Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die historische Schule wirkte um so schädlicher, da sie in einzelnen Punkten
unzweifelhaft Recht hatte, da der Mechanismus des aufgeklärten Staates zuletzt
zu einer Pulverisirung der historischen Eigenthümlichkeiten führen mußte, die jeden
fruchtbaren Keim zerwühlte. Selbst in den auffallend gedankenlosen Capuzmadeu
Haller's finden sich einzelne richtige Einfälle. Es war nur zu natürlich, daß bei
der Reaction, die eine so wüste Richtung nothwendig hervorrufen mußte, auch
das Gute und Positive verkannt wurde, und dieses Verkennen ist die Schuld
jenes erneuten Rationalismus, als dessen Hauptträger man Ruge bezeichnen kann.

Seine Stellung in Halle war geeignet, ihm die Gegensätze der Zeit in le¬
bendiger persönlicher Berührung zu vermitteln.

Der erste Einfluß, den dieselbe auf seine Bildung hatte, war die Bekehrung
zur Hegel'schen Philosophie. Sie war damals in Preußen Staatsphilosophie,
denn man hatte es gern gesehen, daß von einem scharfen Denker die bisher mit
großer Geringschätzung angesehene Wirklichkeit, daß die Kirche mit ihren Dogmen
und der Staat mit seinen Einrichtungen als vernünftig rehabilitirt wurde, und
daß man die Gotteslästerer und Demagogen, die man bisher nur als schlechte
Menschen verfolgt hatte, nun auch als flache Köpfe verspotten konnte. Aber schon
damals merkte man, daß diese Philosophie ein zweischneidiges Schwert sei. Nicht
allein, daß Hegel in seinem polyhistorischen System neben der legitimen Wirklich¬
keit auch die vom Staat und von der Kirche nicht anerkannte Wirklichkeit mit
ausgenommen hatte, er war beiden vorzugsweise dadurch schädlich geworden, daß
er ihren Gegnern ein leichtes Mittel an die Hand gegeben hatte, was in ihnen
"vernünftig" war, mit leichter Mühe zu erfassen, und es gegen sie selber anzuwen¬
den. Die junge Schule wußte, daß dies und jenes in der Kirche vernünftig war,
was die Kirche selbst nicht wußte, und darum war sie der letztem überleben; sie
konnte sie belehren, ihr Rath ertheilen, und zwar mit größeren Selbstgefühl, als
die frühere Aufklärung, die sich trotz ihrer heftigen Angriffe mit einer gewissen
Bescheidenheit draußen gehalten hatte. Der neue Liberalismus trat als Einge¬
weihter aus, er sprach gegen den bestehenden Staat und die bestehende Kirche im
Namen des wirklichen Staats und der wirklichen Kirche; er widerlegte den historischen
Christus durch deu wirklichen historischen Christus; er griff Preußen im Namen
Preußens an. Diese bisher ungeahnte Seite der Hegel'schen Philosophie wurde
bald populair, durch Gans in den Berliner Salons, durch Strauß im allgemeinen
Deutschen Publicum.

Von dieser Seite ist Rüge die Philosophie zugänglich geworden. Sie gab
dem Liberalismus einen gewissen Inhalt, und blieb doch so im Allgemeinen, daß
Mau sich das ermüdende Detailstudium ersparen konnte. Die Philosophie wurde
die Waffe, durch welche er seinen frühern Inhalt, die burschenschastliche Romantik,
bei sich und Andern widerlegte. Die alten Burschenschafter hatten sich damals
Zum großen Theil in das Bestehende gefügt. Schon fand man sie in höhern


Die historische Schule wirkte um so schädlicher, da sie in einzelnen Punkten
unzweifelhaft Recht hatte, da der Mechanismus des aufgeklärten Staates zuletzt
zu einer Pulverisirung der historischen Eigenthümlichkeiten führen mußte, die jeden
fruchtbaren Keim zerwühlte. Selbst in den auffallend gedankenlosen Capuzmadeu
Haller's finden sich einzelne richtige Einfälle. Es war nur zu natürlich, daß bei
der Reaction, die eine so wüste Richtung nothwendig hervorrufen mußte, auch
das Gute und Positive verkannt wurde, und dieses Verkennen ist die Schuld
jenes erneuten Rationalismus, als dessen Hauptträger man Ruge bezeichnen kann.

Seine Stellung in Halle war geeignet, ihm die Gegensätze der Zeit in le¬
bendiger persönlicher Berührung zu vermitteln.

