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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Streben ans, Natur zu geben; in seinen Umgebungen sieht er aber Nichts, als
Lüge und gemachtes Wesen. Mit einer Art von dämonischer Lust reißt er daher
den Heiligen die Larve ab. In einzelnen seiner kleinen Novellen wird der Ego¬
ismus in einer frechen Nacktheit dargestellt, die uns empört, und die doch wieder
andeutet, daß sie auch den Dichter empört; aber sie ist so objectiv gehalten, daß
wir verwirrt werden. Ohne Barmherzigkeit wird mit dem gutmüthigen, dem so¬
genannten unschuldigen Philister umgesprungen; ihm gegenüber scheint der Verrath
vollkommen berechtigt, der Dichter läßt nur die Kraft gelten, und darum zeichnet
er am Liebsten starke und gute Naturen, welche aber die allgemeine Heuchelei voll¬
kommen durchschauen, und daher der angeblichen Tugend die Sarkasmen einer un¬
verwüstlichen Ironie entgegensetzen. Am Besten ist ihm unter diesen der "Land-
edelmann" gelungen xonüllmmmt! oampa^rara), in einem Roman, der auch
im Uebrigen zu den vorzüglichsten gehört. Unerschöpflich ist er in der Verspottung
jener tugendhaften Leute, die sich in beständige Selbstanbetuug verlieren, und in
ihrem pharisäischen Dünkel die eigne Hohlheit übersehen. So namentlich die li¬
beralen Deputaten in den beiden Romanen ,M Komme sol-aux" und "I.a, könne
sens peur <ze gaus reprockw". Der gemachte Ernst, die Prahlerei mit Idealen,
die auf salbungsvolle Phrasen herauskommen, verleiden ihm deu Idealismus über¬
haupt. Hinter jedem Idealisten, der in beständiger priesterhafter Heiligkeit einher¬
geht, sieht er einen kleinen Tartüffe. Er hat in diesen Satyren eine gewisse
Ähnlichkeit mit Louis Neybaud, dessen ^6rome ?awrot eine Lieblingsstgur des
Französischen Publicums geworden ist, aber er ist viel concreter und plastischer,
als Dieser, und seine Ironie löst die Menschen niemals in bloße Eigenschaften
aus. Wo er gute Laune findet, läßt er auch ein wenig Tartüfferie gelten.

Diese Richtung scheint übrigens jetzt in Frankreich allgemein zu werden.
Schon sentimentale Schriftsteller, wie FrÄvric Souliv (z. B. in seinen Nvmoire!-
an äiadle), haben mit großer Vorliebe die falsche Tugend gegeißelt, aber mit
einem Pathos, das sich von jener falschen Tilgend im Wesen uicht sehr unterschied.
Die neue Voltaire'sche Schule thut es mit Humor; sie findet, wie billig, in den
Lügnern und Heuchlern dieser Welt uicht einen Vorwurf für die Tragödie, sondern
für die Komödie. Scribe's Stücke (I.a ealamruv, ig. vana^ello und nament¬
lich 1e Mly siud vorzügliche Beispiele dieser Richtung, der alten bekannten Charak¬
termaske des religiösen Tartüffe uicht zu gedenken. Mau ist ganz richtig dahinter
gekommen, daß der Liberalismus eben so gut seine falschen Propheten haben kann,
als die Orthodoxie.

Ich darf es nicht verschweigen, daß der Eindruck solcher Satyren doch nie
ein ganz heiterer ist. Sie halten sich doch, trotz der plastischen Kunst im Einzel¬
nen, zu sehr im Negativen, und die Albernheit als Charakter einer ganzen Weltperiode
darzustellen, hat etwas Ermüdendes. Freilich treibt es Bernard nicht so weit,
als z. B. Alfred de Musset, der sich aus dem raffinirten Wesen der modernen


Streben ans, Natur zu geben; in seinen Umgebungen sieht er aber Nichts, als
Lüge und gemachtes Wesen. Mit einer Art von dämonischer Lust reißt er daher
den Heiligen die Larve ab. In einzelnen seiner kleinen Novellen wird der Ego¬
ismus in einer frechen Nacktheit dargestellt, die uns empört, und die doch wieder
andeutet, daß sie auch den Dichter empört; aber sie ist so objectiv gehalten, daß
wir verwirrt werden. Ohne Barmherzigkeit wird mit dem gutmüthigen, dem so¬
genannten unschuldigen Philister umgesprungen; ihm gegenüber scheint der Verrath
vollkommen berechtigt, der Dichter läßt nur die Kraft gelten, und darum zeichnet
er am Liebsten starke und gute Naturen, welche aber die allgemeine Heuchelei voll¬
kommen durchschauen, und daher der angeblichen Tugend die Sarkasmen einer un¬
verwüstlichen Ironie entgegensetzen. Am Besten ist ihm unter diesen der „Land-
edelmann" gelungen xonüllmmmt! oampa^rara), in einem Roman, der auch
im Uebrigen zu den vorzüglichsten gehört. Unerschöpflich ist er in der Verspottung
jener tugendhaften Leute, die sich in beständige Selbstanbetuug verlieren, und in
ihrem pharisäischen Dünkel die eigne Hohlheit übersehen. So namentlich die li¬
beralen Deputaten in den beiden Romanen ,M Komme sol-aux" und „I.a, könne
sens peur <ze gaus reprockw". Der gemachte Ernst, die Prahlerei mit Idealen,
die auf salbungsvolle Phrasen herauskommen, verleiden ihm deu Idealismus über¬
haupt. Hinter jedem Idealisten, der in beständiger priesterhafter Heiligkeit einher¬
geht, sieht er einen kleinen Tartüffe. Er hat in diesen Satyren eine gewisse
Ähnlichkeit mit Louis Neybaud, dessen ^6rome ?awrot eine Lieblingsstgur des
Französischen Publicums geworden ist, aber er ist viel concreter und plastischer,
als Dieser, und seine Ironie löst die Menschen niemals in bloße Eigenschaften
aus. Wo er gute Laune findet, läßt er auch ein wenig Tartüfferie gelten.

