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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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Thatsache darf sich die Kritik nicht sträuben. Zur Theil fand die gerechte Ab¬
neigung gegen das bürgerliche Drama ihren Grund darin, daß man seine Theil¬
nahme an triviale Charaktere, seine Rührung an alltägliche Ereignisse ver¬
schwenden mußte, daß die Sentimentalität an Stelle der wahren Empfindung
trat. Wie es manchem Prediger zu gehen pflegt, wurden in den meisten Jffland'schen
Stücken die handelnden Personen und der Autor früher zu Thränen gebracht,
als das Publicum. Das ist hier nicht der Fall. Es handelt sich um ein sehr
ernstes Problem, um eine sittliche Frage, welche die Möglichkeit eines tragischen
Conflicts in der psychologischen, nicht in der criminalistischen Entscheidung herbei¬
führt, und uns daher durch den günstigen Ausfall erhebt; es handelt sich nicht
blos um scheinbaren Widerstand, wie bei unsern Deutschen polternden Alten,
nicht blos um die Beseitigung unglückseliger Mißverständnisse, um die Entlarvung
eines schurkischeu Intriganten und dergleichen, sondern es stehen sich zwei sittliche
Weltanschauungen gegenüber, die ihre volle Berechtigung in sich tragen. Kann
ein gefallenes Mädchen, welches nur durch zu große Liebe und durch zu großes
Vertrauen verführt ist, in der öffentlichen Meinung rehabilitirt werden? und, was
unmittelbar damit zusammenhängt: kann es noch einmal eine wirkliche, edle
Liebe finden, die von der Achtung nicht zu trennen ist? Die Frage kann vom
allgemein menschlichen Standpunkt nicht gelöst werden; sie richtet sich nach den
sittlichen Grundbegriffen der Gesellschaft, in welcher sie zum Austrag gebracht
wird. Unser persönliches Urtheil kann darüber nicht entscheiden. Vor Gott,
vor dem Richterstuhl der uneingeschränkten Verminst kann die Gefallene rein da¬
stehen wie ein Engel, das hilft ihr Nichts für diese Welt, in welcher die Schuld
uicht blos einen geistigen Gehalt hat, sondern sich mit dem Bleigewicht der That¬
sache an die Fersen der Unglücklichen heftet. Hier hat es Georges Sand aller¬
dings etwas leicht genommen. Der Widerstand der sittlichen Voraussetzung,
welcher bei dem harten, eigensinnigen Bauernvolk viel zäher und viel schwerer zu
überwinden ist, als bei den weichern, reflectirten Städtern, wird doch gar zu
leicht beseitigt. Der Dichter setzt voraus, was er erst beweisen soll. In einer
Welt, die wenigstens annäherungsweise aus vvrnrtheils- und voraussetzungslosen
Menschen besteht, giebt es kein Drama mehr, denn das Wesen des Drama's
liegt in dem Conflict zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht. Aus
dieser leichten Behandlung des sittlichen Widerstandes geht es hervor, daß mehr¬
mals das Motiv ein melodramatisches wird. Nicht ein neues psychisches Moment,
welches in der Individualität der Betheiligten beruhte, sondern eine Art von
erbaulicher Stimmung vermittelt die veränderte Situation. Der alte Bauer Nenn,
der Prophet des neuen Evangeliums, ist trotz seiner schönen und würdigen Er¬
scheinung eine blos melodramatische Figur, ein clous nix maelümr, der zwar nicht
durch einen blos äußerlichen Machtspruch, wie die Götter der alten Tragödie,
aber doch durch eine außerhalb der wirklichen kleinen Weit der Handlung liegende


Thatsache darf sich die Kritik nicht sträuben. Zur Theil fand die gerechte Ab¬
neigung gegen das bürgerliche Drama ihren Grund darin, daß man seine Theil¬
nahme an triviale Charaktere, seine Rührung an alltägliche Ereignisse ver¬
schwenden mußte, daß die Sentimentalität an Stelle der wahren Empfindung
trat. Wie es manchem Prediger zu gehen pflegt, wurden in den meisten Jffland'schen
Stücken die handelnden Personen und der Autor früher zu Thränen gebracht,
als das Publicum. Das ist hier nicht der Fall. Es handelt sich um ein sehr
ernstes Problem, um eine sittliche Frage, welche die Möglichkeit eines tragischen
Conflicts in der psychologischen, nicht in der criminalistischen Entscheidung herbei¬
führt, und uns daher durch den günstigen Ausfall erhebt; es handelt sich nicht
blos um scheinbaren Widerstand, wie bei unsern Deutschen polternden Alten,
nicht blos um die Beseitigung unglückseliger Mißverständnisse, um die Entlarvung
eines schurkischeu Intriganten und dergleichen, sondern es stehen sich zwei sittliche
Weltanschauungen gegenüber, die ihre volle Berechtigung in sich tragen. Kann
ein gefallenes Mädchen, welches nur durch zu große Liebe und durch zu großes
Vertrauen verführt ist, in der öffentlichen Meinung rehabilitirt werden? und, was
unmittelbar damit zusammenhängt: kann es noch einmal eine wirkliche, edle
Liebe finden, die von der Achtung nicht zu trennen ist? Die Frage kann vom
allgemein menschlichen Standpunkt nicht gelöst werden; sie richtet sich nach den
sittlichen Grundbegriffen der Gesellschaft, in welcher sie zum Austrag gebracht
