Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

dem Theater. Wer ist bei nus nicht von der dämonischen Leidenschaft, welche
die Rachel bei ihrem Spiel entwickelte, bis in die innerste Seele ergriffen worden?
wer hat aber nicht auch im Stillen gefühlt, daß diese Action nicht mehr ganz
im Maß des Schönen bleibt, und daß diese Poesie des Kontrastes zwischen der
ruhenden und der leidenschaftlich erregten Individualität, welche den Grundzug
ihres Spiels ausmacht, ebeu so leicht zur Manier werden kann, als die beständige
antik gelassene Attitüde, die man nach dem Vorbilde der Weimarer Schule unsren
Schauspielern empfahl? Im Gemälde ist das aber noch bedenklicher. Auf dem
Theater ist die leidenschaftliche Erregung doch nur ein Moment, den wir in seinem
Werden verfolgen können, und der nachher nur noch in der Erinnerung wieder
aufgefrischt wird; im Gemälde dagegen wird der Moment fixirt, und wir haben
ihn beständig vor Augen. Das Gemälde kann niemals die wirkliche Bewegung,
die wirkliche Leidenschaft, die wirkliche Action ausdrucken, sondern nur den Mo¬
ment, in welchem dieselbe zu einem gewissen Abschluß kommt, gleichsam die Ruhe
in der Bewegung. -- Noch ein anderer Uebelstand geht daraus hervor. Es wird
dadurch die Bildung eines Styls, wenn nicht unmöglich gemacht, doch wenig¬
stens sehr erschwert, und während wir daher in unsrer neuern Deutschen Malerei,
die sich ganz mit Recht mit vorzüglichem Eifer auf die höchste Stufe dieser Kunst,
ans das monumentale Gemälde wirst (denn nur durch die genaue Berechnung
auf seine architektonische Stellung erhält das Gemälde seine volle Bedeutung), und
sich, trotz der reichen Ausbreitung in mmmichfaltig bewegte Gruppen, und,
trotz der Beziehung ans historische Gegenstände, zu dem typischen und symbolischen
Charakter neigt, sehen wir in der Französischen Schule bei ihren großen Vorzügen
ein Streben nach dem Effect und einen Mangel an wirklichem Styl, der die
höchste Vollkommenheit der Kunst ausschließt.

Wir kommen auf einen dritten Punkt, der in einem scheinbaren, aber auch
nur scheinbaren, Widerspruch zum ersten steht. Wenn nämlich die ängstliche
Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit zu einem bedenklichen Materialismus
der Kunst verleitet, so geht damit das entgegengesetzte spiritualistische Streben
Hand in Hand, nämlich das Streben, alles Interesse in dem geistigen Ausdruck
der Physiognomie zu concentriren, und in demselben so verschiedene, zum Theil
widersprechende Motive zu entwickeln, daß eine vollständige Tragödie darin ent¬
halten ist. Dieses Streben, wenn es in seinen Grenzen bleibt, ist durchaus, zu
billigen, und kann allein den wesentlichen Fortschritt herbeiführen, nach dem die
ganze moderne Kunst im Gegensatz zur antiken hinstrebt. Wenn die Alten das
schmerzerfüllte Antlitz mit dem Schleier überdeckten, so lag in diesem ängstlichen
Schönheitssinn ein Mangel; sie kannten noch nicht die geistige, die ideale Bedeu¬
tung des Schmerzes. Wir, die Modernen, wollen überall zum Wissen und zur
Anschauung vordringen, und mit Recht; allein die Aufgabe hat ihre Grenzen, wenn
sie nicht ans dem Gebiet der Wahrheit und der Schönheit heraustreten soll. Es


dem Theater. Wer ist bei nus nicht von der dämonischen Leidenschaft, welche
die Rachel bei ihrem Spiel entwickelte, bis in die innerste Seele ergriffen worden?
wer hat aber nicht auch im Stillen gefühlt, daß diese Action nicht mehr ganz
im Maß des Schönen bleibt, und daß diese Poesie des Kontrastes zwischen der
ruhenden und der leidenschaftlich erregten Individualität, welche den Grundzug
ihres Spiels ausmacht, ebeu so leicht zur Manier werden kann, als die beständige
antik gelassene Attitüde, die man nach dem Vorbilde der Weimarer Schule unsren
Schauspielern empfahl? Im Gemälde ist das aber noch bedenklicher. Auf dem
Theater ist die leidenschaftliche Erregung doch nur ein Moment, den wir in seinem
Werden verfolgen können, und der nachher nur noch in der Erinnerung wieder
aufgefrischt wird; im Gemälde dagegen wird der Moment fixirt, und wir haben
ihn beständig vor Augen. Das Gemälde kann niemals die wirkliche Bewegung,
die wirkliche Leidenschaft, die wirkliche Action ausdrucken, sondern nur den Mo¬
ment, in welchem dieselbe zu einem gewissen Abschluß kommt, gleichsam die Ruhe
in der Bewegung. — Noch ein anderer Uebelstand geht daraus hervor. Es wird
dadurch die Bildung eines Styls, wenn nicht unmöglich gemacht, doch wenig¬
stens sehr erschwert, und während wir daher in unsrer neuern Deutschen Malerei,
die sich ganz mit Recht mit vorzüglichem Eifer auf die höchste Stufe dieser Kunst,
ans das monumentale Gemälde wirst (denn nur durch die genaue Berechnung
auf seine architektonische Stellung erhält das Gemälde seine volle Bedeutung), und
sich, trotz der reichen Ausbreitung in mmmichfaltig bewegte Gruppen, und,
trotz der Beziehung ans historische Gegenstände, zu dem typischen und symbolischen
Charakter neigt, sehen wir in der Französischen Schule bei ihren großen Vorzügen
ein Streben nach dem Effect und einen Mangel an wirklichem Styl, der die
höchste Vollkommenheit der Kunst ausschließt.

