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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Denkweise die Sache erledigt. -- Abgesehen von diesen Ausstellungen, ist das
Stück in jeder Weise zu loben. Clandie selbst ist ein starkes Weib, welches nicht
blos durch die Passivität ihres Schicksals, sondern durch den starken Willen, den
sie demselben entgegenbringt, unsre Theilnahme in Anspruch nimmt, und die
Rührung, in welche wir versetzt werden, hat niemals einen weichlichen, weiner¬
lichen Charakter; sie erhebt uns, indem sie uns beugt.

Aus dieser wenigstens der Anlage nach realen Welt ist Georges Sand in
ihrem neuesten Stück wieder herausgetreten. Schon in äußerlicher Beziehung
hat sie es sich leicht gemacht. "Mvliöre" zerfällt in vier Acte, die jedesmal
einen Zwischenraum von etwa zehn Jahren voraussetzen; es sind daher vier ge^
trennte Gemälde, die nicht in ruhiger Continuität fortgehen, sondern nur durch
die Hauptpersonen zusammengehalten werden. In dem ersten Act tritt Moliore
als rüstiger junger Mann ans, im letzten stirbt er. Armande ist im ersten Act
ein -Ilijährigcs Mädchen, im letzten ist ihr Kind beinahe in dem gleichen Alter.
Diese Leichtfertigkeit in Beziehung auf die dramatische Einheit, die bei den jetzi¬
gen Franzosen durch die freien Formen des Vaudeville, des Prvverbe und des
Mysteriendrama's sehr begünstigt wird, und die Georges Sand auch in ihrem
frühern Prvverbe: "die Missistppier" angewendet hat, halte ich für unbedingt
verwerflich. Das Gesetz der sogenannten Aristotelischen drei Einheiten ist ein
vollkommen richtiges, wenn es nur nicht materiell, sondern geistig gefaßt wird.
Einen wie großen Zeitraum das Gegenbild der dramatischen Action, die wirkliche
Handlung in Anspruch nehmen würde, wenn wir sie mit der Uhr in der Hand
verfolgten, das geht weder den Dichter noch das Publicum Etwas an, wenn wir
nur nicht daran erinnert werden. So ist z. B. im Othello durch Rechnungen
nachzuweisen, daß die Geschichte wenigstens ein Jahr umfassen muß; aber wir
merken Nichts davon, wir schweben in der Illusion einer ununterbrochene" Kon¬
tinuität, und das genügt für den dramatischen Zweck vollkommen. Der Bruch
dieses Gesetzes führt nicht allein eine nutünstlcrische Leichtfertigkeit in der Be-
Handlung der Scenen mit sich, soudern er bringt auch etwas Skizzenhaftes in die
Charaktere, die wir nur dann vollständig verstehen, wenn wir sie in ununter¬
brochener Continuität vor uus haben. In unserm Stück ist jeder folgende Act
eine neue Auflage des vorigen. Nicht allein die Menschen sind trotz ihres ver¬
änderten Cvstums, ihrer neuen Schminke und Perrücke, in allen Acten genau die
nämlichen, sondern anch ihr Verhältniß zu einander, und mau begreift nicht,
warum wir die nämliche Spannung, die sich nicht steigert, sondern die mir durch
ihre beständige Wiederholung den Helden endlich umbringt, viermal hinter ein¬
ander mit ansehen sollen. In allen vier Acten ist Armande das kalte, herzlose,
frivole und berechnende Weib, Madeleine die hingebende, liebende, aufopfernde
Freundin, Mvliöre der Liebende, der durch die Herzlosigkeitseiner Geliebten Gekränkte.
Auch die Nebenstgureu sind stereotyp, und gehören übrigens fast blos zum Costum.


Denkweise die Sache erledigt. — Abgesehen von diesen Ausstellungen, ist das
Stück in jeder Weise zu loben. Clandie selbst ist ein starkes Weib, welches nicht
blos durch die Passivität ihres Schicksals, sondern durch den starken Willen, den
sie demselben entgegenbringt, unsre Theilnahme in Anspruch nimmt, und die
Rührung, in welche wir versetzt werden, hat niemals einen weichlichen, weiner¬
lichen Charakter; sie erhebt uns, indem sie uns beugt.