Der erste Einfluß, den dieselbe auf seine Bildung hatte, war die Bekehrung
zur Hegel'schen Philosophie. Sie war damals in Preußen Staatsphilosophie,
denn man hatte es gern gesehen, daß von einem scharfen Denker die bisher mit
großer Geringschätzung angesehene Wirklichkeit, daß die Kirche mit ihren Dogmen
und der Staat mit seinen Einrichtungen als vernünftig rehabilitirt wurde, und
daß man die Gotteslästerer und Demagogen, die man bisher nur als schlechte
Menschen verfolgt hatte, nun auch als flache Köpfe verspotten konnte. Aber schon
damals merkte man, daß diese Philosophie ein zweischneidiges Schwert sei. Nicht
allein, daß Hegel in seinem polyhistorischen System neben der legitimen Wirklich¬
keit auch die vom Staat und von der Kirche nicht anerkannte Wirklichkeit mit
ausgenommen hatte, er war beiden vorzugsweise dadurch schädlich geworden, daß
er ihren Gegnern ein leichtes Mittel an die Hand gegeben hatte, was in ihnen
„vernünftig" war, mit leichter Mühe zu erfassen, und es gegen sie selber anzuwen¬
den. Die junge Schule wußte, daß dies und jenes in der Kirche vernünftig war,
was die Kirche selbst nicht wußte, und darum war sie der letztem überleben; sie
konnte sie belehren, ihr Rath ertheilen, und zwar mit größeren Selbstgefühl, als
die frühere Aufklärung, die sich trotz ihrer heftigen Angriffe mit einer gewissen
Bescheidenheit draußen gehalten hatte. Der neue Liberalismus trat als Einge¬
weihter aus, er sprach gegen den bestehenden Staat und die bestehende Kirche im
Namen des wirklichen Staats und der wirklichen Kirche; er widerlegte den historischen
Christus durch deu wirklichen historischen Christus; er griff Preußen im Namen
Preußens an. Diese bisher ungeahnte Seite der Hegel'schen Philosophie wurde
bald populair, durch Gans in den Berliner Salons, durch Strauß im allgemeinen
Deutschen Publicum.

