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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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knien vor der Göttin Artemis, dem Darsteller oder der Anordnung durch den
Uebersetzer des Euripides zur Last fallen.

Wie viel ein ernster Wille selbst einem widerstrebenden Material abzuringen
vermag, lehrte Dessoir's Peru in Donna Diana. Der Spanische Gracioso ist eine
dramatische Maske, die als solche sehr national, als Charakter jedoch den Lebens¬
bedingungen einer bestimmten Wirklichkeit durch eine poetisch-phantastische Laune
entrückt erscheint. In diesem Sinne machte die geschickte Verbindung des Hof¬
mannes mit dem Gracioso, des denkenden Kopfes mit dem verschmitzten Schalk,
der trefflich ergriffene Ton des täuschenden Mitgefühls gegen die Prinzessin, der
sarkastisch geschliffene Accent des Witzes den Dessoir'schen Peru zu einem charak¬
teristischen Bilde. Hat der Künstler hier seine düstere Gemüthsfärbnng fast
gänzlich überwunden, so trägt er dagegen in seinen Carlos (Clavigo) einen Zug
von Gemüthlichkeit, der den eigentlichen Kern desselben schwächt, und die idealen
Wurzeln desselben durchschneidet, mit denen er im Gedanken des Goethischen
Kunstwerks haftet. Wie das Streben nach nationaler Begründung seiner Dar¬
stellungen, um ihnen schon in der Untermaluug die Hauptfarben der Wirklichkeit
und des Lebens zu ertheilen, eine durchgreifende Richtung in der künstlerischen
Gestaltnngsweise Dessoir's bildet, so ist sie mich, im Vergleich zu andern Dar¬
stellern derselben Rolle, eine Eigenthümlichkeit seines Carlos. Er ließ auch in
der Freuudeswärme, mit welcher er des Clavigo Geschick ergreift, das erhobene
Pathos Spanischer Nationalität hindurchklingen, aber er gab damit nicht den
Carlos des Dichters. Dieser steht mit seiner berechnenden Denkart mehr der
Welt gegenüber, als in ihr. Er gehört eben zu denjenigen energischen Naturen,
die das All einzig auf ihr Selbst beziehen, weil sie die Kraft in sich fühlen, das
Leben nach ihren Zwecken zu meistern. So fühlt er sich, in der Ueberhebung
seiner Ironie über die seelischen Bande menschlicher Vereinigung, auch an Clavigo
ans die Dauer vorzugsweise darum gefesselt, weil er die eigene Energie leitend
und bildend an dessen reichem Talent bethätigt. Ich will jenen menschlichen Zug
wirklicher Theilnahme an den fruchtbaren Geistesgaben seines Freundes und an
deren vortheilhaftester Benutzung durch ihren Besitzer nicht etwa aus der Seele
des Carlos verbannen, doch ist sie ein Zug der Stimmung, welcher das Wesen
des Charakters nicht umgestaltet. Dessoir giebt mehr die theilnahmvolle Stim¬
mung des Gemüths, als den Charakter in seiner weltmännischen Konsequenz.

Zwei Rollen, welche am Entschiedensten beweisen, wie harmonisch die Eigen¬
thümlichkeit des Deutschen Wesens mit der Natur des Dessoir'schen Spiels zu¬
sammenklingt, sind der Tempelherr in Lessing's Nathan und die Titelrolle in Goethe's
Faust. Von allen Darstellungen des Künstlers haben mich diese beiden am Voll¬
ständigsten befriedigt.

Zuerst sein Tempelherr. Das rauhe, derbe Wesen des Schwaben und die
körnige Leidenschaftlichkeit des Jünglings, die in der Lebhaftigkeit des Schrittes


Grenzboten. III. g

knien vor der Göttin Artemis, dem Darsteller oder der Anordnung durch den
Uebersetzer des Euripides zur Last fallen.

Wie viel ein ernster Wille selbst einem widerstrebenden Material abzuringen
vermag, lehrte Dessoir's Peru in Donna Diana. Der Spanische Gracioso ist eine
dramatische Maske, die als solche sehr national, als Charakter jedoch den Lebens¬
bedingungen einer bestimmten Wirklichkeit durch eine poetisch-phantastische Laune
entrückt erscheint. In diesem Sinne machte die geschickte Verbindung des Hof¬
mannes mit dem Gracioso, des denkenden Kopfes mit dem verschmitzten Schalk,
der trefflich ergriffene Ton des täuschenden Mitgefühls gegen die Prinzessin, der
sarkastisch geschliffene Accent des Witzes den Dessoir'schen Peru zu einem charak¬
teristischen Bilde. Hat der Künstler hier seine düstere Gemüthsfärbnng fast
gänzlich überwunden, so trägt er dagegen in seinen Carlos (Clavigo) einen Zug
von Gemüthlichkeit, der den eigentlichen Kern desselben schwächt, und die idealen
Wurzeln desselben durchschneidet, mit denen er im Gedanken des Goethischen
Kunstwerks haftet. Wie das Streben nach nationaler Begründung seiner Dar¬
stellungen, um ihnen schon in der Untermaluug die Hauptfarben der Wirklichkeit
und des Lebens zu ertheilen, eine durchgreifende Richtung in der künstlerischen
Gestaltnngsweise Dessoir's bildet, so ist sie mich, im Vergleich zu andern Dar¬
stellern derselben Rolle, eine Eigenthümlichkeit seines Carlos. Er ließ auch in
der Freuudeswärme, mit welcher er des Clavigo Geschick ergreift, das erhobene
Pathos Spanischer Nationalität hindurchklingen, aber er gab damit nicht den
Carlos des Dichters. Dieser steht mit seiner berechnenden Denkart mehr der
Welt gegenüber, als in ihr. Er gehört eben zu denjenigen energischen Naturen,
die das All einzig auf ihr Selbst beziehen, weil sie die Kraft in sich fühlen, das
Leben nach ihren Zwecken zu meistern. So fühlt er sich, in der Ueberhebung
seiner Ironie über die seelischen Bande menschlicher Vereinigung, auch an Clavigo
ans die Dauer vorzugsweise darum gefesselt, weil er die eigene Energie leitend
und bildend an dessen reichem Talent bethätigt. Ich will jenen menschlichen Zug
wirklicher Theilnahme an den fruchtbaren Geistesgaben seines Freundes und an
deren vortheilhaftester Benutzung durch ihren Besitzer nicht etwa aus der Seele
des Carlos verbannen, doch ist sie ein Zug der Stimmung, welcher das Wesen
des Charakters nicht umgestaltet. Dessoir giebt mehr die theilnahmvolle Stim¬
mung des Gemüths, als den Charakter in seiner weltmännischen Konsequenz.

Zwei Rollen, welche am Entschiedensten beweisen, wie harmonisch die Eigen¬
thümlichkeit des Deutschen Wesens mit der Natur des Dessoir'schen Spiels zu¬
sammenklingt, sind der Tempelherr in Lessing's Nathan und die Titelrolle in Goethe's
Faust. Von allen Darstellungen des Künstlers haben mich diese beiden am Voll¬
ständigsten befriedigt.

Zuerst sein Tempelherr. Das rauhe, derbe Wesen des Schwaben und die
körnige Leidenschaftlichkeit des Jünglings, die in der Lebhaftigkeit des Schrittes


Grenzboten. III. g
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/41>, abgerufen am 30.06.2024.