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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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das aber keine systematische Reaction gegen die Schule sein, als deren Haupt ich
Sie ansehe.....Zwar gebe ich zu, daß die Action keineswegs die Analyse der
Empfindungen und Leidenschaften ausschließt, und daß das Innere des Menschen
sich auch mitten in der hastigen Bewegung der äußern Ereignisse enthüllen kann.
Sie haben es mehrmals bewiesen. Allein die Thätigkeit der Einbildungskraft,
das Fieber des Lebens hat Sie mehrmals hingerissen, die Nuancen und die
Entwickelung der Charaktere zu opfern, während ich das Bedürfniß empfinde,
die Personen, deren Handlungen ich sehe, genau zu kennen, und das Motiv ihrer
Handlungen vollständig zu durchdringen......Zwar ist es möglich, auch in dem
engen Raum der Aufführung die Analyse deö menschlichen Herzens und die Ueber-
raschungen des wirklichen Lebens init einander zu verbinden, aber es ist sehr schwer.
Ich habe mich daher beschränkt, und in diesem Stück nichts Anderes darstellen
wollen, als das innere Leben mit seinen geheimen Kämpfen und Leiden.....
Wenn diese Form des Drama'S die allgemeine würde, so ginge allerdings das
Theater darüber unter; aber sie kann mit Nutzen die entgegengesetzte Form er¬
gänzen. Die große Schwierigkeit in unsern Tagen ist, schnell zu ancilysiren.
Unsre Väter waren nicht skeptisch und reflectirt wie wir; ihre Charaktere gehör¬
ten mehr als einem Stücke an, denn viele Glaubenssätze und folglich viele Em¬
pfindungen und bestimmte Motive waren der Discussion entzogen. Haut zu Tage
ist jedes denkende Individuum eine philosophische Welt für sich. Ein moderner
Othello müßte sich vollständiger aussprechen, um von Allen verstanden und ge¬
billigt zu werde". Und dennoch verlangt man kurze Scenen und zusammen¬
gedrängte Dialoge".-- Scheu wir zu, wie die Dichterin versucht hat, ihrer
Ausgabe nachzukommen. Ein kurzer Rückblick auf die beiden frühern Stücke:
^rar<,wii; in; l'Il-rmpi und (Il!,ruäi<z, muß uns darin zu Hilfe kommen.

Die einfache Anschauung derselben drängt uns die Ueberzeugung auf, daß
es mit dem blos Innerlichen dieser Poesie nicht so ernst gemeint ist. Empfin-
dungen und Leidenschaften ohne Ereignisse und ohne Handlungen waren über¬
haupt etwas Undenkbares; Beides ist daher auch in diesen Dramen vorhanden,
freilich einfacher, weniger verwickelt und weniger in die Breite ausgeführt, als
bei deu Romantikern. Es ist aber noch etwas Anderes nöthig: die sittliche Basis,
ohne welche die Empsindnngö- und Handlungsweise der dargestellten Personen
nicht begreiflich wäre, und die uns fertig gegeben werden muß, so daß wir daran
glauben, auch ohne sie zu analysiren. Das ist in jenen beiden Stücken mit einer
Schärfe und Bestimmtheit geschehen, die jeden Gedanken an ein allgemeines ab-
stractes MenschhcitSideal abweist, und zwar ist diese Basis zum Theil sehr äußer¬
lich gehalten, wie es auch nothwendig ist, wenn wir sie angenblicklich unmittelbar
begreisen und mitempfinden sollen. Sie liegt hier vorzugsweise in dem Costum
und im Dialekt, welches Beides so meisterhaft in die psychische Charakteristik
verwebt ist, daß wir an der Lebendigkeit dieser Personen keinen Augenblick zwei-


das aber keine systematische Reaction gegen die Schule sein, als deren Haupt ich
Sie ansehe.....Zwar gebe ich zu, daß die Action keineswegs die Analyse der
Empfindungen und Leidenschaften ausschließt, und daß das Innere des Menschen
sich auch mitten in der hastigen Bewegung der äußern Ereignisse enthüllen kann.
Sie haben es mehrmals bewiesen. Allein die Thätigkeit der Einbildungskraft,
das Fieber des Lebens hat Sie mehrmals hingerissen, die Nuancen und die
Entwickelung der Charaktere zu opfern, während ich das Bedürfniß empfinde,
die Personen, deren Handlungen ich sehe, genau zu kennen, und das Motiv ihrer
Handlungen vollständig zu durchdringen......Zwar ist es möglich, auch in dem
engen Raum der Aufführung die Analyse deö menschlichen Herzens und die Ueber-
raschungen des wirklichen Lebens init einander zu verbinden, aber es ist sehr schwer.
Ich habe mich daher beschränkt, und in diesem Stück nichts Anderes darstellen
wollen, als das innere Leben mit seinen geheimen Kämpfen und Leiden.....
Wenn diese Form des Drama'S die allgemeine würde, so ginge allerdings das
Theater darüber unter; aber sie kann mit Nutzen die entgegengesetzte Form er¬
gänzen. Die große Schwierigkeit in unsern Tagen ist, schnell zu ancilysiren.
Unsre Väter waren nicht skeptisch und reflectirt wie wir; ihre Charaktere gehör¬
ten mehr als einem Stücke an, denn viele Glaubenssätze und folglich viele Em¬
pfindungen und bestimmte Motive waren der Discussion entzogen. Haut zu Tage
ist jedes denkende Individuum eine philosophische Welt für sich. Ein moderner
Othello müßte sich vollständiger aussprechen, um von Allen verstanden und ge¬
billigt zu werde«. Und dennoch verlangt man kurze Scenen und zusammen¬
gedrängte Dialoge".— Scheu wir zu, wie die Dichterin versucht hat, ihrer
Ausgabe nachzukommen. Ein kurzer Rückblick auf die beiden frühern Stücke:
^rar<,wii; in; l'Il-rmpi und (Il!,ruäi<z, muß uns darin zu Hilfe kommen.

Die einfache Anschauung derselben drängt uns die Ueberzeugung auf, daß
es mit dem blos Innerlichen dieser Poesie nicht so ernst gemeint ist. Empfin-
dungen und Leidenschaften ohne Ereignisse und ohne Handlungen waren über¬
haupt etwas Undenkbares; Beides ist daher auch in diesen Dramen vorhanden,
freilich einfacher, weniger verwickelt und weniger in die Breite ausgeführt, als
bei deu Romantikern. Es ist aber noch etwas Anderes nöthig: die sittliche Basis,
ohne welche die Empsindnngö- und Handlungsweise der dargestellten Personen
nicht begreiflich wäre, und die uns fertig gegeben werden muß, so daß wir daran
glauben, auch ohne sie zu analysiren. Das ist in jenen beiden Stücken mit einer
Schärfe und Bestimmtheit geschehen, die jeden Gedanken an ein allgemeines ab-
stractes MenschhcitSideal abweist, und zwar ist diese Basis zum Theil sehr äußer¬
lich gehalten, wie es auch nothwendig ist, wenn wir sie angenblicklich unmittelbar
begreisen und mitempfinden sollen. Sie liegt hier vorzugsweise in dem Costum
und im Dialekt, welches Beides so meisterhaft in die psychische Charakteristik
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/130>, abgerufen am 02.07.2024.