Von dieser Seite ist Rüge die Philosophie zugänglich geworden. Sie gab
dem Liberalismus einen gewissen Inhalt, und blieb doch so im Allgemeinen, daß
Mau sich das ermüdende Detailstudium ersparen konnte. Die Philosophie wurde
die Waffe, durch welche er seinen frühern Inhalt, die burschenschastliche Romantik,
bei sich und Andern widerlegte. Die alten Burschenschafter hatten sich damals
Zum großen Theil in das Bestehende gefügt. Schon fand man sie in höhern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0175" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/280262"/>
          <p xml:id="ID_456"> Die historische Schule wirkte um so schädlicher, da sie in einzelnen Punkten<lb/>
unzweifelhaft Recht hatte, da der Mechanismus des aufgeklärten Staates zuletzt<lb/>
zu einer Pulverisirung der historischen Eigenthümlichkeiten führen mußte, die jeden<lb/>
fruchtbaren Keim zerwühlte. Selbst in den auffallend gedankenlosen Capuzmadeu<lb/>
Haller's finden sich einzelne richtige Einfälle. Es war nur zu natürlich, daß bei<lb/>
der Reaction, die eine so wüste Richtung nothwendig hervorrufen mußte, auch<lb/>
das Gute und Positive verkannt wurde, und dieses Verkennen ist die Schuld<lb/>
jenes erneuten Rationalismus, als dessen Hauptträger man Ruge bezeichnen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_457"> Seine Stellung in Halle war geeignet, ihm die Gegensätze der Zeit in le¬<lb/>
bendiger persönlicher Berührung zu vermitteln.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_458"> Der erste Einfluß, den dieselbe auf seine Bildung hatte, war die Bekehrung<lb/>
zur Hegel'schen Philosophie. Sie war damals in Preußen Staatsphilosophie,<lb/>
denn man hatte es gern gesehen, daß von einem scharfen Denker die bisher mit<lb/>
großer Geringschätzung angesehene Wirklichkeit, daß die Kirche mit ihren Dogmen<lb/>
und der Staat mit seinen Einrichtungen als vernünftig rehabilitirt wurde, und<lb/>
daß man die Gotteslästerer und Demagogen, die man bisher nur als schlechte<lb/>
Menschen verfolgt hatte, nun auch als flache Köpfe verspotten konnte. Aber schon<lb/>
damals merkte man, daß diese Philosophie ein zweischneidiges Schwert sei. Nicht<lb/>
allein, daß Hegel in seinem polyhistorischen System neben der legitimen Wirklich¬<lb/>
keit auch die vom Staat und von der Kirche nicht anerkannte Wirklichkeit mit<lb/>
ausgenommen hatte, er war beiden vorzugsweise dadurch schädlich geworden, daß<lb/>
er ihren Gegnern ein leichtes Mittel an die Hand gegeben hatte, was in ihnen<lb/>
&#x201E;vernünftig" war, mit leichter Mühe zu erfassen, und es gegen sie selber anzuwen¬<lb/>
den. Die junge Schule wußte, daß dies und jenes in der Kirche vernünftig war,<lb/>
was die Kirche selbst nicht wußte, und darum war sie der letztem überleben; sie<lb/>
konnte sie belehren, ihr Rath ertheilen, und zwar mit größeren Selbstgefühl, als<lb/>
die frühere Aufklärung, die sich trotz ihrer heftigen Angriffe mit einer gewissen<lb/>
Bescheidenheit draußen gehalten hatte. Der neue Liberalismus trat als Einge¬<lb/>
weihter aus, er sprach gegen den bestehenden Staat und die bestehende Kirche im<lb/>
Namen des wirklichen Staats und der wirklichen Kirche; er widerlegte den historischen<lb/>
Christus durch deu wirklichen historischen Christus; er griff Preußen im Namen<lb/>
Preußens an. Diese bisher ungeahnte Seite der Hegel'schen Philosophie wurde<lb/>
bald populair, durch Gans in den Berliner Salons, durch Strauß im allgemeinen<lb/>
Deutschen Publicum.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_459" next="#ID_460"> Von dieser Seite ist Rüge die Philosophie zugänglich geworden. Sie gab<lb/>
dem Liberalismus einen gewissen Inhalt, und blieb doch so im Allgemeinen, daß<lb/>
Mau sich das ermüdende Detailstudium ersparen konnte. Die Philosophie wurde<lb/>
die Waffe, durch welche er seinen frühern Inhalt, die burschenschastliche Romantik,<lb/>
bei sich und Andern widerlegte. Die alten Burschenschafter hatten sich damals<lb/>
Zum großen Theil in das Bestehende gefügt.  Schon fand man sie in höhern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0175] Die historische Schule wirkte um so schädlicher, da sie in einzelnen Punkten unzweifelhaft Recht hatte, da der Mechanismus des aufgeklärten Staates zuletzt zu einer Pulverisirung der historischen Eigenthümlichkeiten führen mußte, die jeden fruchtbaren Keim zerwühlte. Selbst in den auffallend gedankenlosen Capuzmadeu Haller's finden sich einzelne richtige Einfälle. Es war nur zu natürlich, daß bei der Reaction, die eine so wüste Richtung nothwendig hervorrufen mußte, auch das Gute und Positive verkannt wurde, und dieses Verkennen ist die Schuld jenes erneuten Rationalismus, als dessen Hauptträger man Ruge bezeichnen kann. Seine Stellung in Halle war geeignet, ihm die Gegensätze der Zeit in le¬ bendiger persönlicher Berührung zu vermitteln. Der erste Einfluß, den dieselbe auf seine Bildung hatte, war die Bekehrung zur Hegel'schen Philosophie. Sie war damals in Preußen Staatsphilosophie, denn man hatte es gern gesehen, daß von einem scharfen Denker die bisher mit großer Geringschätzung angesehene Wirklichkeit, daß die Kirche mit ihren Dogmen und der Staat mit seinen Einrichtungen als vernünftig rehabilitirt wurde, und daß man die Gotteslästerer und Demagogen, die man bisher nur als schlechte Menschen verfolgt hatte, nun auch als flache Köpfe verspotten konnte. Aber schon damals merkte man, daß diese Philosophie ein zweischneidiges Schwert sei. Nicht allein, daß Hegel in seinem polyhistorischen System neben der legitimen Wirklich¬ keit auch die vom Staat und von der Kirche nicht anerkannte Wirklichkeit mit ausgenommen hatte, er war beiden vorzugsweise dadurch schädlich geworden, daß er ihren Gegnern ein leichtes Mittel an die Hand gegeben hatte, was in ihnen „vernünftig" war, mit leichter Mühe zu erfassen, und es gegen sie selber anzuwen¬ den. Die junge Schule wußte, daß dies und jenes in der Kirche vernünftig war, was die Kirche selbst nicht wußte, und darum war sie der letztem überleben; sie konnte sie belehren, ihr Rath ertheilen, und zwar mit größeren Selbstgefühl, als die frühere Aufklärung, die sich trotz ihrer heftigen Angriffe mit einer gewissen Bescheidenheit draußen gehalten hatte. Der neue Liberalismus trat als Einge¬ weihter aus, er sprach gegen den bestehenden Staat und die bestehende Kirche im Namen des wirklichen Staats und der wirklichen Kirche; er widerlegte den historischen Christus durch deu wirklichen historischen Christus; er griff Preußen im Namen Preußens an. Diese bisher ungeahnte Seite der Hegel'schen Philosophie wurde bald populair, durch Gans in den Berliner Salons, durch Strauß im allgemeinen Deutschen Publicum. Von dieser Seite ist Rüge die Philosophie zugänglich geworden. Sie gab dem Liberalismus einen gewissen Inhalt, und blieb doch so im Allgemeinen, daß Mau sich das ermüdende Detailstudium ersparen konnte. Die Philosophie wurde die Waffe, durch welche er seinen frühern Inhalt, die burschenschastliche Romantik, bei sich und Andern widerlegte. Die alten Burschenschafter hatten sich damals Zum großen Theil in das Bestehende gefügt. Schon fand man sie in höhern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/175
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/175>, abgerufen am 02.07.2024.