Aus dieser wenigstens der Anlage nach realen Welt ist Georges Sand in
ihrem neuesten Stück wieder herausgetreten. Schon in äußerlicher Beziehung
hat sie es sich leicht gemacht. „Mvliöre" zerfällt in vier Acte, die jedesmal
einen Zwischenraum von etwa zehn Jahren voraussetzen; es sind daher vier ge^
trennte Gemälde, die nicht in ruhiger Continuität fortgehen, sondern nur durch
die Hauptpersonen zusammengehalten werden. In dem ersten Act tritt Moliore
als rüstiger junger Mann ans, im letzten stirbt er. Armande ist im ersten Act
ein -Ilijährigcs Mädchen, im letzten ist ihr Kind beinahe in dem gleichen Alter.
Diese Leichtfertigkeit in Beziehung auf die dramatische Einheit, die bei den jetzi¬
gen Franzosen durch die freien Formen des Vaudeville, des Prvverbe und des
Mysteriendrama's sehr begünstigt wird, und die Georges Sand auch in ihrem
frühern Prvverbe: „die Missistppier" angewendet hat, halte ich für unbedingt
verwerflich. Das Gesetz der sogenannten Aristotelischen drei Einheiten ist ein
vollkommen richtiges, wenn es nur nicht materiell, sondern geistig gefaßt wird.
Einen wie großen Zeitraum das Gegenbild der dramatischen Action, die wirkliche
Handlung in Anspruch nehmen würde, wenn wir sie mit der Uhr in der Hand
verfolgten, das geht weder den Dichter noch das Publicum Etwas an, wenn wir
nur nicht daran erinnert werden. So ist z. B. im Othello durch Rechnungen
nachzuweisen, daß die Geschichte wenigstens ein Jahr umfassen muß; aber wir
merken Nichts davon, wir schweben in der Illusion einer ununterbrochene» Kon¬
tinuität, und das genügt für den dramatischen Zweck vollkommen. Der Bruch
dieses Gesetzes führt nicht allein eine nutünstlcrische Leichtfertigkeit in der Be-
Handlung der Scenen mit sich, soudern er bringt auch etwas Skizzenhaftes in die
Charaktere, die wir nur dann vollständig verstehen, wenn wir sie in ununter¬
brochener Continuität vor uus haben. In unserm Stück ist jeder folgende Act
eine neue Auflage des vorigen. Nicht allein die Menschen sind trotz ihres ver¬
änderten Cvstums, ihrer neuen Schminke und Perrücke, in allen Acten genau die
nämlichen, sondern anch ihr Verhältniß zu einander, und mau begreift nicht,
warum wir die nämliche Spannung, die sich nicht steigert, sondern die mir durch
ihre beständige Wiederholung den Helden endlich umbringt, viermal hinter ein¬
ander mit ansehen sollen. In allen vier Acten ist Armande das kalte, herzlose,
frivole und berechnende Weib, Madeleine die hingebende, liebende, aufopfernde
Freundin, Mvliöre der Liebende, der durch die Herzlosigkeitseiner Geliebten Gekränkte.
Auch die Nebenstgureu sind stereotyp, und gehören übrigens fast blos zum Costum.


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[0133] Denkweise die Sache erledigt. — Abgesehen von diesen Ausstellungen, ist das Stück in jeder Weise zu loben. Clandie selbst ist ein starkes Weib, welches nicht blos durch die Passivität ihres Schicksals, sondern durch den starken Willen, den sie demselben entgegenbringt, unsre Theilnahme in Anspruch nimmt, und die Rührung, in welche wir versetzt werden, hat niemals einen weichlichen, weiner¬ lichen Charakter; sie erhebt uns, indem sie uns beugt. Aus dieser wenigstens der Anlage nach realen Welt ist Georges Sand in ihrem neuesten Stück wieder herausgetreten. Schon in äußerlicher Beziehung hat sie es sich leicht gemacht. „Mvliöre" zerfällt in vier Acte, die jedesmal einen Zwischenraum von etwa zehn Jahren voraussetzen; es sind daher vier ge^ trennte Gemälde, die nicht in ruhiger Continuität fortgehen, sondern nur durch die Hauptpersonen zusammengehalten werden. In dem ersten Act tritt Moliore als rüstiger junger Mann ans, im letzten stirbt er. Armande ist im ersten Act ein -Ilijährigcs Mädchen, im letzten ist ihr Kind beinahe in dem gleichen Alter. Diese Leichtfertigkeit in Beziehung auf die dramatische Einheit, die bei den jetzi¬ gen Franzosen durch die freien Formen des Vaudeville, des Prvverbe und des Mysteriendrama's sehr begünstigt wird, und die Georges Sand auch in ihrem frühern Prvverbe: „die Missistppier" angewendet hat, halte ich für unbedingt verwerflich. Das Gesetz der sogenannten Aristotelischen drei Einheiten ist ein vollkommen richtiges, wenn es nur nicht materiell, sondern geistig gefaßt wird. Einen wie großen Zeitraum das Gegenbild der dramatischen Action, die wirkliche Handlung in Anspruch nehmen würde, wenn wir sie mit der Uhr in der Hand verfolgten, das geht weder den Dichter noch das Publicum Etwas an, wenn wir nur nicht daran erinnert werden. So ist z. B. im Othello durch Rechnungen nachzuweisen, daß die Geschichte wenigstens ein Jahr umfassen muß; aber wir merken Nichts davon, wir schweben in der Illusion einer ununterbrochene» Kon¬ tinuität, und das genügt für den dramatischen Zweck vollkommen. Der Bruch dieses Gesetzes führt nicht allein eine nutünstlcrische Leichtfertigkeit in der Be- Handlung der Scenen mit sich, soudern er bringt auch etwas Skizzenhaftes in die Charaktere, die wir nur dann vollständig verstehen, wenn wir sie in ununter¬ brochener Continuität vor uus haben. In unserm Stück ist jeder folgende Act eine neue Auflage des vorigen. Nicht allein die Menschen sind trotz ihres ver¬ änderten Cvstums, ihrer neuen Schminke und Perrücke, in allen Acten genau die nämlichen, sondern anch ihr Verhältniß zu einander, und mau begreift nicht, warum wir die nämliche Spannung, die sich nicht steigert, sondern die mir durch ihre beständige Wiederholung den Helden endlich umbringt, viermal hinter ein¬ ander mit ansehen sollen. In allen vier Acten ist Armande das kalte, herzlose, frivole und berechnende Weib, Madeleine die hingebende, liebende, aufopfernde Freundin, Mvliöre der Liebende, der durch die Herzlosigkeitseiner Geliebten Gekränkte. Auch die Nebenstgureu sind stereotyp, und gehören übrigens fast blos zum Costum.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/133>, abgerufen am 02.07.2024.