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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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ekelt lebhast an Eugen Sue's Novelle "los cloux oaüavres" erinnert, wo gleich¬
falls das Feuer, die Pest und die Folterkammer mit einander abwechseln.

Von den Romanen, die in dem folgenden Jahre (18i2) erschienen: "die
Tochter des Geizhalses" und "Windsorschloß", ist der letzte wieder
originell und ein Fortschritt in der Reihe von Ungeheuern, welche Victor Hugo
aufgestellt hat. Quasimodo und selbst Hau vou Island sind Nichts gegen den
Helden dieses Stücks, den Jäger Hearne, der zwar in einer historischen Zeit
spielt, nämlich unter König Heinrich Viti., von dem man aber bis zum letzten
Augenblick nicht erfährt, ob er ein Räuber, ein Teufel oder ein Gespenst ist.
Er scheint ein Mittelding von allen dreien zu sein, denn zuweilen wird er ver¬
mundet und heult fürchterlich, dann aber fährt er auch durch's Schlüsselloch,
steigt plötzlich, wenn man ihn fangen will, in einer hellen Flamme in die Höhe,
reitet durch die Luft u. s. w. Dabei ist er im höchsten Grade humoristisch, aber
doch im Ganzen vorwiegend bösartig. Unser Hoffmann und ähnliche Teufels¬
banner haben uns auch Figuren gezeichnet, von denen man nie recht erfährt, ob
sie ein Archivarius oder ein Drachen oder der Geist der Poesie sind, aber das
geschieht in einer so verzückten Sprache und von so wilden Phantasien begleitet,
daß man sich der Realität dieser Erde ganz entrückt sühlt, und ohne Widerstand
Alles mit sich geschehen läßt. Hier dagegen wird Alles mit dem nüchternsten
Pragmatismus erzählt. -- Es wäre hier der Ort, über die Anwendung des
Wunderbaren in der Poesie Etwas zu sagen. Ich beschränke mich aus zwei Be¬
merkungen. Das Wunderbare, das Grauenvolle, das Entsetzliche hat allerdings
seine poetische Seite, aber diese liegt keineswegs in dem Object des Entsetzens,
sondern in dem Entsetzen selbst, und in der Seele, in der es erscheint. Das
Object nimmt die Farbe und die Gestalt des Grauens an, dem es sich offenbart,
oder dem es vielmehr entspringt. Der Dichter darf also grauenvolle Erschei¬
nungen, auch wenn er sie gegenständlich schildert, nnr aus der Stimmung her-
vorgehn lassen, die sie begreiflich macht, und er darf sie nur so weit unserm Ge¬
sicht enthüllen, als sich in ihnen die Nachtseite der menschlichen Natur, über die
sie nicht hinausgehen dürfen, versinnlicht. Shakspeare und in den meisten Fäl¬
len auch Walter Scott haben das sehr gut verstanden. Sobald der grauenvolle
Gegenstand ein Leben für sich in Anspruch nimmt, sobald er ohne Vermittelung
der Stimmung und des Gemüthöznstandes der menschlichen Personen, die uns
allein beschäftigen dürfen, eintritt, ist er eine Versündigung an der Kunst. --
Zweitens glaube ich, daß in denjenigen Dichtimgsfvrmen, die sowol in Bezug
auf ihren Gegenstand, als auf die Art ihrer Behandlung, sich der Nachahmung
des Wirklichen mehr näher", als in der Tragödie geschieht, wo die symbolische
Seite immer eine gewisse Berechtigung behält, das Wunderbare ganz und gar
auszuschließen ist. Die Hexen in Makbeth und der Geist in Hamlet haben we¬
nigstens zum Theil eine symbolische Bedeutung, und sie gehöre" in den Ton des


ekelt lebhast an Eugen Sue's Novelle „los cloux oaüavres" erinnert, wo gleich¬
falls das Feuer, die Pest und die Folterkammer mit einander abwechseln.

Von den Romanen, die in dem folgenden Jahre (18i2) erschienen: „die
Tochter des Geizhalses" und „Windsorschloß", ist der letzte wieder
originell und ein Fortschritt in der Reihe von Ungeheuern, welche Victor Hugo
aufgestellt hat. Quasimodo und selbst Hau vou Island sind Nichts gegen den
Helden dieses Stücks, den Jäger Hearne, der zwar in einer historischen Zeit
spielt, nämlich unter König Heinrich Viti., von dem man aber bis zum letzten
Augenblick nicht erfährt, ob er ein Räuber, ein Teufel oder ein Gespenst ist.
Er scheint ein Mittelding von allen dreien zu sein, denn zuweilen wird er ver¬
mundet und heult fürchterlich, dann aber fährt er auch durch's Schlüsselloch,
steigt plötzlich, wenn man ihn fangen will, in einer hellen Flamme in die Höhe,
reitet durch die Luft u. s. w. Dabei ist er im höchsten Grade humoristisch, aber
doch im Ganzen vorwiegend bösartig. Unser Hoffmann und ähnliche Teufels¬
banner haben uns auch Figuren gezeichnet, von denen man nie recht erfährt, ob
sie ein Archivarius oder ein Drachen oder der Geist der Poesie sind, aber das
geschieht in einer so verzückten Sprache und von so wilden Phantasien begleitet,
daß man sich der Realität dieser Erde ganz entrückt sühlt, und ohne Widerstand
Alles mit sich geschehen läßt. Hier dagegen wird Alles mit dem nüchternsten
Pragmatismus erzählt. — Es wäre hier der Ort, über die Anwendung des
Wunderbaren in der Poesie Etwas zu sagen. Ich beschränke mich aus zwei Be¬
merkungen. Das Wunderbare, das Grauenvolle, das Entsetzliche hat allerdings
seine poetische Seite, aber diese liegt keineswegs in dem Object des Entsetzens,
sondern in dem Entsetzen selbst, und in der Seele, in der es erscheint. Das
Object nimmt die Farbe und die Gestalt des Grauens an, dem es sich offenbart,
oder dem es vielmehr entspringt. Der Dichter darf also grauenvolle Erschei¬
nungen, auch wenn er sie gegenständlich schildert, nnr aus der Stimmung her-
vorgehn lassen, die sie begreiflich macht, und er darf sie nur so weit unserm Ge¬
sicht enthüllen, als sich in ihnen die Nachtseite der menschlichen Natur, über die
sie nicht hinausgehen dürfen, versinnlicht. Shakspeare und in den meisten Fäl¬
len auch Walter Scott haben das sehr gut verstanden. Sobald der grauenvolle
Gegenstand ein Leben für sich in Anspruch nimmt, sobald er ohne Vermittelung
der Stimmung und des Gemüthöznstandes der menschlichen Personen, die uns
allein beschäftigen dürfen, eintritt, ist er eine Versündigung an der Kunst. —
Zweitens glaube ich, daß in denjenigen Dichtimgsfvrmen, die sowol in Bezug
auf ihren Gegenstand, als auf die Art ihrer Behandlung, sich der Nachahmung
des Wirklichen mehr näher», als in der Tragödie geschieht, wo die symbolische
Seite immer eine gewisse Berechtigung behält, das Wunderbare ganz und gar
auszuschließen ist. Die Hexen in Makbeth und der Geist in Hamlet haben we¬
nigstens zum Theil eine symbolische Bedeutung, und sie gehöre» in den Ton des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/122>, abgerufen am 02.07.2024.