Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sich äußert, ans dem Feuer des Auges sprüht und im Accent der Rede glüht,
weiß Dcssoir mit einem -- leicht melancholisch gefärbten -- Adel der Seele zu
durchleuchten, die unwirsche Bescheidenheit mit eiuer Innigkeit des Gemüths zu
verschwistern, daß wir den ganzen Reichthum des Charakters in seinem Spiele
aufgehen sehen. Die Wandelungen der Seelenstimmung werden in ihrem Ent¬
stehen und wechselnden Uebergang mit psychologischem Takt gezeichnet und tief
ergreifend in seiner Wahrheit vor allem Andern das Begegniß mit Reesa. Der
erwachende Zug des Herzens, der Kampf der sittlichen Pflicht mit dem Gefühl,
die plötzliche und doch so milde Umstimmung des ganzen Wesens, kurz die ge¬
heime Macht der Liebe auf ein Deutsch empfindendes Gemüth können nicht wah¬
rer zum Ausdruck gelangen.

Die meisten Darsteller des Faust sind nur dem zweiten, aber nicht dem ersten
Theil dieser Rolle gewachsen, und geben jenen als ein völlig losgerissenes Glied.
Nichts ist verfehlter, als aus dein Faust mit dem Hcxentrcink im Leibe einen
Don Juan zu machen. Bei Dessoir überwiegt die erste Hälfte, aber auch die
zweite ist in voller Harmonie mit jener, ist ihr unverkennbares Product. Wir
sehen zu Anfang den Mann der Wissenschaft, der nicht allein im schwülstigen
Pathos der Gelehrsamkeit sich ergeht und nicht etwa nach den verbotenen Fleisch¬
töpfen des Gewisses ein sinnliches Gelüsten trägt, um das er jammert. Wir
sehen in der trefflich ergriffenen Maske schon, im hohlen, tiefblickenden Auge, wir
empfinden aus dem hohen Geistesaccent der von gespreizter Declamation befreiten
Rede den ungeheuren Kampf, den dieser Mann mit unbekannten Mächten um die
Krone des Erkennens und Wissens gerungen. Die melancholischen Accente des
Schmerzes über die Vergeblichkeit alles mühevollen Forschens sind fern von eitler
Sentimentalität, die Leidenschaft des rastlosen Denkers energisch, und furchtbar die
Verzweiflung, die moralische Vernichtung vor dem Erdgeiste. Dieser Faust kann sich
mit Bewußtsein dem Teufel ergeben, dem Genusse des Lebens nachjagen, ohne von sei¬
nem Ich ein Atom einzubüßen. Er bleibt immer der grübelnd reflectirende, selbstquäle¬
rische Faust, der im Genießen nur das Wissen sucht, und den Genuß secirt, indem er sich
ihm überläßt. Diese nur im Deutschen Volke heimische Hypochondrie des Denkens, des
fruchtlosen Forschens nach dem Unergründlichen, dieser in unendlicher und unstillbarer
Sehnsucht uach Erkenntniß immer und immer wieder die Wirklichkeit des Lebens
verläugnende Idealismus, schließt als Grundton der Darstellung deu Dessoir'schen
Faust zu einer Einheit von Gedanken und Ausführung zusammen, die nicht allein
im schauspielerischen Pathos vollzogen ist, die uns hier als eine historische Stufe
wahrer Intelligenz lebendig entgegentritt. Es ist nicht Faust im Allgemeinen,
Faust "der Mensch", der Repräsentant der Menschheit, es ist eben ein Deutscher
Gelehrter, der in's Endlose schweifende Idealist in seiner wirklichen, nationalen
und individuellen Existenz. Faust ist der Typus der Dessoir'schen Darstellungs¬
weise. Bei allem ernsten Bemühen um jedesmalige bestimmte Charakteristik jeder


sich äußert, ans dem Feuer des Auges sprüht und im Accent der Rede glüht,
weiß Dcssoir mit einem — leicht melancholisch gefärbten — Adel der Seele zu
durchleuchten, die unwirsche Bescheidenheit mit eiuer Innigkeit des Gemüths zu
verschwistern, daß wir den ganzen Reichthum des Charakters in seinem Spiele
aufgehen sehen. Die Wandelungen der Seelenstimmung werden in ihrem Ent¬
stehen und wechselnden Uebergang mit psychologischem Takt gezeichnet und tief
ergreifend in seiner Wahrheit vor allem Andern das Begegniß mit Reesa. Der
erwachende Zug des Herzens, der Kampf der sittlichen Pflicht mit dem Gefühl,
die plötzliche und doch so milde Umstimmung des ganzen Wesens, kurz die ge¬
heime Macht der Liebe auf ein Deutsch empfindendes Gemüth können nicht wah¬
rer zum Ausdruck gelangen.

