganze Theilnahme des Gemüths auf Tasso zu
richten, weil der bloße Verstand keine unmittelbare Betheiligung hervorruft; allein
ein Charakter wie Antonio, welcher von früher Jngend ans gewohnt ist, sich in
diplomatischen Cirkeln zu bewegen, ist deshalb keineswegs ohne Leidenschaft; er
ist uur geübt, dieselbe zurückzuhalten. Sein Motiv in der Hauptscene ist uicht
das stolze Gefühl der Ueberlegenheit über eine unreife Bildung, welche im Gegen¬
theil der rücksichtsvolle und für das Verständniß einer jeden Natur fein empfäng¬
liche Weltmann mit Wohlwollen und einer gewissen Dankbarkeit aufnehmen würde,
sondern die Eifersucht, die um so heftiger hervortritt, je mehr er sie selbst wäh¬
rend der Unterredung zurückhalten muß. Antonio dem Tasso gegenüber ist nicht
der überweise Mentor, der dem jungen Poeten das ABC sittlicher Haltung bei¬
bringt, sondern der stille Feind, der seine überlegenen Fechterkünste benutzt, und
dessen spätere, dnrch seine gute und gesunde Natur vermittelte Versöhnung um so
mehr anerkannt werden muß, da sie nicht leicht ist. -- Aehnlich verhält es sich
mit Carlos. Man muß die Unterredung uicht so auffasse", als geschähe sie nach
einem vorher genau überlegten Plan, und als würde Clavigo systematisch bear¬
beitet. Carlos ist zu Anfang derselben der Ansicht, sein Freund, den er nach
seiner Art wirklich liebt, und der so ziemlich alle guten Seiten seines Herzens ?n
Anspruch nimmt, da er im Uebrigen die Welt mit den Augen eines ironischen
Misanthropen ansieht, sei in die Netze der verschmitzten Französin so verstrickt,
daß er ihn nicht werde losreißen können, und seine ersten Worte haben keinen
andern Zweck, als seinen Unwillen auszulassen. Erst als er merkt, daß Clavigo
uoch bestimmbar ist, fängt er Feuer, und nun redet er sich selbst im Eifer in eine
immer größere Ueberzeugung hinein. Diese Eigenthümlichkeit, daß kalte Men¬
schen in solchen Fällen sich selbst berauschen, hat z. B. Shakspeare in seinem
Jago wunderbar schön durchgeführt. Daß Carlos nicht ein bloßer Marinelli ist,
zeigen die letzten Worte des Clavigo; er ist vollständig davon überzeugt, semen
Freund durch den Handschlag unbedingt gebunden zu haben. Der Weltmann hat
zwar, namentlich in Beziehung auf den Umgang mit Weibern, ein weiteres Ge-


schiedenen Motiven bestimmten Clavigo behauptet, dazu, den Letzten ganz und
gar herunterzudrücken, was nicht schwer ist, was aber der Absicht des Dichters
widerspricht. Er blieb z. B. in der großen Scene dem Clavigo gegenüber mit
verschränkten Armen unbeweglich an den Tisch gelehnt stehen, um symbolisch die
Festigkeit und Unbeweglichkeit des Charakters auszudrücken. Durch dieses äußer¬
liche Mittel wird zuletzt das Publicum so bezaubert, daß es seine Aufmerksamkeit
ungetheilt auf Carlos richtet, während doch die Umstimmung im Gemüth des
Clavigo in dieser Scene die Hauptsache sein muß. Außerdem beruht diese Aus¬
fassung auf einem Mißverständniß des Charakters, wozu Goethe allerdings leicht
verführt. Es ist genau derselbe Fall mit dem Antonio und Tasso. Gewöhnlich
stellt man sich vor, man habe es mit einem abstracten Verstandesmenschen zu
thun, und ist daher geneigt, die ganze Theilnahme des Gemüths auf Tasso zu
richten, weil der bloße Verstand keine unmittelbare Betheiligung hervorruft; allein
ein Charakter wie Antonio, welcher von früher Jngend ans gewohnt ist, sich in
diplomatischen Cirkeln zu bewegen, ist deshalb keineswegs ohne Leidenschaft; er
ist uur geübt, dieselbe zurückzuhalten. Sein Motiv in der Hauptscene ist uicht
das stolze Gefühl der Ueberlegenheit über eine unreife Bildung, welche im Gegen¬
theil der rücksichtsvolle und für das Verständniß einer jeden Natur fein empfäng¬
liche Weltmann mit Wohlwollen und einer gewissen Dankbarkeit aufnehmen würde,
sondern die Eifersucht, die um so heftiger hervortritt, je mehr er sie selbst wäh¬
rend der Unterredung zurückhalten muß. Antonio dem Tasso gegenüber ist nicht
der überweise Mentor, der dem jungen Poeten das ABC sittlicher Haltung bei¬
bringt, sondern der stille Feind, der seine überlegenen Fechterkünste benutzt, und
dessen spätere, dnrch seine gute und gesunde Natur vermittelte Versöhnung um so
mehr anerkannt werden muß, da sie nicht leicht ist. — Aehnlich verhält es sich
mit Carlos. Man muß die Unterredung uicht so auffasse», als geschähe sie nach
einem vorher genau überlegten Plan, und als würde Clavigo systematisch bear¬
beitet. Carlos ist zu Anfang derselben der Ansicht, sein Freund, den er nach
seiner Art wirklich liebt, und der so ziemlich alle guten Seiten seines Herzens ?n
Anspruch nimmt, da er im Uebrigen die Welt mit den Augen eines ironischen
Misanthropen ansieht, sei in die Netze der verschmitzten Französin so verstrickt,
daß er ihn nicht werde losreißen können, und seine ersten Worte haben keinen
andern Zweck, als seinen Unwillen auszulassen. Erst als er merkt, daß Clavigo
uoch bestimmbar ist, fängt er Feuer, und nun redet er sich selbst im Eifer in eine
immer größere Ueberzeugung hinein. Diese Eigenthümlichkeit, daß kalte Men¬
schen in solchen Fällen sich selbst berauschen, hat z. B. Shakspeare in seinem
Jago wunderbar schön durchgeführt. Daß Carlos nicht ein bloßer Marinelli ist,
zeigen die letzten Worte des Clavigo; er ist vollständig davon überzeugt, semen
Freund durch den Handschlag unbedingt gebunden zu haben. Der Weltmann hat
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/430>, abgerufen am 30.06.2024.