Diese Richtung scheint übrigens jetzt in Frankreich allgemein zu werden.
Schon sentimentale Schriftsteller, wie FrÄvric Souliv (z. B. in seinen Nvmoire!-
an äiadle), haben mit großer Vorliebe die falsche Tugend gegeißelt, aber mit
einem Pathos, das sich von jener falschen Tilgend im Wesen uicht sehr unterschied.
Die neue Voltaire'sche Schule thut es mit Humor; sie findet, wie billig, in den
Lügnern und Heuchlern dieser Welt uicht einen Vorwurf für die Tragödie, sondern
für die Komödie. Scribe's Stücke (I.a ealamruv, ig. vana^ello und nament¬
lich 1e Mly siud vorzügliche Beispiele dieser Richtung, der alten bekannten Charak¬
termaske des religiösen Tartüffe uicht zu gedenken. Mau ist ganz richtig dahinter
gekommen, daß der Liberalismus eben so gut seine falschen Propheten haben kann,
als die Orthodoxie.

Ich darf es nicht verschweigen, daß der Eindruck solcher Satyren doch nie
ein ganz heiterer ist. Sie halten sich doch, trotz der plastischen Kunst im Einzel¬
nen, zu sehr im Negativen, und die Albernheit als Charakter einer ganzen Weltperiode
darzustellen, hat etwas Ermüdendes. Freilich treibt es Bernard nicht so weit,
als z. B. Alfred de Musset, der sich aus dem raffinirten Wesen der modernen


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[0226] Streben ans, Natur zu geben; in seinen Umgebungen sieht er aber Nichts, als Lüge und gemachtes Wesen. Mit einer Art von dämonischer Lust reißt er daher den Heiligen die Larve ab. In einzelnen seiner kleinen Novellen wird der Ego¬ ismus in einer frechen Nacktheit dargestellt, die uns empört, und die doch wieder andeutet, daß sie auch den Dichter empört; aber sie ist so objectiv gehalten, daß wir verwirrt werden. Ohne Barmherzigkeit wird mit dem gutmüthigen, dem so¬ genannten unschuldigen Philister umgesprungen; ihm gegenüber scheint der Verrath vollkommen berechtigt, der Dichter läßt nur die Kraft gelten, und darum zeichnet er am Liebsten starke und gute Naturen, welche aber die allgemeine Heuchelei voll¬ kommen durchschauen, und daher der angeblichen Tugend die Sarkasmen einer un¬ verwüstlichen Ironie entgegensetzen. Am Besten ist ihm unter diesen der „Land- edelmann" gelungen xonüllmmmt! oampa^rara), in einem Roman, der auch im Uebrigen zu den vorzüglichsten gehört. Unerschöpflich ist er in der Verspottung jener tugendhaften Leute, die sich in beständige Selbstanbetuug verlieren, und in ihrem pharisäischen Dünkel die eigne Hohlheit übersehen. So namentlich die li¬ beralen Deputaten in den beiden Romanen ,M Komme sol-aux" und „I.a, könne sens peur <ze gaus reprockw". Der gemachte Ernst, die Prahlerei mit Idealen, die auf salbungsvolle Phrasen herauskommen, verleiden ihm deu Idealismus über¬ haupt. Hinter jedem Idealisten, der in beständiger priesterhafter Heiligkeit einher¬ geht, sieht er einen kleinen Tartüffe. Er hat in diesen Satyren eine gewisse Ähnlichkeit mit Louis Neybaud, dessen ^6rome ?awrot eine Lieblingsstgur des Französischen Publicums geworden ist, aber er ist viel concreter und plastischer, als Dieser, und seine Ironie löst die Menschen niemals in bloße Eigenschaften aus. Wo er gute Laune findet, läßt er auch ein wenig Tartüfferie gelten. Diese Richtung scheint übrigens jetzt in Frankreich allgemein zu werden. Schon sentimentale Schriftsteller, wie FrÄvric Souliv (z. B. in seinen Nvmoire!- an äiadle), haben mit großer Vorliebe die falsche Tugend gegeißelt, aber mit einem Pathos, das sich von jener falschen Tilgend im Wesen uicht sehr unterschied. Die neue Voltaire'sche Schule thut es mit Humor; sie findet, wie billig, in den Lügnern und Heuchlern dieser Welt uicht einen Vorwurf für die Tragödie, sondern für die Komödie. Scribe's Stücke (I.a ealamruv, ig. vana^ello und nament¬ lich 1e Mly siud vorzügliche Beispiele dieser Richtung, der alten bekannten Charak¬ termaske des religiösen Tartüffe uicht zu gedenken. Mau ist ganz richtig dahinter gekommen, daß der Liberalismus eben so gut seine falschen Propheten haben kann, als die Orthodoxie. Ich darf es nicht verschweigen, daß der Eindruck solcher Satyren doch nie ein ganz heiterer ist. Sie halten sich doch, trotz der plastischen Kunst im Einzel¬ nen, zu sehr im Negativen, und die Albernheit als Charakter einer ganzen Weltperiode darzustellen, hat etwas Ermüdendes. Freilich treibt es Bernard nicht so weit, als z. B. Alfred de Musset, der sich aus dem raffinirten Wesen der modernen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/226>, abgerufen am 02.07.2024.