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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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errichten, und dafür verantwortlich, daß sie bestehe. Nähere Bestimmungen giebt
es nicht. Der Edelmann thut also so wenig als möglich, d. h. er bezeichnet ein
Individuum als tüchtig zum Lehramt und gewährt freies Holz. Die Last sällt
also aus die Schulter der Bürger. Nun ist aber die Wahl des Lehrers Sache
des Edelmanns, und wol im seltensten Falle ist Diesem darum zu thun, daß Jener
Etwas verstehe. Für Warschau ist die Verordnung in Kraft, daß jeder anzu¬
stellende Lehrer bei der Schulprüfungscommission ein Examen gemacht habe und
darüber ein Zeugniß besitze. Aber diese Verordnung verschwindet hinter den
Thoren von Warschau, und man findet in den kleinen Städten Lehrer der wun¬
derlichsten Art. Es giebt Städtchen, in welchen der Bürgermeister zugleich das
Schulamt besorgt. In Ro. am Wicrzfluß ist der Verwalter des herrschaftlichen
Schenkhanseö Schullehrer, und sehr nahe bei Warschau befindet sich ein Städt¬
chen, in welchem der bei der militairischen Standwache befindliche Feldscheerer die
Functionen des Lehrers für einen Lohn von 10 Rubeln und freies Futter für 2
Pferde ausübt. Hier und da findet man das Unterrichtswesen in den Händen
eines speculativen Juden als Privatgeschäft; gewöhnlich aber ziehen es in den
kleinen Städten die Organisten als ein Nebengeschäft an sich.--

Die Aeltern sind uicht verpflichtet, die Kinder in die Schulen zu schicken,
und für die Gegenstände des Unterrichts besteht keine Verordnung. Trotz diese"
schlechten Verhältnissen lernen die meisten Bewohner der kleinen Städte ein Wenig
lesen und schreiben, aber auch nicht mehr. Ihr Bürgcrehrgeiz, in welchem sie
den Bauern gegenüber oft die komischste Rolle spielen, drängt sie dazu, sich diese
geringen Fertigkeiten zu erwerbe".

Ju den Gonvernementöstädten, so wie in den größern Landstädten, welche
Eigenthum des Staates sind, sind die Verhältnisse allerdings besser. Die Lehrer
müssen eine Prüfung bestanden haben, werden vom Municipalgericht eingesetzt
und beziehen von ihm einen kleinen Gehalt. Den größern Theil ihrer Einnahme
bilden die Geschenke, welche ihnen von Seiten der Aeltern der Schüler zu Theil
werden. Die Schulgelder fließen in die MuuicipalamtSkasse, und gehen ans ihr
weiter in die Staatskasse. Ein Schulzwang ist aber anch in diesen Städten nicht
vorhanden, und da die ärmern Familien die Kosten schenen, so ist die Benutzung
der Schule eine sehr schwache. In Städten, wie Raden, Siedece, welche an
fünftausend Einwohner enthalten, findet man oft nicht einmal ein besonderes
Schulgebäude, sondern die Anstalt in der Wohnung des Lehrers, in der sie sich
nicht anders ausnimmt, als eine dürftige Deutsche Winkelschulc.

Warschau ist der einzige Ort, in welchem ein organisirtes und mit einiger
Strenge gepflegtes Elementarschulwesen gefunden wird; hier drängt die große
Menge gebildeter Familien dazu. Die meisten Anstalten (außer den klösterlichen)
sind Privatunternehmungen, stehen aber unter der Aussicht der Regierung. Ihre
Lehrfächer siud Lesen, Schreiben, Rechnen, Stylübung, Erdkunde, Andachtö-


errichten, und dafür verantwortlich, daß sie bestehe. Nähere Bestimmungen giebt
es nicht. Der Edelmann thut also so wenig als möglich, d. h. er bezeichnet ein
Individuum als tüchtig zum Lehramt und gewährt freies Holz. Die Last sällt
also aus die Schulter der Bürger. Nun ist aber die Wahl des Lehrers Sache
des Edelmanns, und wol im seltensten Falle ist Diesem darum zu thun, daß Jener
Etwas verstehe. Für Warschau ist die Verordnung in Kraft, daß jeder anzu¬
stellende Lehrer bei der Schulprüfungscommission ein Examen gemacht habe und
darüber ein Zeugniß besitze. Aber diese Verordnung verschwindet hinter den
Thoren von Warschau, und man findet in den kleinen Städten Lehrer der wun¬
derlichsten Art. Es giebt Städtchen, in welchen der Bürgermeister zugleich das
Schulamt besorgt. In Ro. am Wicrzfluß ist der Verwalter des herrschaftlichen
Schenkhanseö Schullehrer, und sehr nahe bei Warschau befindet sich ein Städt¬
chen, in welchem der bei der militairischen Standwache befindliche Feldscheerer die
Functionen des Lehrers für einen Lohn von 10 Rubeln und freies Futter für 2
Pferde ausübt. Hier und da findet man das Unterrichtswesen in den Händen
eines speculativen Juden als Privatgeschäft; gewöhnlich aber ziehen es in den
kleinen Städten die Organisten als ein Nebengeschäft an sich.—

Die Aeltern sind uicht verpflichtet, die Kinder in die Schulen zu schicken,
und für die Gegenstände des Unterrichts besteht keine Verordnung. Trotz diese»
schlechten Verhältnissen lernen die meisten Bewohner der kleinen Städte ein Wenig
lesen und schreiben, aber auch nicht mehr. Ihr Bürgcrehrgeiz, in welchem sie
den Bauern gegenüber oft die komischste Rolle spielen, drängt sie dazu, sich diese
geringen Fertigkeiten zu erwerbe«.

Ju den Gonvernementöstädten, so wie in den größern Landstädten, welche
Eigenthum des Staates sind, sind die Verhältnisse allerdings besser. Die Lehrer
müssen eine Prüfung bestanden haben, werden vom Municipalgericht eingesetzt
und beziehen von ihm einen kleinen Gehalt. Den größern Theil ihrer Einnahme
bilden die Geschenke, welche ihnen von Seiten der Aeltern der Schüler zu Theil
werden. Die Schulgelder fließen in die MuuicipalamtSkasse, und gehen ans ihr
weiter in die Staatskasse. Ein Schulzwang ist aber anch in diesen Städten nicht
vorhanden, und da die ärmern Familien die Kosten schenen, so ist die Benutzung
der Schule eine sehr schwache. In Städten, wie Raden, Siedece, welche an
fünftausend Einwohner enthalten, findet man oft nicht einmal ein besonderes
Schulgebäude, sondern die Anstalt in der Wohnung des Lehrers, in der sie sich
nicht anders ausnimmt, als eine dürftige Deutsche Winkelschulc.

Warschau ist der einzige Ort, in welchem ein organisirtes und mit einiger
Strenge gepflegtes Elementarschulwesen gefunden wird; hier drängt die große
Menge gebildeter Familien dazu. Die meisten Anstalten (außer den klösterlichen)
sind Privatunternehmungen, stehen aber unter der Aussicht der Regierung. Ihre
Lehrfächer siud Lesen, Schreiben, Rechnen, Stylübung, Erdkunde, Andachtö-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/204>, abgerufen am 02.07.2024.