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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Moment an. Sie versuchten es auch nicht, die Natur in ihrer unmittelbaren
Gewalt zu fassen, sondern sie veredelten dieselbe, wie man sich damals ausdrückte;
sie gaben Typen an Stelle der Individuen. Die neue Schule wurde durch drei
Momente bestimmt. -- Einmal ließ man die antiken Modelle fallen und wendete
sich zur Beobachtung der Natur in ihrer vollen Kraft. In der Malerei hat
Gcricanlt, in der Plastik Barye diese Richtung angebahnt. Sie haben mit der
nur halbgcistigen Natur, mit Thieren und dergleichen angefangen, und dieselben
in ihren charakteristischen Momenten studirt. 'Unmittelbar damit hängt zusammen,
daß man auch in den historischen Gemälden ans die Quellen zurückging, daß
man das Bedeutende an Stelle des allgemein Schönen setzte, und im Ausdruck
des Gesichts selbst, in der Haltung der Figuren, im Costum und in der Beleuch¬
tung Dasjenige hervorkehrte, was das Publicum frappiren mußte, nicht Dasjenige,
woran es bereits gewöhnt war. Bei einigem Nachdenken wird man in der neuen
Entwickelung des Drama's die nämliche Tendenz wiederfinden. Ich bemerke
dabei, daß der Abweg dieser an sich sehr anerkennenswerther und nothwendigen
Richtung nahe lag. Bei dem Suche" nach dem blos Charakteristischen geräth
man sehr leicht in die Verirrung, das Auffallende ohne Rücksicht ans seine ideale
Bedeutung als charakteristisch zu nehmen, und indem man diese Züge portrait¬
artig hervortreten läßt, die höhere Wahrheit, die in der Hervorhebung des Be¬
deutenden und Wesentlichen besteht, aus den Augen zu lassen; und in der ängst¬
lichen Nachahmung der Natur mit Vermeidung aller conventionellen Idealität läßt
man sich dazu verleiten, mit einem gewissen Trotz dem Auge diejenigen Züge
aufzudrängen, die zwar richtig sind, die aber den Totaleindruck stören. So ist
in dem schönen Bilde Napoleons von Paul Delaroche der immense Raum, welcher
den beschmuzten Stiefeln und der einfarbigen Bekleidung des corpulenter Leibes
zu Theil geworden ist, in künstlerischer Beziehung unstreitig ein Fehler. Aus
dieser Verirrung ist es zu erklären, daß die extremen Anhänger dieser Richtung,
wie die romantischen Poeten, es so arg trieben, daß man ihnen halb im Spaß,
halb im Ernst den Grundsatz impntiren konnte: Nichts ist schön, als das Hä߬
liche, und Nichts ist häßlich, als das Schöne.

Sodann trat an die Stelle der wohlwollenden Ruhe, in welcher die ältern
Maler ihre Figuren gruppirt hatten, das Bedürfniß der Action und Bewegung,
und. damit die Hervorhebung eines leidenschaftlichen Moments in seinem vollsten
Ausdruck. Das in Deutschland bekannte Gemälde von Horace Vernet, die Schlacht
bei Hastings, kaun uns dieses Streben versinnlichen. Solche Gemälde haben
vor unsren Deutschen einen großen Vorzug, denn es ist in ihnen ein wirkliches Leben,
und jene schwächliche, coquette Ziererei, die man bei uns nur gar zu häufig in der
Stellung der Personen zu einander, in ihrer Körperhaltung und dergleichen findet,
wird dadurch vermieden. Dagegen verleitet die zu hoch gespannte Action leicht
zur Verzerrung. Es ist mit der plastischen Kunst, wie mit der darstellenden auf


Moment an. Sie versuchten es auch nicht, die Natur in ihrer unmittelbaren
Gewalt zu fassen, sondern sie veredelten dieselbe, wie man sich damals ausdrückte;
sie gaben Typen an Stelle der Individuen. Die neue Schule wurde durch drei
Momente bestimmt. — Einmal ließ man die antiken Modelle fallen und wendete
sich zur Beobachtung der Natur in ihrer vollen Kraft. In der Malerei hat
Gcricanlt, in der Plastik Barye diese Richtung angebahnt. Sie haben mit der
nur halbgcistigen Natur, mit Thieren und dergleichen angefangen, und dieselben
in ihren charakteristischen Momenten studirt. 'Unmittelbar damit hängt zusammen,
daß man auch in den historischen Gemälden ans die Quellen zurückging, daß
man das Bedeutende an Stelle des allgemein Schönen setzte, und im Ausdruck
des Gesichts selbst, in der Haltung der Figuren, im Costum und in der Beleuch¬
tung Dasjenige hervorkehrte, was das Publicum frappiren mußte, nicht Dasjenige,
woran es bereits gewöhnt war. Bei einigem Nachdenken wird man in der neuen
Entwickelung des Drama's die nämliche Tendenz wiederfinden. Ich bemerke
dabei, daß der Abweg dieser an sich sehr anerkennenswerther und nothwendigen
Richtung nahe lag. Bei dem Suche» nach dem blos Charakteristischen geräth
man sehr leicht in die Verirrung, das Auffallende ohne Rücksicht ans seine ideale
Bedeutung als charakteristisch zu nehmen, und indem man diese Züge portrait¬
artig hervortreten läßt, die höhere Wahrheit, die in der Hervorhebung des Be¬
deutenden und Wesentlichen besteht, aus den Augen zu lassen; und in der ängst¬
lichen Nachahmung der Natur mit Vermeidung aller conventionellen Idealität läßt
man sich dazu verleiten, mit einem gewissen Trotz dem Auge diejenigen Züge
aufzudrängen, die zwar richtig sind, die aber den Totaleindruck stören. So ist
in dem schönen Bilde Napoleons von Paul Delaroche der immense Raum, welcher
den beschmuzten Stiefeln und der einfarbigen Bekleidung des corpulenter Leibes
zu Theil geworden ist, in künstlerischer Beziehung unstreitig ein Fehler. Aus
dieser Verirrung ist es zu erklären, daß die extremen Anhänger dieser Richtung,
wie die romantischen Poeten, es so arg trieben, daß man ihnen halb im Spaß,
halb im Ernst den Grundsatz impntiren konnte: Nichts ist schön, als das Hä߬
liche, und Nichts ist häßlich, als das Schöne.

Sodann trat an die Stelle der wohlwollenden Ruhe, in welcher die ältern
Maler ihre Figuren gruppirt hatten, das Bedürfniß der Action und Bewegung,
und. damit die Hervorhebung eines leidenschaftlichen Moments in seinem vollsten
Ausdruck. Das in Deutschland bekannte Gemälde von Horace Vernet, die Schlacht
bei Hastings, kaun uns dieses Streben versinnlichen. Solche Gemälde haben
vor unsren Deutschen einen großen Vorzug, denn es ist in ihnen ein wirkliches Leben,
und jene schwächliche, coquette Ziererei, die man bei uns nur gar zu häufig in der
Stellung der Personen zu einander, in ihrer Körperhaltung und dergleichen findet,
wird dadurch vermieden. Dagegen verleitet die zu hoch gespannte Action leicht
zur Verzerrung. Es ist mit der plastischen Kunst, wie mit der darstellenden auf


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/301>, abgerufen am 02.07.2024.