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Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band.

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ale Leben einer Nation ans ihrem natürlichen Kern und in dem ihr von der Ge¬
schichte gesteckten Maß sich entwickeln kann.

Wir haben diese kurzen Bemerkungen hier zusammengestellt, nicht um unsre
Leser vou der Richtigkeit derselben zu überzeuge", was durch eine bloße Uebersicht
nicht möglich wäre, sondern um sie auf die Uebereinstimmung unsers politischen
Standpunkts mit unsern sonstigen Principien aufmerksam zu machen. Wir deuten
hier nnr auf zwei Punkte hin, auf unsre ästhetische und unsre religiöse Kritik.

Die neuere Deutsche Literatur hat sich eben so, wie die Englische und Fran¬
zösische, aus einem energischen Kampf gegen den abstracten Idealismus des vorigen
Jahrhunderts entwickelt, der sich vom Schonen, Edlen und Guten ein fertiges
conventionelles Bild gemacht hatte. Das war in der Poesie eben so der Fall,
wie in der Musik und in der plastischen Kunst. Wie jede Revolution, drängte
auch diese Bewegung zunächst in das entgegengesetzte Extrem, in die einseitige
Anerkennung alles Individuelle", Grilleuhafteu und Unklaren, in die vollständige
Gleichgiltigkeit gegen Maß und Regel. Wenn die conventionelle Poesie "des
vorigen Jahrhunderts zu Gunsten einer fertigen Form des Schönen das freie
individuelle Gefühl gelähmt hatte, so untergrub die Romantik in der Heilig¬
sprechung alles Besondern und Ursprünglichen den gesunden Menschenverstand,
so wie das Gemeingefühl des Schönen. Weil man blos charakteristisch sein wollte,
wurde man ein Priester des Häßlichen, und kam zuletzt so weit, im Gegensatz zu
der frühern classischen Harmonie die Praxis des Contrastes als eine neue Con-
venienz zu lehren. -- Wir glauben in unserm doppelten Kampf gegen die Will¬
kürlichkeiten der Romantiker in der Poesie, der Musik und der plastischen Kunst, so
wie gegen den unfertigen Idealismus der einseitigen Klassicität dieselben Waffen
angewendet zu haben, als in unsrer Polemik gegen die Vvlkssouverainctät und
gegen das göttliche Recht.

Dasselbe glauben wir von unsrer religiösen Kritik behaupten zu können.
Der herrschende Nationalismus des vorigen Jahrhunderts hat in zwei Haupt¬
punkten geirrt: einmal in seiner Ansicht von dem Inhalt der christlichen Religion.
Er nahm eine beliebige Summe von Dogmen, die ihm convenirten, ließ die
übrigen fallen, und glaubte in dem, was ihm blieb, die vollständige christliche
Lehre zu haben. Das war eben sowol ein Unrecht gegen die historische Erschei¬
nung des Christenthums, das man nur dann beurtheilen darf, wenn man ans sein
Wesen eingeht, wie ein Unrecht gegen die Logik, die man immer in Dogmen
gefangen gab, wie verblaßt auch diese Dogmen sein mochten. -- Der Nationa¬
lismus täuschte sich ferner in Beziehung auf den Umfang des noch vorhandenen
Christenthums; er ignorirte das thatsächliche Verhältniß einer neben ihm beste¬
henden, sehr wohl organisirten Kirche und einer weitverbreiteten religiösen Gesin¬
nung, die sich weder durch seine Gründe, noch durch seinen Spott anfechten'ließ.
-- Fast in den nämlichen Fehler ist die romantische Reaction versallen, welche in


ale Leben einer Nation ans ihrem natürlichen Kern und in dem ihr von der Ge¬
schichte gesteckten Maß sich entwickeln kann.

Wir haben diese kurzen Bemerkungen hier zusammengestellt, nicht um unsre
Leser vou der Richtigkeit derselben zu überzeuge», was durch eine bloße Uebersicht
nicht möglich wäre, sondern um sie auf die Uebereinstimmung unsers politischen
Standpunkts mit unsern sonstigen Principien aufmerksam zu machen. Wir deuten
hier nnr auf zwei Punkte hin, auf unsre ästhetische und unsre religiöse Kritik.

Die neuere Deutsche Literatur hat sich eben so, wie die Englische und Fran¬
zösische, aus einem energischen Kampf gegen den abstracten Idealismus des vorigen
Jahrhunderts entwickelt, der sich vom Schonen, Edlen und Guten ein fertiges
conventionelles Bild gemacht hatte. Das war in der Poesie eben so der Fall,
wie in der Musik und in der plastischen Kunst. Wie jede Revolution, drängte
auch diese Bewegung zunächst in das entgegengesetzte Extrem, in die einseitige
Anerkennung alles Individuelle», Grilleuhafteu und Unklaren, in die vollständige
Gleichgiltigkeit gegen Maß und Regel. Wenn die conventionelle Poesie "des
vorigen Jahrhunderts zu Gunsten einer fertigen Form des Schönen das freie
individuelle Gefühl gelähmt hatte, so untergrub die Romantik in der Heilig¬
sprechung alles Besondern und Ursprünglichen den gesunden Menschenverstand,
so wie das Gemeingefühl des Schönen. Weil man blos charakteristisch sein wollte,
wurde man ein Priester des Häßlichen, und kam zuletzt so weit, im Gegensatz zu
der frühern classischen Harmonie die Praxis des Contrastes als eine neue Con-
venienz zu lehren. — Wir glauben in unserm doppelten Kampf gegen die Will¬
kürlichkeiten der Romantiker in der Poesie, der Musik und der plastischen Kunst, so
wie gegen den unfertigen Idealismus der einseitigen Klassicität dieselben Waffen
angewendet zu haben, als in unsrer Polemik gegen die Vvlkssouverainctät und
gegen das göttliche Recht.

Dasselbe glauben wir von unsrer religiösen Kritik behaupten zu können.
Der herrschende Nationalismus des vorigen Jahrhunderts hat in zwei Haupt¬
punkten geirrt: einmal in seiner Ansicht von dem Inhalt der christlichen Religion.
Er nahm eine beliebige Summe von Dogmen, die ihm convenirten, ließ die
übrigen fallen, und glaubte in dem, was ihm blieb, die vollständige christliche
Lehre zu haben. Das war eben sowol ein Unrecht gegen die historische Erschei¬
nung des Christenthums, das man nur dann beurtheilen darf, wenn man ans sein
Wesen eingeht, wie ein Unrecht gegen die Logik, die man immer in Dogmen
gefangen gab, wie verblaßt auch diese Dogmen sein mochten. — Der Nationa¬
lismus täuschte sich ferner in Beziehung auf den Umfang des noch vorhandenen
Christenthums; er ignorirte das thatsächliche Verhältniß einer neben ihm beste¬
henden, sehr wohl organisirten Kirche und einer weitverbreiteten religiösen Gesin¬
nung, die sich weder durch seine Gründe, noch durch seinen Spott anfechten'ließ.
— Fast in den nämlichen Fehler ist die romantische Reaction versallen, welche in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 10, 1851, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341570_280086/12>, abgerufen am 30.06.2024.