Wir kommen auf einen dritten Punkt, der in einem scheinbaren, aber auch
nur scheinbaren, Widerspruch zum ersten steht. Wenn nämlich die ängstliche
Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit zu einem bedenklichen Materialismus
der Kunst verleitet, so geht damit das entgegengesetzte spiritualistische Streben
Hand in Hand, nämlich das Streben, alles Interesse in dem geistigen Ausdruck
der Physiognomie zu concentriren, und in demselben so verschiedene, zum Theil
widersprechende Motive zu entwickeln, daß eine vollständige Tragödie darin ent¬
halten ist. Dieses Streben, wenn es in seinen Grenzen bleibt, ist durchaus, zu
billigen, und kann allein den wesentlichen Fortschritt herbeiführen, nach dem die
ganze moderne Kunst im Gegensatz zur antiken hinstrebt. Wenn die Alten das
schmerzerfüllte Antlitz mit dem Schleier überdeckten, so lag in diesem ängstlichen
Schönheitssinn ein Mangel; sie kannten noch nicht die geistige, die ideale Bedeu¬
tung des Schmerzes. Wir, die Modernen, wollen überall zum Wissen und zur
Anschauung vordringen, und mit Recht; allein die Aufgabe hat ihre Grenzen, wenn
sie nicht ans dem Gebiet der Wahrheit und der Schönheit heraustreten soll. Es