Die meisten Darsteller des Faust sind nur dem zweiten, aber nicht dem ersten
Theil dieser Rolle gewachsen, und geben jenen als ein völlig losgerissenes Glied.
Nichts ist verfehlter, als aus dein Faust mit dem Hcxentrcink im Leibe einen
Don Juan zu machen. Bei Dessoir überwiegt die erste Hälfte, aber auch die
zweite ist in voller Harmonie mit jener, ist ihr unverkennbares Product. Wir
sehen zu Anfang den Mann der Wissenschaft, der nicht allein im schwülstigen
Pathos der Gelehrsamkeit sich ergeht und nicht etwa nach den verbotenen Fleisch¬
töpfen des Gewisses ein sinnliches Gelüsten trägt, um das er jammert. Wir
sehen in der trefflich ergriffenen Maske schon, im hohlen, tiefblickenden Auge, wir
empfinden aus dem hohen Geistesaccent der von gespreizter Declamation befreiten
Rede den ungeheuren Kampf, den dieser Mann mit unbekannten Mächten um die
Krone des Erkennens und Wissens gerungen. Die melancholischen Accente des
Schmerzes über die Vergeblichkeit alles mühevollen Forschens sind fern von eitler
Sentimentalität, die Leidenschaft des rastlosen Denkers energisch, und furchtbar die
Verzweiflung, die moralische Vernichtung vor dem Erdgeiste. Dieser Faust kann sich
mit Bewußtsein dem Teufel ergeben, dem Genusse des Lebens nachjagen, ohne von sei¬
nem Ich ein Atom einzubüßen. Er bleibt immer der grübelnd reflectirende, selbstquäle¬
rische Faust, der im Genießen nur das Wissen sucht, und den Genuß secirt, indem er sich
ihm überläßt. Diese nur im Deutschen Volke heimische Hypochondrie des Denkens, des
fruchtlosen Forschens nach dem Unergründlichen, dieser in unendlicher und unstillbarer
Sehnsucht uach Erkenntniß immer und immer wieder die Wirklichkeit des Lebens
verläugnende Idealismus, schließt als Grundton der Darstellung deu Dessoir'schen
Faust zu einer Einheit von Gedanken und Ausführung zusammen, die nicht allein
im schauspielerischen Pathos vollzogen ist, die uns hier als eine historische Stufe
wahrer Intelligenz lebendig entgegentritt. Es ist nicht Faust im Allgemeinen,
Faust „der Mensch", der Repräsentant der Menschheit, es ist eben ein Deutscher
Gelehrter, der in's Endlose schweifende Idealist in seiner wirklichen, nationalen
und individuellen Existenz. Faust ist der Typus der Dessoir'schen Darstellungs¬
weise. Bei allem ernsten Bemühen um jedesmalige bestimmte Charakteristik jeder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0042" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280129"/>
          <p xml:id="ID_98" prev="#ID_97"> sich äußert, ans dem Feuer des Auges sprüht und im Accent der Rede glüht,<lb/>
weiß Dcssoir mit einem &#x2014; leicht melancholisch gefärbten &#x2014; Adel der Seele zu<lb/>
durchleuchten, die unwirsche Bescheidenheit mit eiuer Innigkeit des Gemüths zu<lb/>
verschwistern, daß wir den ganzen Reichthum des Charakters in seinem Spiele<lb/>
aufgehen sehen. Die Wandelungen der Seelenstimmung werden in ihrem Ent¬<lb/>
stehen und wechselnden Uebergang mit psychologischem Takt gezeichnet und tief<lb/>
ergreifend in seiner Wahrheit vor allem Andern das Begegniß mit Reesa. Der<lb/>
