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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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büßen müssen; das Zweite das Resultat einer dreihundertjährigen Geschichte, die
nur zum Theil dem Volke zur Last fällt. Was dagegen den eigentlichen Kern
der Cultur ausmacht, das sittliche Leben, der Drang nach einer geregelten, con-
sistenten Thätigkeit, und das Bestreben, klar zu sehen, finde ich in unsrer Zeit
mehr als in irgend einer andern. Wenn man unser Familienleben, unser strenges
Rechtsgefühl in Privatangelegenheiten, unsre Industrie und unsern wissenschaft¬
lichen Eifer übersieht, so sollte doch der Vergleich mit der Römischen Cultur etwas
gewagt erscheinen. Wir haben noch sehr viel zu verlieren, wenn die Entwickelung
unsrer jetzigen Zustände gewaltsam unterbrochen wird, und nicht uns allein, auch
die Geschichte trifft dieser Verlust.

Eben so wenig scheint mir die innere Nothwendigkeit eines gewaltsamen Um^
Schwungs ausgemacht. Wenn wir für den Augenblick im schnellsten Rückschritt
begriffen sind, so darf man nicht vergessen, daß dieses zunächst uach dem Gesetz
der Ebbe und Fluth erfolgt; daß wir im Allgemeinen im Fortschreiten sind, er¬
giebt der erste beste Vergleich mit den analogen Zuständen von 1819. sowol
die Reaction als die progressistische Partei von ist besser als die damalige;
die Reaction ist gezwungen worden, sich unsrer eigenen Mittel zu bedienen, und
der Liberalismus sieht klar in alle Verhältnisse. Man bedenke, daß damals ein
Görres zu den Hauptträgeru des Liberalismus gehörte. -- Auch kaun ich den
Rest unsrer politischen "Errungenschaften" nicht für so unbedeutend halten. Die
Ansicht meines Gegners, er würde sich weder wundern, noch besonders betrüben,
wenn eines schönen Morgens die jetzige Preßfreiheit und die parlamentarische
Form aufgehoben würde, erscheint mir so paradox, daß sie kaum eine Widerle¬
gung verdient. Allerdings giebt es auch Stimmen, die selbst die Censur der
gegenwärtigen Gefahr, jeden Augenblick durch Nepressivmaßregeln getroffen zu
werden, vorziehen, aber diese Stimmen gehören jener Literatur an, die nur unter
der Censur gedeihen konnte, weil sie Wunderdinge erzählte von dem, was sie
sagen könnte, wenn sie es sagen dürfte. Eigentlich stehen wir in diesem Punkt
noch nicht schlimmer, als die Franzosen.

Wenn wir also einmal die Revolution als ein Uebel fürchten müssen; wenn
wir ferner noch immer Mittel und Wege sehen, ohne Gewalt die gegenwärtigen
Zustände zu bessern, sobald in der öffentlichen Meinung jener Rückschritt erfolgt
sein wird, der nicht ausbleiben kann, so scheint es mir falsch, die Frage nach
unserm Verhalten auf zukünftige Eventualitäten zu beschränken, die keinen klaren
und bestimmten Plan zulassen. Wenn wir von vorn herein von dem Gedanken
einer unvermeidlichen Revolution ausgehen, so speculiren wir allerdings ans die Revo¬
lution. Uebrigens ist uoch nie eine Revolution zu Stande gekommen ohne die
wenigstens indirecte Mitwirkung der Mittelklassen, als deren Vertreter wir uns
doch betrachten müssen. Da ferner die dauernde Herrschaft der extremen Revo¬
lutionspartei auch nach der Revolution eine Absurdität ist, da wir auch nach der


büßen müssen; das Zweite das Resultat einer dreihundertjährigen Geschichte, die
nur zum Theil dem Volke zur Last fällt. Was dagegen den eigentlichen Kern
der Cultur ausmacht, das sittliche Leben, der Drang nach einer geregelten, con-
sistenten Thätigkeit, und das Bestreben, klar zu sehen, finde ich in unsrer Zeit
mehr als in irgend einer andern. Wenn man unser Familienleben, unser strenges
Rechtsgefühl in Privatangelegenheiten, unsre Industrie und unsern wissenschaft¬
lichen Eifer übersieht, so sollte doch der Vergleich mit der Römischen Cultur etwas
gewagt erscheinen. Wir haben noch sehr viel zu verlieren, wenn die Entwickelung
unsrer jetzigen Zustände gewaltsam unterbrochen wird, und nicht uns allein, auch
die Geschichte trifft dieser Verlust.

Eben so wenig scheint mir die innere Nothwendigkeit eines gewaltsamen Um^
Schwungs ausgemacht. Wenn wir für den Augenblick im schnellsten Rückschritt
begriffen sind, so darf man nicht vergessen, daß dieses zunächst uach dem Gesetz
der Ebbe und Fluth erfolgt; daß wir im Allgemeinen im Fortschreiten sind, er¬
giebt der erste beste Vergleich mit den analogen Zuständen von 1819. sowol
die Reaction als die progressistische Partei von ist besser als die damalige;
die Reaction ist gezwungen worden, sich unsrer eigenen Mittel zu bedienen, und
der Liberalismus sieht klar in alle Verhältnisse. Man bedenke, daß damals ein
Görres zu den Hauptträgeru des Liberalismus gehörte. — Auch kaun ich den
Rest unsrer politischen „Errungenschaften" nicht für so unbedeutend halten. Die
Ansicht meines Gegners, er würde sich weder wundern, noch besonders betrüben,
wenn eines schönen Morgens die jetzige Preßfreiheit und die parlamentarische
Form aufgehoben würde, erscheint mir so paradox, daß sie kaum eine Widerle¬
gung verdient. Allerdings giebt es auch Stimmen, die selbst die Censur der
gegenwärtigen Gefahr, jeden Augenblick durch Nepressivmaßregeln getroffen zu
werden, vorziehen, aber diese Stimmen gehören jener Literatur an, die nur unter
der Censur gedeihen konnte, weil sie Wunderdinge erzählte von dem, was sie
sagen könnte, wenn sie es sagen dürfte. Eigentlich stehen wir in diesem Punkt
noch nicht schlimmer, als die Franzosen.

Wenn wir also einmal die Revolution als ein Uebel fürchten müssen; wenn
wir ferner noch immer Mittel und Wege sehen, ohne Gewalt die gegenwärtigen
Zustände zu bessern, sobald in der öffentlichen Meinung jener Rückschritt erfolgt
sein wird, der nicht ausbleiben kann, so scheint es mir falsch, die Frage nach
unserm Verhalten auf zukünftige Eventualitäten zu beschränken, die keinen klaren
und bestimmten Plan zulassen. Wenn wir von vorn herein von dem Gedanken
einer unvermeidlichen Revolution ausgehen, so speculiren wir allerdings ans die Revo¬
lution. Uebrigens ist uoch nie eine Revolution zu Stande gekommen ohne die
wenigstens indirecte Mitwirkung der Mittelklassen, als deren Vertreter wir uns
doch betrachten müssen. Da ferner die dauernde Herrschaft der extremen Revo¬
lutionspartei auch nach der Revolution eine Absurdität ist, da wir auch nach der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/36>, abgerufen am 30.06.2024.