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0302" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280389"/>
          <p xml:id="ID_819" prev="#ID_818"> dem Theater. Wer ist bei nus nicht von der dämonischen Leidenschaft, welche<lb/>
die Rachel bei ihrem Spiel entwickelte, bis in die innerste Seele ergriffen worden?<lb/>
wer hat aber nicht auch im Stillen gefühlt, daß diese Action nicht mehr ganz<lb/>
im Maß des Schönen bleibt, und daß diese Poesie des Kontrastes zwischen der<lb/>
ruhenden und der leidenschaftlich erregten Individualität, welche den Grundzug<lb/>
ihres Spiels ausmacht, ebeu so leicht zur Manier werden kann, als die beständige<lb/>
antik gelassene Attitüde, die man nach dem Vorbilde der Weimarer Schule unsren<lb/>
Schauspielern empfahl? Im Gemälde ist das aber noch bedenklicher. Auf dem<lb/>
Theater ist die leidenschaftliche Erregung doch nur ein Moment, den wir in seinem<lb/>
Werden verfolgen können, und der nachher nur noch in der Erinnerung wieder<lb/>
aufgefrischt wird; im Gemälde dagegen wird der Moment fixirt, und wir haben<lb/>
ihn beständig vor Augen. Das Gemälde kann niemals die wirkliche Bewegung,<lb/>
die wirkliche Leidenschaft, die wirkliche Action ausdrucken, sondern nur den Mo¬<lb/>
ment, in welchem dieselbe zu einem gewissen Abschluß kommt, gleichsam die Ruhe<lb/>
in der Bewegung. &#x2014; Noch ein anderer Uebelstand geht daraus hervor. Es wird<lb/>
dadurch die Bildung eines Styls, wenn nicht unmöglich gemacht, doch wenig¬<lb/>
stens sehr erschwert, und während wir daher in unsrer neuern Deutschen Malerei,<lb/>
die sich ganz mit Recht mit vorzüglichem Eifer auf die höchste Stufe dieser Kunst,<lb/>
ans das monumentale Gemälde wirst (denn nur durch die genaue Berechnung<lb/>
auf seine architektonische Stellung erhält das Gemälde seine volle Bedeutung), und<lb/>
sich, trotz der reichen Ausbreitung in mmmichfaltig bewegte Gruppen, und,<lb/>
trotz der Beziehung ans historische Gegenstände, zu dem typischen und symbolischen<lb/>
Charakter neigt, sehen wir in der Französischen Schule bei ihren großen Vorzügen<lb/>
ein Streben nach dem Effect und einen Mangel an wirklichem Styl, der die<lb/>
höchste Vollkommenheit der Kunst ausschließt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_820" next="#ID_821"> Wir kommen auf einen dritten Punkt, der in einem scheinbaren, aber auch<lb/>
nur scheinbaren, Widerspruch zum ersten steht. Wenn nämlich die ängstliche<lb/>
Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit zu einem bedenklichen Materialismus<lb/>
der Kunst verleitet, so geht damit das entgegengesetzte spiritualistische Streben<lb/>
Hand in Hand, nämlich das Streben, alles Interesse in dem geistigen Ausdruck<lb/>
der Physiognomie zu concentriren, und in demselben so verschiedene, zum Theil<lb/>
widersprechende Motive zu entwickeln, daß eine vollständige Tragödie darin ent¬<lb/>
halten ist. Dieses Streben, wenn es in seinen Grenzen bleibt, ist durchaus, zu<lb/>
billigen, und kann allein den wesentlichen Fortschritt herbeiführen, nach dem die<lb/>
ganze moderne Kunst im Gegensatz zur antiken hinstrebt. Wenn die Alten das<lb/>
schmerzerfüllte Antlitz mit dem Schleier überdeckten, so lag in diesem ängstlichen<lb/>
Schönheitssinn ein Mangel; sie kannten noch nicht die geistige, die ideale Bedeu¬<lb/>
tung des Schmerzes. Wir, die Modernen, wollen überall zum Wissen und zur<lb/>
Anschauung vordringen, und mit Recht; allein die Aufgabe hat ihre Grenzen, wenn<lb/>
sie nicht ans dem Gebiet der Wahrheit und der Schönheit heraustreten soll. Es</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0302] dem Theater. Wer ist bei nus nicht von der dämonischen Leidenschaft, welche die Rachel bei ihrem Spiel entwickelte, bis in die innerste Seele ergriffen worden? wer hat aber nicht auch im Stillen gefühlt, daß diese Action nicht mehr ganz im Maß des Schönen bleibt, und daß diese Poesie des Kontrastes zwischen der ruhenden und der leidenschaftlich erregten Individualität, welche den Grundzug ihres Spiels ausmacht, ebeu so leicht zur Manier werden kann, als die beständige antik gelassene Attitüde, die man nach dem Vorbilde der Weimarer Schule unsren Schauspielern empfahl? Im Gemälde ist das aber noch bedenklicher. Auf dem Theater ist die leidenschaftliche Erregung doch nur ein Moment, den wir in seinem Werden verfolgen können, und der nachher nur noch in der Erinnerung wieder aufgefrischt wird; im Gemälde dagegen wird der Moment fixirt, und wir haben ihn beständig vor Augen. Das Gemälde kann niemals die wirkliche Bewegung, die wirkliche Leidenschaft, die wirkliche Action ausdrucken, sondern nur den Mo¬ ment, in welchem dieselbe zu einem gewissen Abschluß kommt, gleichsam die Ruhe in der Bewegung. — Noch ein anderer Uebelstand geht daraus hervor. Es wird dadurch die Bildung eines Styls, wenn nicht unmöglich gemacht, doch wenig¬ stens sehr erschwert, und während wir daher in unsrer neuern Deutschen Malerei, die sich ganz mit Recht mit vorzüglichem Eifer auf die höchste Stufe dieser Kunst, ans das monumentale Gemälde wirst (denn nur durch die genaue Berechnung auf seine architektonische Stellung erhält das Gemälde seine volle Bedeutung), und sich, trotz der reichen Ausbreitung in mmmichfaltig bewegte Gruppen, und, trotz der Beziehung ans historische Gegenstände, zu dem typischen und symbolischen Charakter neigt, sehen wir in der Französischen Schule bei ihren großen Vorzügen ein Streben nach dem Effect und einen Mangel an wirklichem Styl, der die höchste Vollkommenheit der Kunst ausschließt. Wir kommen auf einen dritten Punkt, der in einem scheinbaren, aber auch nur scheinbaren, Widerspruch zum ersten steht. Wenn nämlich die ängstliche Nachahmung der Natur und der Wirklichkeit zu einem bedenklichen Materialismus der Kunst verleitet, so geht damit das entgegengesetzte spiritualistische Streben Hand in Hand, nämlich das Streben, alles Interesse in dem geistigen Ausdruck der Physiognomie zu concentriren, und in demselben so verschiedene, zum Theil widersprechende Motive zu entwickeln, daß eine vollständige Tragödie darin ent¬ halten ist. Dieses Streben, wenn es in seinen Grenzen bleibt, ist durchaus, zu billigen, und kann allein den wesentlichen Fortschritt herbeiführen, nach dem die ganze moderne Kunst im Gegensatz zur antiken hinstrebt. Wenn die Alten das schmerzerfüllte Antlitz mit dem Schleier überdeckten, so lag in diesem ängstlichen Schönheitssinn ein Mangel; sie kannten noch nicht die geistige, die ideale Bedeu¬ tung des Schmerzes. Wir, die Modernen, wollen überall zum Wissen und zur Anschauung vordringen, und mit Recht; allein die Aufgabe hat ihre Grenzen, wenn sie nicht ans dem Gebiet der Wahrheit und der Schönheit heraustreten soll. Es

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/302
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/302>, abgerufen am 30.06.2024.