erwachende Zug des Herzens, der Kampf der sittlichen Pflicht mit dem Gefühl,<lb/>
die plötzliche und doch so milde Umstimmung des ganzen Wesens, kurz die ge¬<lb/>
heime Macht der Liebe auf ein Deutsch empfindendes Gemüth können nicht wah¬<lb/>
rer zum Ausdruck gelangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_99" next="#ID_100"> Die meisten Darsteller des Faust sind nur dem zweiten, aber nicht dem ersten<lb/>
Theil dieser Rolle gewachsen, und geben jenen als ein völlig losgerissenes Glied.<lb/>
Nichts ist verfehlter, als aus dein Faust mit dem Hcxentrcink im Leibe einen<lb/>
Don Juan zu machen. Bei Dessoir überwiegt die erste Hälfte, aber auch die<lb/>
zweite ist in voller Harmonie mit jener, ist ihr unverkennbares Product. Wir<lb/>
sehen zu Anfang den Mann der Wissenschaft, der nicht allein im schwülstigen<lb/>
Pathos der Gelehrsamkeit sich ergeht und nicht etwa nach den verbotenen Fleisch¬<lb/>
töpfen des Gewisses ein sinnliches Gelüsten trägt, um das er jammert. Wir<lb/>
sehen in der trefflich ergriffenen Maske schon, im hohlen, tiefblickenden Auge, wir<lb/>
empfinden aus dem hohen Geistesaccent der von gespreizter Declamation befreiten<lb/>
Rede den ungeheuren Kampf, den dieser Mann mit unbekannten Mächten um die<lb/>
Krone des Erkennens und Wissens gerungen. Die melancholischen Accente des<lb/>
Schmerzes über die Vergeblichkeit alles mühevollen Forschens sind fern von eitler<lb/>
Sentimentalität, die Leidenschaft des rastlosen Denkers energisch, und furchtbar die<lb/>
Verzweiflung, die moralische Vernichtung vor dem Erdgeiste. Dieser Faust kann sich<lb/>
mit Bewußtsein dem Teufel ergeben, dem Genusse des Lebens nachjagen, ohne von sei¬<lb/>
nem Ich ein Atom einzubüßen. Er bleibt immer der grübelnd reflectirende, selbstquäle¬<lb/>
rische Faust, der im Genießen nur das Wissen sucht, und den Genuß secirt, indem er sich<lb/>
ihm überläßt. Diese nur im Deutschen Volke heimische Hypochondrie des Denkens, des<lb/>
fruchtlosen Forschens nach dem Unergründlichen, dieser in unendlicher und unstillbarer<lb/>
Sehnsucht uach Erkenntniß immer und immer wieder die Wirklichkeit des Lebens<lb/>
verläugnende Idealismus, schließt als Grundton der Darstellung deu Dessoir'schen<lb/>
Faust zu einer Einheit von Gedanken und Ausführung zusammen, die nicht allein<lb/>
im schauspielerischen Pathos vollzogen ist, die uns hier als eine historische Stufe<lb/>
wahrer Intelligenz lebendig entgegentritt. Es ist nicht Faust im Allgemeinen,<lb/>
Faust &#x201E;der Mensch", der Repräsentant der Menschheit, es ist eben ein Deutscher<lb/>
Gelehrter, der in's Endlose schweifende Idealist in seiner wirklichen, nationalen<lb/>
und individuellen Existenz. Faust ist der Typus der Dessoir'schen Darstellungs¬<lb/>
