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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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aber schon im Leben höchst widerwärtig ist, so wird es aus der Bühne vollends
unerträglich. Zum Wesen der dichterischen Thätigkeit gehört eine gesteigerte
Phantasie, ein gesteigerter Beifallstrieb, eine Versenkung in den Schein. Diese
Eigenschaften sind im Leben keineswegs erfreulich, wenn sie nicht durch eine vollendete
anderweitige Bildung und durch Freiheit des Geistes gehoben werden. Aus der
gesteigerten Phantasie wird Reizbarkeit, Argwohn u. tgi.; aus dem Beifallstriebe
Eitelkeit und Neid, aus dem Scheinleben Lüge. Die Darstellung verirrt sich
also nach zwei Richtungen hin; entweder wird der Dichter in Beziehung auf
den Hauptgegenstand wie ein anderer Mensch dargestellt, und nebenbei seine künst¬
lerische Bedeutung referirt, was ein Verstoß ist gegen die Einheit der Handlung
und des Charakters; oder die Art und Weise seines Empfindens nud Handelns,
so wie die Motive desselben, werden aus seiner dichterischen Eigenthümlichkeit
abgeleitet, und dann ist es ein ungesundes Treiben, welches nur die Kuriosität,
nicht die allgemein menschliche Theilnahme erregt, denn es ist ein abnormer,
erst durch Reflexion nachzufühlender Zustand. -- Uebrigens sind es gerade die
Franzosen, welche in neuester Zeit dieses Genre ausgebildet haben. Alfred de
Viguv'ö "Chatterton" wurde im Februar ausgeführt, und enthielt eigentlich
nur ein Fragment aus dem früher" "Stello" desselben Dichters, in welchem eine
Reihe leidender Dichter, die von der Mitwelt verkannt wurden, zu einer nach¬
trägliche" Apotheose gelangte". Wir kommen ein andermal darauf zurück. Was
Moliare betrifft, so ist seine dichterische Eigenthümlichkeit eigentlich "ur Costum.
S^in Verhältniß zu Armande wird nicht durch seine poetische Natur bedingt,
sondern nur durch seine äußere Stellung im Lebe" modificirt. Nur insofern wer¬
den wir auf sein Dichten geleitet, als in dem Stück, abgesehen von der histo¬
rischen Tradition, der Versuch gemacht ist, einen Charakter zu schildern, der bei
seiner komischen Richtung ein Stück wie den "Misauthrope" schreiben konnte.
Dieses in der That wunderbare Problem ist mit viel Sinnigkeit und Verstand
gelöst. Während im ,,Misanthrope" die Liebe eines tugendhaften Menschen zu
einer herzlosen Coquette nnr einfach als Erscheinung hingestellt wird, die wir hin¬
nehmen müssen, ohne sie zu begreife", sticht uns Georges Sand das Verhältniß,
wenn nicht zu motiviren, doch wenigstens im Detail auseinanderzusetzen. Sie
ist damit ans ein Thema zurückgekommen, welches von den Neufrauzvsen mit
besonderer Vorliebe behandelt wird, das Thema der Nanon I.sso^ni.

Uebrigens enthält das Drama, obgleich es im Ganze" verfehlt ist, eüizelne
so feine und ansprechende Züge, daß es auch ein Deutsches Lesepublicum interes-
siren muß, welches sich nicht gerade durch die Einzelnheiten aus dem Leben
Mvlikre'ö getroffen sühlt, und von der Schnelligkeit eines Theatervirtuosen im
Costumire" nud Schminken nicht gerade besonders erbaut sein wird.


aber schon im Leben höchst widerwärtig ist, so wird es aus der Bühne vollends
unerträglich. Zum Wesen der dichterischen Thätigkeit gehört eine gesteigerte
Phantasie, ein gesteigerter Beifallstrieb, eine Versenkung in den Schein. Diese
Eigenschaften sind im Leben keineswegs erfreulich, wenn sie nicht durch eine vollendete
anderweitige Bildung und durch Freiheit des Geistes gehoben werden. Aus der
gesteigerten Phantasie wird Reizbarkeit, Argwohn u. tgi.; aus dem Beifallstriebe
Eitelkeit und Neid, aus dem Scheinleben Lüge. Die Darstellung verirrt sich
also nach zwei Richtungen hin; entweder wird der Dichter in Beziehung auf
den Hauptgegenstand wie ein anderer Mensch dargestellt, und nebenbei seine künst¬
lerische Bedeutung referirt, was ein Verstoß ist gegen die Einheit der Handlung
und des Charakters; oder die Art und Weise seines Empfindens nud Handelns,
so wie die Motive desselben, werden aus seiner dichterischen Eigenthümlichkeit
abgeleitet, und dann ist es ein ungesundes Treiben, welches nur die Kuriosität,
nicht die allgemein menschliche Theilnahme erregt, denn es ist ein abnormer,
erst durch Reflexion nachzufühlender Zustand. — Uebrigens sind es gerade die
Franzosen, welche in neuester Zeit dieses Genre ausgebildet haben. Alfred de
Viguv'ö „Chatterton" wurde im Februar ausgeführt, und enthielt eigentlich
nur ein Fragment aus dem früher» „Stello" desselben Dichters, in welchem eine
Reihe leidender Dichter, die von der Mitwelt verkannt wurden, zu einer nach¬
trägliche» Apotheose gelangte». Wir kommen ein andermal darauf zurück. Was
Moliare betrifft, so ist seine dichterische Eigenthümlichkeit eigentlich »ur Costum.
S^in Verhältniß zu Armande wird nicht durch seine poetische Natur bedingt,
sondern nur durch seine äußere Stellung im Lebe» modificirt. Nur insofern wer¬
den wir auf sein Dichten geleitet, als in dem Stück, abgesehen von der histo¬
rischen Tradition, der Versuch gemacht ist, einen Charakter zu schildern, der bei
seiner komischen Richtung ein Stück wie den „Misauthrope" schreiben konnte.
Dieses in der That wunderbare Problem ist mit viel Sinnigkeit und Verstand
gelöst. Während im ,,Misanthrope" die Liebe eines tugendhaften Menschen zu
einer herzlosen Coquette nnr einfach als Erscheinung hingestellt wird, die wir hin¬
nehmen müssen, ohne sie zu begreife», sticht uns Georges Sand das Verhältniß,
wenn nicht zu motiviren, doch wenigstens im Detail auseinanderzusetzen. Sie
ist damit ans ein Thema zurückgekommen, welches von den Neufrauzvsen mit
besonderer Vorliebe behandelt wird, das Thema der Nanon I.sso^ni.

Uebrigens enthält das Drama, obgleich es im Ganze» verfehlt ist, eüizelne
so feine und ansprechende Züge, daß es auch ein Deutsches Lesepublicum interes-
siren muß, welches sich nicht gerade durch die Einzelnheiten aus dem Leben
Mvlikre'ö getroffen sühlt, und von der Schnelligkeit eines Theatervirtuosen im
Costumire» nud Schminken nicht gerade besonders erbaut sein wird.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/135>, abgerufen am 02.07.2024.