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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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sein können, wie sehr sie mich in der Art, zu denken und zu empfinden, von
uns abweichen. ES sind nicht Geßner'sche, sondern Theokritische Idyllen, und
wir müssen sie znerst in ihrer vollen, überraschenden Naturwahrheit erfassen, in
ihrer beschränkten energischen Sittlichkeit, ehe uns die höhere ideale Sittlichkeit
des Dichters daraus vermittelt wird. Mit dem Bauerncostum, den Provinzia¬
lismen, dem durchaus naturwüchsigen, einfachen und durchsichtigen Ausdruck und
den endliche" Beschäftigungen des kleinen Lebens ist uns bereits eine ganze Welt
von Vorstellungen octroyirt, über die wir nicht weiter zu reflectiren brauchen; wir
sind in dieser Welt vollständig zu Hanse, und können ruhig abwarten, was die
Ereignisse daraus machen werden.

Das erste dieser beiden Stücke ist in dramatischer Beziehung als verfehlt zu
betrachten. Es war der Versuch, eine kleine liebliche Idylle, die allgemein an¬
gesprochen hatte, auf die Bühne zu bringen. Ein solcher Versuch kaun nur
unter den seltensten Umständen gelingen. In unserm Fall mußte gerade Dasjenige,
was den eigentlichen Reiz der Idylle ausgemacht hatte, das bis ins kleinste De¬
tail geschilderte Jugendleben deö armen Bauernburschen und die zarte, allmählich
aufkeimende Neigung zu einer ältern Frau, weggelassen werden, und es blieb
Nichts übrig, als die Katastrophe, die aber nur dann von Interesse sein konnte,
wenn wir über die vorausgehenden Umstände genau unterrichtet und mit den
Eigenthümlichkeiten der betheiligten Personen vollkommen vertraut waren. Es
geht wol an, nachträglich die bedingenden Ereignisse durch Referate in dem
Schlußact so anzudeuten, daß, ohne die gegenwärtige Handlung zu stören, das
zum Verständniß derselben Nöthige gegeben wird; allein es ist schlechterdings
unmöglich, wenn diese Antecedentien sich ans die innere geheime Welt der Empfin¬
dung beziehen. Eine zarte, aufkeimende Neigung, ein durch lange Gewohnheit
begründetes, durch tausend gemüthliche Verzweigungen befestigtes Verhältniß ver¬
langt eine größere Breite in der Zeit, es gehört daher in die Novelle, nicht
auf's Theater. Diese Uebelstände vorausgesetzt, hat Georges Sand das Mög¬
liche geleistet. Die Handlung kann uns zwar nicht fortreißen, aber sie erweckt
doch unsre Theilnahme, weil wir uns an den jungfräulich naiven Figuren von
der Abgcspanntheit und dem wüsten, Wesen unsrer gewöhnlichen Theatervorstel¬
lungen erholen.

Die "Clandie" dagegen ist ein vollständig ausgearbeitetes kleines bürger¬
liches oder vielmehr bäuerliches Drama, nach allen Gesetzen der Kunst bearbeitet,
wenn man auch in manchen Punkten gegen die Anordnung der Scenen, nament¬
lich in der Exposition, mit der Dichterin rechten möchte. Das Genre selbst ist
den nämlichen Bedenken unterworfen, wie das frühere Diderot-Jffland'sche. Es
ist die Frage, ob die Rührung überhaupt der Zweck des Drama'S sein kann,
ob zwischen der Tragödie, welche uns erschüttern, und dem Lustspiel, welches
uns erheitern soll, eine Mittelgattung gestattet ist; allein gegen eine vollendete


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sein können, wie sehr sie mich in der Art, zu denken und zu empfinden, von
uns abweichen. ES sind nicht Geßner'sche, sondern Theokritische Idyllen, und
wir müssen sie znerst in ihrer vollen, überraschenden Naturwahrheit erfassen, in
ihrer beschränkten energischen Sittlichkeit, ehe uns die höhere ideale Sittlichkeit
des Dichters daraus vermittelt wird. Mit dem Bauerncostum, den Provinzia¬
lismen, dem durchaus naturwüchsigen, einfachen und durchsichtigen Ausdruck und
den endliche» Beschäftigungen des kleinen Lebens ist uns bereits eine ganze Welt
von Vorstellungen octroyirt, über die wir nicht weiter zu reflectiren brauchen; wir
sind in dieser Welt vollständig zu Hanse, und können ruhig abwarten, was die
Ereignisse daraus machen werden.

Das erste dieser beiden Stücke ist in dramatischer Beziehung als verfehlt zu
betrachten. Es war der Versuch, eine kleine liebliche Idylle, die allgemein an¬
gesprochen hatte, auf die Bühne zu bringen. Ein solcher Versuch kaun nur
unter den seltensten Umständen gelingen. In unserm Fall mußte gerade Dasjenige,
was den eigentlichen Reiz der Idylle ausgemacht hatte, das bis ins kleinste De¬
tail geschilderte Jugendleben deö armen Bauernburschen und die zarte, allmählich
aufkeimende Neigung zu einer ältern Frau, weggelassen werden, und es blieb
Nichts übrig, als die Katastrophe, die aber nur dann von Interesse sein konnte,
wenn wir über die vorausgehenden Umstände genau unterrichtet und mit den
Eigenthümlichkeiten der betheiligten Personen vollkommen vertraut waren. Es
geht wol an, nachträglich die bedingenden Ereignisse durch Referate in dem
Schlußact so anzudeuten, daß, ohne die gegenwärtige Handlung zu stören, das
zum Verständniß derselben Nöthige gegeben wird; allein es ist schlechterdings
unmöglich, wenn diese Antecedentien sich ans die innere geheime Welt der Empfin¬
dung beziehen. Eine zarte, aufkeimende Neigung, ein durch lange Gewohnheit
begründetes, durch tausend gemüthliche Verzweigungen befestigtes Verhältniß ver¬
langt eine größere Breite in der Zeit, es gehört daher in die Novelle, nicht
auf's Theater. Diese Uebelstände vorausgesetzt, hat Georges Sand das Mög¬
liche geleistet. Die Handlung kann uns zwar nicht fortreißen, aber sie erweckt
doch unsre Theilnahme, weil wir uns an den jungfräulich naiven Figuren von
der Abgcspanntheit und dem wüsten, Wesen unsrer gewöhnlichen Theatervorstel¬
lungen erholen.

Die „Clandie" dagegen ist ein vollständig ausgearbeitetes kleines bürger¬
liches oder vielmehr bäuerliches Drama, nach allen Gesetzen der Kunst bearbeitet,
wenn man auch in manchen Punkten gegen die Anordnung der Scenen, nament¬
lich in der Exposition, mit der Dichterin rechten möchte. Das Genre selbst ist
den nämlichen Bedenken unterworfen, wie das frühere Diderot-Jffland'sche. Es
ist die Frage, ob die Rührung überhaupt der Zweck des Drama'S sein kann,
ob zwischen der Tragödie, welche uns erschüttern, und dem Lustspiel, welches
uns erheitern soll, eine Mittelgattung gestattet ist; allein gegen eine vollendete


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/131>, abgerufen am 02.07.2024.