wird. Unser persönliches Urtheil kann darüber nicht entscheiden. Vor Gott,
vor dem Richterstuhl der uneingeschränkten Verminst kann die Gefallene rein da¬
stehen wie ein Engel, das hilft ihr Nichts für diese Welt, in welcher die Schuld
uicht blos einen geistigen Gehalt hat, sondern sich mit dem Bleigewicht der That¬
sache an die Fersen der Unglücklichen heftet. Hier hat es Georges Sand aller¬
dings etwas leicht genommen. Der Widerstand der sittlichen Voraussetzung,
welcher bei dem harten, eigensinnigen Bauernvolk viel zäher und viel schwerer zu
überwinden ist, als bei den weichern, reflectirten Städtern, wird doch gar zu
leicht beseitigt. Der Dichter setzt voraus, was er erst beweisen soll. In einer
Welt, die wenigstens annäherungsweise aus vvrnrtheils- und voraussetzungslosen
Menschen besteht, giebt es kein Drama mehr, denn das Wesen des Drama's
liegt in dem Conflict zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht. Aus
dieser leichten Behandlung des sittlichen Widerstandes geht es hervor, daß mehr¬
mals das Motiv ein melodramatisches wird. Nicht ein neues psychisches Moment,
welches in der Individualität der Betheiligten beruhte, sondern eine Art von
erbaulicher Stimmung vermittelt die veränderte Situation. Der alte Bauer Nenn,
der Prophet des neuen Evangeliums, ist trotz seiner schönen und würdigen Er¬
scheinung eine blos melodramatische Figur, ein clous nix maelümr, der zwar nicht
durch einen blos äußerlichen Machtspruch, wie die Götter der alten Tragödie,
aber doch durch eine außerhalb der wirklichen kleinen Weit der Handlung liegende


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[0132] Thatsache darf sich die Kritik nicht sträuben. Zur Theil fand die gerechte Ab¬ neigung gegen das bürgerliche Drama ihren Grund darin, daß man seine Theil¬ nahme an triviale Charaktere, seine Rührung an alltägliche Ereignisse ver¬ schwenden mußte, daß die Sentimentalität an Stelle der wahren Empfindung trat. Wie es manchem Prediger zu gehen pflegt, wurden in den meisten Jffland'schen Stücken die handelnden Personen und der Autor früher zu Thränen gebracht, als das Publicum. Das ist hier nicht der Fall. Es handelt sich um ein sehr ernstes Problem, um eine sittliche Frage, welche die Möglichkeit eines tragischen Conflicts in der psychologischen, nicht in der criminalistischen Entscheidung herbei¬ führt, und uns daher durch den günstigen Ausfall erhebt; es handelt sich nicht blos um scheinbaren Widerstand, wie bei unsern Deutschen polternden Alten, nicht blos um die Beseitigung unglückseliger Mißverständnisse, um die Entlarvung eines schurkischeu Intriganten und dergleichen, sondern es stehen sich zwei sittliche Weltanschauungen gegenüber, die ihre volle Berechtigung in sich tragen. Kann ein gefallenes Mädchen, welches nur durch zu große Liebe und durch zu großes Vertrauen verführt ist, in der öffentlichen Meinung rehabilitirt werden? und, was unmittelbar damit zusammenhängt: kann es noch einmal eine wirkliche, edle Liebe finden, die von der Achtung nicht zu trennen ist? Die Frage kann vom allgemein menschlichen Standpunkt nicht gelöst werden; sie richtet sich nach den sittlichen Grundbegriffen der Gesellschaft, in welcher sie zum Austrag gebracht wird. Unser persönliches Urtheil kann darüber nicht entscheiden. Vor Gott, vor dem Richterstuhl der uneingeschränkten Verminst kann die Gefallene rein da¬ stehen wie ein Engel, das hilft ihr Nichts für diese Welt, in welcher die Schuld uicht blos einen geistigen Gehalt hat, sondern sich mit dem Bleigewicht der That¬ sache an die Fersen der Unglücklichen heftet. Hier hat es Georges Sand aller¬ dings etwas leicht genommen. Der Widerstand der sittlichen Voraussetzung, welcher bei dem harten, eigensinnigen Bauernvolk viel zäher und viel schwerer zu überwinden ist, als bei den weichern, reflectirten Städtern, wird doch gar zu leicht beseitigt. Der Dichter setzt voraus, was er erst beweisen soll. In einer Welt, die wenigstens annäherungsweise aus vvrnrtheils- und voraussetzungslosen Menschen besteht, giebt es kein Drama mehr, denn das Wesen des Drama's liegt in dem Conflict zwischen dem göttlichen und dem menschlichen Recht. Aus dieser leichten Behandlung des sittlichen Widerstandes geht es hervor, daß mehr¬ mals das Motiv ein melodramatisches wird. Nicht ein neues psychisches Moment, welches in der Individualität der Betheiligten beruhte, sondern eine Art von erbaulicher Stimmung vermittelt die veränderte Situation. Der alte Bauer Nenn, der Prophet des neuen Evangeliums, ist trotz seiner schönen und würdigen Er¬ scheinung eine blos melodramatische Figur, ein clous nix maelümr, der zwar nicht durch einen blos äußerlichen Machtspruch, wie die Götter der alten Tragödie, aber doch durch eine außerhalb der wirklichen kleinen Weit der Handlung liegende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/132>, abgerufen am 02.07.2024.