weise. Bei allem ernsten Bemühen um jedesmalige bestimmte Charakteristik jeder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0042] sich äußert, ans dem Feuer des Auges sprüht und im Accent der Rede glüht, weiß Dcssoir mit einem — leicht melancholisch gefärbten — Adel der Seele zu durchleuchten, die unwirsche Bescheidenheit mit eiuer Innigkeit des Gemüths zu verschwistern, daß wir den ganzen Reichthum des Charakters in seinem Spiele aufgehen sehen. Die Wandelungen der Seelenstimmung werden in ihrem Ent¬ stehen und wechselnden Uebergang mit psychologischem Takt gezeichnet und tief ergreifend in seiner Wahrheit vor allem Andern das Begegniß mit Reesa. Der erwachende Zug des Herzens, der Kampf der sittlichen Pflicht mit dem Gefühl, die plötzliche und doch so milde Umstimmung des ganzen Wesens, kurz die ge¬ heime Macht der Liebe auf ein Deutsch empfindendes Gemüth können nicht wah¬ rer zum Ausdruck gelangen. Die meisten Darsteller des Faust sind nur dem zweiten, aber nicht dem ersten Theil dieser Rolle gewachsen, und geben jenen als ein völlig losgerissenes Glied. Nichts ist verfehlter, als aus dein Faust mit dem Hcxentrcink im Leibe einen Don Juan zu machen. Bei Dessoir überwiegt die erste Hälfte, aber auch die zweite ist in voller Harmonie mit jener, ist ihr unverkennbares Product. Wir sehen zu Anfang den Mann der Wissenschaft, der nicht allein im schwülstigen Pathos der Gelehrsamkeit sich ergeht und nicht etwa nach den verbotenen Fleisch¬ töpfen des Gewisses ein sinnliches Gelüsten trägt, um das er jammert. Wir sehen in der trefflich ergriffenen Maske schon, im hohlen, tiefblickenden Auge, wir empfinden aus dem hohen Geistesaccent der von gespreizter Declamation befreiten Rede den ungeheuren Kampf, den dieser Mann mit unbekannten Mächten um die Krone des Erkennens und Wissens gerungen. Die melancholischen Accente des Schmerzes über die Vergeblichkeit alles mühevollen Forschens sind fern von eitler Sentimentalität, die Leidenschaft des rastlosen Denkers energisch, und furchtbar die Verzweiflung, die moralische Vernichtung vor dem Erdgeiste. Dieser Faust kann sich mit Bewußtsein dem Teufel ergeben, dem Genusse des Lebens nachjagen, ohne von sei¬ nem Ich ein Atom einzubüßen. Er bleibt immer der grübelnd reflectirende, selbstquäle¬ rische Faust, der im Genießen nur das Wissen sucht, und den Genuß secirt, indem er sich ihm überläßt. Diese nur im Deutschen Volke heimische Hypochondrie des Denkens, des fruchtlosen Forschens nach dem Unergründlichen, dieser in unendlicher und unstillbarer Sehnsucht uach Erkenntniß immer und immer wieder die Wirklichkeit des Lebens verläugnende Idealismus, schließt als Grundton der Darstellung deu Dessoir'schen Faust zu einer Einheit von Gedanken und Ausführung zusammen, die nicht allein im schauspielerischen Pathos vollzogen ist, die uns hier als eine historische Stufe wahrer Intelligenz lebendig entgegentritt. Es ist nicht Faust im Allgemeinen, Faust „der Mensch", der Repräsentant der Menschheit, es ist eben ein Deutscher Gelehrter, der in's Endlose schweifende Idealist in seiner wirklichen, nationalen und individuellen Existenz. Faust ist der Typus der Dessoir'schen Darstellungs¬ weise. Bei allem ernsten Bemühen um jedesmalige bestimmte Charakteristik jeder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/42
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/42>, abgerufen am 30.06.2024.